Das Verschwinden des Josef Mengele (2025)

WIE DAS BÖSE DIE WELT SIEHT

8/10


© 2025 Panda Lichtspiele


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2025

REGIE: KIRILL SREBRENNIKOW

DREHBUCH: KIRILL SEREBRENNIKOW, NACH DEM ROMAN VON OLIVIER GUEZ

KAMERA: VLADISLAV OPELYANTS

CAST: AUGUST DIEHL, MAX BRETSCHNEIDER, DANA HERFURTH, FRIEDERIKE BECHT, MIRCO KREIBICH, DAVID RULAND, ANNAMÁRIA LÁNG, TILO WERNER, BURGHART KLAUSSNER U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN



Muss man, will man, kann man denn überhaupt einen Film über einen bösen Menschen ansehen? An dieser Stelle wäre es angebracht, über die Begrifflichkeit des Schlechten nachzudenken. Das Böse, so möchte man meinen, existiert, ohne dass es in dem Moment, indem es sich offenbart, weiß, dass es das tut. Reue nennt sich der Effekt, wenn sich das Böse selbst erkennt. Umso erschreckender, wenn es das nicht tut – wenn diese Finsternis auf ewig glaubt, sie wäre strahlend hell wie die Sonne. Das ist dann das inhärente Destruktive einer globalen Gesellschaft, das unter unsagbarer Anstrengung Tag für Tag klein gehalten werden muss, wenn es schon nicht zur Gänze getilgt werden kann. Ist das nicht dieser ewige Kampf des Guten gegen das Böse, dieses oft zitierte Yin und Yang? Ist diese Balance nicht essenziell für die Existenz an sich? Dieser Überlegung widmet sich auch der Japaner Hamaguchi Ryusuke in seinem Gleichnis Evil Does Not Exist.

Der Trotz des Falschen

Die Banalität des Bösen hatte schon Jonathan Glazer in seinem ernüchternd schrecklichen „Familienfilm“ The Zone of Interest dokumentiert – und dabei versucht, die Welt so darzustellen, wie sie aus Sicht des Bösen wohl aussehen möge. Der Holocaust wird dabei zur Nebensache, die so weltbewegend erscheint wie die tägliche Müllabfuhr. Niemand aus dieser Familie Höß hat jemals begriffen, dass sie Falsches tat – bis auf die Schwiegermutter, deren Erkenntnis ob der Gräuel in einer nokturnen Schlüsselszene diese zur panischen Abreise bewegt. In Schindlers Liste ist die Welt des Amon Göth eine, in welcher Macht und Mord einander bedingen müssen, während Psychopathen wie dieser darin ihren Nährboden finden. Und jetzt auch er: Josef Mengele, eine Schreckensgestalt und Verbrecher gegen die Menschlichkeit und die Menschheit an sich, der Todesengel von Auschwitz, dessen Taten schwer zu dokumentieren sind, so vielfältig verheerend lassen sie sich darlegen. Während The Zone of Interest das unmöglich Auszudenkende hinter den Backsteinmauern als dunklen Rauch aufsteigen lässt und den Nazi-Alltag semidokumentarisch betrachtet, geht Kyrill Serebrennikow einen Schritt weiter und gibt diesem Mengele die Möglichkeit, seine Taten und Motive zu reflektieren.

Was gast du nur getan?

Eines vorweg: Es wird ihm nicht gelingen. Es wird auch nicht seinem Sohn Rolf gelingen, der seinen Vater Ende der Siebzigerjahre, zwei Jahre vor seinem Tod beim Schwimmen an der südamerikanischen Atlantikküste, dazu bewegen möchte, seine Taten als falsch einzugestehen. Nichts davon passiert, denn das Böse sieht sich im Recht, es sieht sich als das einzig Logische. Gerechtigkeit wird aus Sicht Mengeles zur scheinbar grundlosen Jagd auf einen im Selbstmitleid ertrinkenden Choleriker, den Klaus Kinski hätte darstellen können. August Diehl ist aber nicht weniger gut dafür geeignet. Der Herausforderung für einen Schauspieler besteht darin, völlig vorbehaltlos in die Rolle eines monströsen Menschen zu schlüpfen, der bis zum Ende glauben wird, dass das Unrecht auf der anderen Seite liegt. Sie anzunehmen, wird seine Spuren hinterlassen, denn egal kann einem wie Diehl so ein Mindset sicher nicht sein. Und dennoch hängt sich der Deutsche hinein in dieses Psychogramm, und meistert dabei mehrere Jahrzehnte der Paranoia, der Verzweiflung, der trotzigen Beharrlichkeit einer kranken Weltsicht, der puren Essenz radikalen, nationalsozialistischen Gedankenguts.

Wenn der Mörder lächelt

Das Verschwinden des Josef Mengele, in expressionistischem Schwarzweiß gedreht und in den verstörenden und an die Nieren gehenden Szenen sogar in Farbe, um die niemals verjährende Aktualität von Verbrechen viel eher in die Gegenwart zu bringen, ist schauspielerischer Brutalismus, das Lamento eines in die Enge getriebenen Unbelehrbaren; eines rechthaberischen, arroganten, zutiefst abstoßenden Patriarchen, dem nicht mal beim Töten Unschuldiger das Grinsen vergeht. Jetzt aber, in den Jahrzehnten nach dem Krieg, ist dieses quälende Versteckspiel eines Flüchtigen nur gut und recht, wenn dieser in seinem Leid genauso feststeckt wie in seiner Weltsicht. Bei jedem Zeter und Mordio ob der Ungerechtigkeit, die Mengele seiner Meinung nach widerfährt, stellt sich jedoch längst nicht diese Genugtuung ein, die man erfährt, wenn ein Antagonist seine Strafe erhält. Ganz klar liegt es an dieser Uneinsicht eines Widerlings.

Warum also so einen Film ansehen? Ist so ein Mensch die Mühe wert, Millionen an Gelder dafür zu verwenden, ihn ins Rampen- und Leinwandlicht zu rücken? Ja, das ist sie. Weil man benennen sollte, wovor man sich wappnen muss. Wie bei The Zone of Interest ist es der Versuch, sich auf die andere Seite zu stellen, nicht direkt in die Dunkelheit, sondern daneben, um zu sehen, was das Böse sieht. Um ein bisschen mehr zu verstehen, wie die Welt tickt. Und es ist die Faszination für Monster wie dieses, die klarmachen, wo ich, wo wir, niemals hinwollen. Dass es das gibt, ist erschreckend und belehrend, zugleich aber auch ernüchternd hoffnungslos, weil es so scheint, als hätten Geister wie Mengele in dieser Welt immer ihren Platz.

Das Verschwinden des Josef Mengele (2025)

Stiller (2025)

WIE MAN JEMAND NICHT IST

4/10


© 2025 Constantin Film


LAND / JAHR: SCHWEIZ, DEUTSCHLAND 2025

REGIE: STEFAN HAUPT

DREHBUCH: STEFAN HAUPT, ALEXANDER BURESCH, NACH DEM ROMAN VON MAX FRISCH

KAMERA: MICHAEL HAMMON

CAST: ALBRECHT SCHUCH, PAULA BEER, MARIE LEUENBERGER, SVEN SCHELKER, MAX SIMONISCHEK, STEFAN KURT, SABATA SAFET, MARTIN VISCHER, GABRIEL RAAB, MARIUS AHRENDT, INGO OSPELT U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN



„Ich bin nicht Stiller!“, versucht sich mehr schlecht als recht der diesem Stiller so frappant ähnlich sehende mittelalte Mann aus der Affäre zu ziehen. Das Problem dabei: Man glaubt ihm nicht. Wie, so Albrecht Schuch in zwar nicht verzweifeltem Tonfall, aber schulbühnenartiger Inbrunst, könne man denn beweisen, dass man jemand nicht ist? Heutzutage alles kein Problem, liegen die notwendigen Papiere griffbereit. Im Zeitalter des Internets und einer sozialen Lebensweise, wo dich zumindest immer eine Handvoll Leute kennt, sind Identitäten meistens bewiesen. Auch der hauseigene Zahnarzt kann da weiterhelfen, liegt man mal irgendwann als verkohlter Überrest unter den abgebrannten Trümmern einer Wohnung. Bei diesem hier aber, bei Max Frischs völlig unidentifizierbarer Figur, scheinen die Parameter eines gesellschaftlichen Wesens, wie der Mensch nun mal eines ist, nicht zu ziehen.

Identifikation ist nicht alles

Jene, die Stiller vor zehn Jahren das letzte Mal gesehen haben, denen könnte der Lauf der Zeit durchaus auch einen Streich spielen, das Erinnerungsvermögen ein bisschen hinterherhinken. Wie sehr kann sich eine Person in so vielen Jahren schon verändern, es sei denn, er hat sich unters Messer legen lassen? Der Unbekannte und doch Bekannte hat das scheinbar nicht – in den 50er Jahren, in denen Stiller spielt, sind Methoden wie diese zur Unkenntlichmachung des eigenen Ichs wohl noch nicht so in Mode. Also macht der gute Mann wohl keinen auf Udo Proksch, sondern lässt sich während einer Zugfahrt durch die Schweiz erwischen. Man fragt sich, weswegen? Womöglich war Stiller in einem politischen Attentat verwickelt, das nur nebenbei angerissen wird, und da ihn ein mitfahrender Gast als jenen Mann, der er angeblich nicht ist, identifiziert hat, wird dieser in polizeiliches Gewahrsam genommen. Zur Identifizierung muss Tänzerin Julika aus Paris antanzen, sie muss es ja schließlich wissen, war sie doch mit Anatol Stiller verheiratet. Natürlich weigert sich dieser, seine Ehefrau zu erkennen, und während das Gänseblümchen gerupft wird – ist er es, ist er es nicht – erfahren wir, wie es denn überhaupt dazu kommen hatte können, dass man James Larkin White  verhaftet hat.

Ein Buch sperrt sich der Verfilmung

Max Frisch ist stets eine gute Bank für vielschichtige Dramen, moralische Metaphern und gesellschaftskritische Gedankenspiele. Die Sache mit der Notlage eines jeden, unentwegt Rollen spielen zu müssen, die man von anderen zugeteilt bekommt, ohne sich selbst oder jemand anderes sein zu können, kumuliert in Frischs Roman Stiller zu einer Identitätskrise bar excellence, zu einem sachlich-klaren, reduktionistischem Psychospiel über den Versuch eines Neuanfangs, der letztlich scheitert, weil die Fesseln der Vergangenheit nicht abgeschüttelt werden können. Als prachtvoller Plot in literarischer Form mag Stiller den Status als moderner Klassiker verdienen, als filmische Interpretation wird wohl nichts davon in die Filmgeschichte eingehen. Der Schweizer Stefan Haupt, der unter anderem dem Reformator Zwingli eine Biografie geschenkt hat, verlässt sich zu sehr auf die Wirkung eines Titels, der jeder auch nur halbwegs versierten Leseratte geläufig sein muss. Dahinter erkämpft sich ein relativ starrer Albrecht Schuch sein Recht auf freie Identitätswahl, während eine noch eindimensionalere Paula Beer, die nicht nur in Filmen von Christian Petzold mitspielt, ihrem Charakter keinerlei Profil verleiht. Stiller hin, Stiller her – im Schatten einer möglichen Verleugnung ist auch die Hintergrundgeschichte selbst, Stillers künstlerisches Schaffen und seine Beziehungen, mitunter auch eine Liaison mit Marie Leuenberger (Mother’s Baby), die wenig empfundene fiktive Biografie eines verschlossenen Mannes, den man nicht unbedingt kennen muss und dessen Versäumnis, ihn kennenzulernen, auch nicht bedauert.

Der Mann mit den zwei Gesichtern

Dem Psychodrama fehlt es an Psychologie, dem Justizdrama an packenden Indizien, die Literaturverfilmung hingegen leidet dabei an zu viel Routine. Einzig wirklich interessant, irgendwie verblüffend und auch richtig geglückt ist die subversive Idee, Stillers Figur zu Beginn des Rückblicks mit zwei Schauspielern zu besetzen. Will heißen: Nicht nur Schuch spielt Stiller, sondern auch der ihm ähnlich sehende Sven Schelker, und so weiß man nie genau, ob man sich nur einbildet, Stiller mit anderem Gesicht zu sehen oder auch nicht. Irgendwann, in einem unmerklichen Moment, wo man längst auf anderes konzentriert ist, übernimmt Schuch dann vollends. Dieses Spiel mit der Wahrnehmung ist Haupts bester Moment, während die übrige Umsetzung in seinem Pragmatismus reichlich schal wirkt.

Stiller (2025)

Der Fremde (2025)

DIE GLEICHGÜLTIGKEIT DER WELT

7/10


© 2025 Foz Gaumont France2Cinema / Carole Bethue

ORIGINALTITEL: L’ÉTRANGER

LAND / JAHR: FRANKREICH 2025

REGIE: FRANÇOIS OZON

DREHBUCH: FRANÇOIS OZON, NACH DEM ROMAN VON ALBERT CAMUS

KAMERA: MANUEL DACOSSE

CAST: BENJAMIN VOISIN, REBECCA MARDER, PIERRE LOTTIN, DENIS LAVANT, SWANN ARLAUD, MIREILLE PERRIER, JEAN-CHARLES CLICHET U. A.

LÄNGE: 2 STD


The Cure haben darüber ein Lied geschrieben: Killing an Arab. Dieser äußerst provokante Titel bezieht sich auf den literarischen Klassiker von Albert Camus, der nun von François Ozon, dem man nicht wirklich nachsagen kann, immer nur dieselbe Art von Filmen zu drehen, neu aufgelegt wurde. Zuletzt war Luchino Visconti dran, mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle, doch das ist schon einige Jährchen her, genauer gesagt lief der Film Ende der Sechzigerjahre in den Kinos. Diese Sechzigerjahre haben es Ozon allerdings angetan: Sein Film Der Fremde wirkt, als würde er sich hüten, als zeitgemäße Neuinterpretation verstanden werden zu wollen. Alles darin macht große Schritte zurück in der Zeit und tut mit ziemlich viel Erfolg gar so, als hätten wir es mit der Wiederaufführung von etwas längst Vergangenem und neu Entdecktem zu tun. Nicht unwesentlich ist dabei die Umsetzung in unexperimentellem, akkuratem Schwarzweiß – die einzige mögliche Methode, eine Geschichte wie die von Albert Camus darzustellen. Denn jede Farbe, jeder Effekt, jedes visuelle Geräusch würde diesem existenzialistischen Sozialhorror zuwiderlaufen. Doch was heißt Existenzialismus – Albert Camus treibt es in seiner Ich-Erzählung, gegliedert in zwei Teile, so dermaßen auf die Spitze, das nichts mehr bleibt, außer eben dem Nichts, einer nihilistischen Weltsicht, die sich, frei von jeglicher Emotion, mit der erbarmungslosen Gleichgültigkeit einer Welt bestens versteht.

Ein unerträglicher Charakter

Im Zentrum dieser eiskalten Gesamtsituation aus Zynismus und Empfindungsarmut steht die gespenstische Figur des jungen Meursault, den man schon in den ersten Minuten regelrecht verabscheut. Nichts im Gesicht von Schauspieler Benjamin Voisin (u. a. Die Tanzenden) regt sich, nicht mal dann, als er vom Tod seiner Mutter erfährt. Trauer, Schmerz, das Gefühl von Verlust? Fehlanzeige. Doch Meursault tut, was er tun muss, er imitiert die Kultur des christlichen Abendlandes in einem Land, das ihm nicht gehört, in dem er als Fremder im kolonialen Algerien seine Brötchen verdient, und verdient er sie mal nicht, beginnt er Affären mit Frauen, die sich nicht daran stoßen, dass Meursault nichts empfindet, zu nichts eine Meinung hat, weil nichts in der Welt als sinnvoll gilt.

Das geht sogar so weit, dass unser Protagonist einen Mord begeht. Einmal vor Gericht, offenbart sich schließlich die ganze Schrecklichkeit einer belanglosen Existenz in einer langweiligen Welt, die Fatalität der Natur der Dinge, die in stoischer Regungslosigkeit all die Anstrengungen der menschlichen Spezies, um dort hin zu gelangen, wo sie sich aktuell befindet, gleichgültig reflektiert.

Existenz hat keine Meinung

Francois Ozons grimmiger Edel-Nihilismus seziert einen unerträglichen Charakter in ästhetischen Bildern – und findet: nichts. Die Gestalt des Meursault ist wie die Vorwegnahme einer künstlichen Intelligenz, eines Androiden, der nichts empfinden kann, nicht weil er nicht will, sondern weil die Welt nichts dafür übrig hat. Voisin ergibt sich seinem provokante Spiel, immer mehr wundert man sich, dass die soziale Isolation nicht als Konsequenz für dieses ignorante Leben eine gerechte Strafe wäre, doch isoliert ist er nicht, genauso wenig wie Patrick Bateman in Bret Easton Ellis‘ American Psycho, eine ähnlich gelangweilte, abgestumpfte, übersättigte Person, die den Reiz der eigenen Lebendigkeit nur anhand von Bluttaten empfindet. Camus‘ Der Fremde mag Inspiration gewesen sein für diesen Killer-Charakter, doch selbst ist er keiner. Am Ende des Films wird klar, das all die Sinnlosigkeit der Existenz niemals selbstgewählte Überzeugung war, sondern das Resultat einer epochalen Enttäuschung, die daraus resultiert, auf keine der Fragen an die Welt jemals eine Antwort bekommen zu haben.

Resignativ, aber immer noch verzweifelt genug: So gelingt François Ozon, ohne uns selbst an dieser Figur verzweifeln zu lassen, eine messerscharfe, fast schon klinische Charakterstudie, oder besser gesagt, ein Psychogramm, abgestumpft und verdrossen, dass sich mit dem Dialog zwischen einem zum Tode Verurteilten und einem Geistlichen zu einem Crescendo aufbäumt, dass die Essenz des Existenzialismus als gewaltige emotionale Krise darstellt. Da haben wir es wieder, das Gefühl. Im Grunde war es immer da.

Der Fremde (2025)

Der Salzpfad (2024)

MY HOME IS WHERE MY HEART IS

7/10


© 2025 Panda Lichtspiele Filmverleih

ORIGINALTITEL: THE SALT PATH

LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2024

REGIE: MARIANNE ELLIOTT

DREHBUCH: REBECCA LENKIEWICZ

KAMERA: HÉLÈNE LOUVART

CAST: GILLIAN ANDERSON, JASON ISAACS, JAMES LANCE, HERMIONE NORRIS, REBECCA INESON, MARIANNE ELLIOTT, MEGAN PLACITO U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Der reinste Horror muss das sein, plötzlich nichts mehr zu haben. Zu scheitern, wo es nur geht, und das mit den eigenen Händen und unter Schweiss, Blut und Tränen aufgebaute Eigenheim verpfändet zu sehen. Alles ist hin, alles verloren. Robert Redford, der in All is Lost mit seiner Weltumseglung dem Herrgott näher kommt als ihm lieb ist, scheint am Ende in die Ursuppe zurückkehren zu müssen – dorthin, wo wir alle im Laufe der Evolution hergekommen sind. Die Natur mag gnadenlos sein, das System uns alles verwehren, der dumme Zufall Chancen verpuffen lassen, die in schmalen Zeitfenstern zur Verfügung stehen und die man im entscheidenden Moment nicht greifen kann. Scheitern mag manchmal gleichkommen mit dem Verlust des Lebens. Doch schließlich atmet man noch, man steht aufrecht und hat den Horizont vor sich. So wie Raynor und Moth Winn. Dabei ist der Familienname Zynismus pur in diesem Moment.

The winner takes it all, the loser’s standing small

So viel Würde bleibt noch, damit die beiden das Bisschen, was sie noch haben, in einen Rucksack packen und losziehen, immer die Küste entlang, dem sogenannten Salzpfad folgend – einem rund tausend Kilometer langen Fernweg durch ein malerisches Südwestengland, am Geburtsort von King Arthur vorbei, über Klippen und über vom Wind geformte Ebenen bis hin nach Land’s End, dem äußersten südwestlichsten Punkt der britischen Insel. Und schließlich stellt sich jene Weisheit heraus, die wir ohnehin schon kennen:  Nach vorne schauen und losgehen ist die beste Methode, nicht nur um Tragödien hinter sich zu lassen, sondern um eine neue Sicht auf die Dinge zu bekommen, die sich schon weit Ewigkeiten nur aus einem Betrachtungswinkel präsentieren. Diese Perspektive muss erarbeitet werden, und das passiert beim Gehen. Auch wenn Moth Winn überdies noch mit einer unheilbaren Nervenkrankheit klarkommen muss, die ihm völlige körperliche Dysfunktionalität prophezeit. Dieser Mann aber, Raynors Fels in der Brandung und Lebensmensch, hält nichts vom Stillstand, auch wenn das eine Bein nicht mehr so will und das Schlucken manchmal schwerfällt. Im individuellen Tempo also wandern sie durch eine Welt, die gar nicht will, dass sie so aussieht, als wäre sie in einem Reiseführer zu finden. Wir wissen nie genau, wo sich die beiden aufhalten, schließlich ist es nicht relevant. Die Natur, die ihnen begegnet, ist universell, ist gnadenlos und barmherzig gleichzeitig. Das Meer als steter Horizont in eine Weite, als würde man in die Zukunft blicken, mag ein Lehrmeister sein, während die Gehenden auf sich selbst zurückgeworfen werden. Letztlich muss die Erkenntnis, worauf es wirklich ankommt, die vom Schicksal gebeutelten flexibel genug halten, um die Parameter neu zu setzen.

Es ist bewegend und inspirierend zugleich, Gillian Anderson und Jason Isaacs, die beide im Genre des Phantastischen berühmt geworden sind, dabei zuzusehen, wie sie sich verlieren, erden und wiederfinden. Der Salzpfad, inszeniert von Marianne Elliott, mag dabei niemals die Ambition besitzen, zumindest filmisch von vielbewanderten Pfaden abzuweichen. Als klassisches, fast schon konservatives Walk-Movie, ähnlich den Wanderfilmen, die Richtung Santiago de Compostela führen, bietet die wenig innovative Form des Erzählens aber kleine schauspielerische Sternstunden und zeichnet neben Gras, Fels, Wind und Regen eine authentische Gefühlslandschaft, die als Metaebene noch fühl- und erfahrbarer wird als das Physische. Der Salzpfad entwickelt sich zu einem wohltuenden Erlebnis speziell für Paare, die gemeinsam schon eine ganz gute Strecke Koexistenz hinter sich gebracht haben. Was man aus dem Kinosaal mitnehmen kann, sind neben Erkenntnissen, die man vergessen hat, und Emotionen, die man wieder fühlen sollte, vor allem die Tatsache, dass es für nichts zu spät ist. Ein schöner Gedanke, vielleicht zu naiv?

Familie Winn kämpft gegenwärtig wohl kaum mehr mit Existenzproblemen, es ist kaum zu glauben, wie sehr das Leben neu gewürfelt werden kann. Laut Raynor Winn ist das Ganze eine wahre Geschichte. Zumindest den Weg haben beide zurückgelegt. Griffig wird der Stoff aber erst durch das Warum. Wie wahr das ist, mag Gegenstand für Kritik gewesen sein – und beeinflusst nicht unwesentlich den Glauben daran, das Leben auf Reset drücken zu können.

Der Salzpfad (2024)

Die Vorkosterinnen (2025)

RUSSISCH ROULETTE AM MITTAGSTISCH

6/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


ORIGINALTITEL: LE ASSAGGIATRICI

LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN, SCHWEIZ 2025

REGIE: SILVIO SOLDINI

DREHBUCH: DORIANA LEONDEFF, SILVIO SOLDINI, CRISTINA COMENCINI, GIULIA CALENDA, ILARIA MACCHIA, LUCIO RICCA, NACH DEM ROMAN VON ROSELLA POSTORINO

CAST: ELISA SCHLOTT, ALMA HASUN, MAX RIEMELT, EMMA FALCK, BORIS ALJINOVIC, OLGA VON LUCKWALD, THEA RASCHE, BERIT VANDER, KRIEMHILD HAMANN, ESTHER GEMSCH, NICOLO PASETTI U. A.

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Er ist wieder da. Und sicher nicht das letzte Mal. Immer und immer wieder wird das Musterbeispiel, der Prototyp des menschenverachtenden Diktators der Neuzeit die Medien infiltrieren. Er wird zitiert, er wird verfilmt, und alle, die ihn jemals auch nur auf periphere Weise umgeben haben, werden noch zu Wort kommen. Und wenn es sich dabei auch nur um einen Mythos handelt. Um ein Gerücht wie dieses zum Beispiel, das von einer Gruppe Frauen handelt, die von Adolf Hitlers auserwählter Militär-Elite zwangsrekrutiert wurde, um Speisen vorzukosten, die dem Führer wohl geschmeckt haben.

Es gab da eine Dame, Margot Woelk hieß sie, die kurz vor ihrem Ableben 2012 mit Erinnerungen an die Öffentlichkeit ging, in denen sie als Vorkosterin für Adolf Hitler gedient haben soll. Mit weiteren fünfzehn Frauen soll sie in der Wolfsschanze im Jahre 1942 diverse Speisen auf Toxine geprüft haben, natürlich den eigenen Tod, falls es doch mal zu einem Giftanschlag hätte kommen sollen, inbegriffen. Diese erstaunlichen Fakten wurden 2014 von einem Journalisten hinterfragt, somit stehen in dieser Sache Aussage gegen Aussage – bis Rosella Postorino einen Roman darüber schrieb. Dieser hat mit historischen Tatsachen nun überhaupt nichts mehr gemein, bleibt aber als verlockende Hypothese im geschichtsfreien Raum stehen, als fiktiv-verspielte Ergänzung eines zu finsteren popkulturellen Legende gewordenen Schwerverbrechers, den seine Liebe zu Schäferhunden und vegetarischem Essen manchmal viel zu harmlos erscheinen lassen – Oliver Masucci (Er ist wieder da) hat’s bewiesen, wie leicht das geht, und wie leicht man das Böse verdrängen kann, wenn sich die Ikonographie einer Person verselbstständigt. Der Roman PostorinosDie Vorkosterinnen – fand seinen Weg ins Kino, hat dieser doch alle Voraussetzungen, um genug Melodrama auf die Leinwand zu werfen, das vor dem Hintergrund farbintensiver Hakenkreuzfahnen und umringt von einer Vielzahl gestandener deutscher Wehrmachtsmänner mit schickem, geöltem Undercut einen zaghaft feministischen deutschen Mittagstisch deckt, der als Basis dient für ein Crossover unterschiedlicher Schicksale strohverwitweter und verwitweter Frauen, die mit ihrer Einsamkeit auf unterschiedliche Weise klarkommen müssen.

Liebe geht durch den Magen

Regie führte in dieser mit Damenmoden der Vierziger ausgestatteten Historien-Fiktion Silvio Soldini, der anno 2000 mit Brot und Tulpen einen wie Bruno Ganz ganz groß in Szene setzte. Ein Vierteljahrhundert später ist es Elisa Schlott, die viel dazu beiträgt, dass Die Vorkosterinnen nicht als verdünnte Ansammlung sämtlicher Tagebucheinträge so manches Schicksal als stereotypes Klischeebild verbucht. Schlott gibt ihrer Figur der fiktiven Rosa Sauer ordentlich Profil – niemals zu dick aufgetragen, selten zu wenig Emotion. An ihr bleibt man dran, und mit ihr ziehen alle anderen mit, allen voran Alma Hasun, die natürlich ein Geheimnis mit sich herumträgt, welches das Bedeutungsspektrum des Films später noch erweitern soll.

Das Ensemble weiß, was es zu tun hat, zumindest bei den Damen. Die Herrschaften unter des Führers Fuchtel bleiben austauschbar, vor allem Max Riemelt als bärbeißiger, stiernackiger Muskelprotz weckt warum auch immer das sexuelle Interesse unserer Hauptdarstellerin, wobei man natürlich ahnt, dass in der Not der Teufel Fliegen frisst. Somit gibt es dort eine Liebelei, und da wieder eine kleine Intrige unter den Frauen, im Ganzen aber ist wohl weniger das Konzept des Vorkostens hier Thema als gewisse Sorgen und Nöte, die alle zwar angerissen, aber nie entsprechende Wichtigkeit erlangen. Das macht den Film dann doch über weite Strecken recht bruchstückhaft und gedehnt, um nicht zu sagen langatmig, denn all das hat man schon unzählige Male glaubwürdiger, intensiver und authentischer gesehen. Am Ende nimmt das Drama wieder Fahrt auf, das Essen wird abserviert, für Magenverstimmungen gibt’s Alka Seltzer.

Die Vorkosterinnen (2025)

Der Meister und Margarita (2024)

GESTATTEN, MEPHISTOPHELES!
ODER: IN MOSKAU TUT SICH DIE HÖLLE AUF


EIN GASTKOMMENTAR VON MARLON SCHUHFLECK


© 2024 capelight pictures

LAND / JAHR: RUSSLAND 2024

REGIE: MICHAEL LOCKSHIN

DREHBUCH: MICHAEL LOCKSHIN, ROMAN KANTOR, NACH DEM ROMAN VON MICHAIL BULGAKOW

CAST: AUGUST DIEHL, JEWGENI ZYGANOW, JULIJA SNIGIR, CLAES BANG, JURI KOLOKOLNIKOW, ALEXEI ROSIN, POLINA AUG, JURI BORISSOW U. A.

LÄNGE: 2 STD 37 MIN


Liebe auf den ersten Blick ist eine Metapher für eine Geschichte. Zugegeben, eine zauberhafte. Aber wehe, man findet sich in dieser Geschichte wieder, in dieser phänomenal empfundenen Liebe, dann holt sie einen zwangsläufig ein, die umgebende Welt! Und fordert paradoxerweise, diese Realität sprengende Erfahrung in den allzu alltäglichen Alltag einzuordnen. Es ist nun mal ein narrativ anthroplogisches Gesetz, dass keine Geschichte, kein Leben für sich allein lebt, sondern sich zwangsläufig mit anderen verflechtet. Da mag man sich wie Der Meister und Margarita noch so sehr in die Zweisamkeit eines abgeschiedenen Kellers flüchten. Romantik trifft auf ethische, ökonomische, sozio-kulturelle Hürden und was das Leben sonst noch so alles bereithalten mag. Und dann wird aus Liebe auf den ersten Blick schnell eine ganz andere Geschichte. Unter Umständen eine äußerste tückische. Aus dieser Not gilt es, eine Tugend zu machen. Und sei es die Tugend der poetischen Gerechtigkeit, die den narrativen Fluchtpunkt von Der Meister und Margarita bildet. Einer fulminanten Geschichte, in der der Teufel ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hat.

Die Handlung von Der Meister und Margarita ist schnell erzählt. Und doch auch nicht. Zum einen ist da der Meister: ein erfolgloser Schriftsteller, der mit restriktiven UDSSR-Maßnahmen zu kämpfen hat. Und da ist Margarita, die unglücklich verheiratet ist, des Lebens müde. Und dann? Tja, man trifft sich, man verliebt sich. Und alles ist anders, alles ist gleich. Man ist perspektivenlos vereint; wunschlos (un)glücklich, zumindest zu zweit. Aber so wuchtig wie das sehnsüchtig herbei ersehnte Meer, so brandet auch die Emotion am harten Felsen der Realität auf. Was liegt also näher, als sich in die schützende Fiktion zu flüchten? Und sei es eine brennende. Man schlage das Buch auf und begebe sich hinab in die wuchernden Windungen sich kreuzender Geschichten, in denen sich von Pontius zu Pilatus, von Behemoth (Fauch!) bis zum Teufel eine Entourage wunderbar illustrer Persönlichkeiten ein Stelldichein geben. In Der Meister und Margarita betreten wir eine Welt der Phantastik, in der zwar andere Gesetze herrschen, die als Spiegelung jedoch stets ein Licht auf die wirkliche Welt wirft. Ob dieses Licht entlarvender, verklärender oder blendender Natur ist, obliegt der Perspektive des Betrachters.

In seinem erzählerischen Mahlstrom fühlt sich der Film wie ein karnevaleskes Theater an, eine narrative Ballnacht, in dem die schillernde Figuren – entliehen aus einem Jahrtausende alten Fundus und/oder der Wirklichkeit – ihre Kreise ziehen. Figuren, die sich stets wandeln und verschleiern, sich neu erfinden, erfunden werden. Historische Kulissen treffen auf wahrhaften Wahnsinn; Kostümierung und Maskerade auf nackte Tatsachen. Vorsicht, es gilt, die Übersicht zu bewahren: denn der Teufel steckt im Detail. But who cares? Es ist doch nur Fiktion, nicht wahr?, und deshalb umso wahrer. Es wird imaginiert und fabuliert, es wird geschrieben, uMgeschrieben, geschrieben, uNgeschrieben … bis sich die Fiktion in der Wirklichkeit manifestiert, oder umgekehrt. Als ob das einen Unterschied macht. Letztlich bleibt es eine Frage der Geschichte(n). Und Geschichte wird in Der Meister und Margarita erzählt. Eine MEISTERhafte Geschichte des Geschichtenerzählens – in Bildern, in Musik, in Literatur. Wie diese Geschichte ausgeht, ob gut oder schlecht, möge man selbst entscheiden. Unterhaltsam ist sie allemal. Und eine Liebesgeschichte sowieso.

Marlon Schuhfleck, alles.text@gmail.com

Der Meister und Margarita (2024)

Mickey 17 (2025)

DER RECYCELTE MENSCH

7/10


© 2025 Warner Bros. Entertainment


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE: BONG JOON-HO

DREHBUCH: BONG JOON-HO, NACH DEM ROMAN VON EDWARD ASHTON

CAST: ROBERT PATTINSON, NAOMI ACKIE, MARK RUFFALO, TONI COLLETTE, STEVEN YEUN, ANAMARIA VARTOLOMEI, HOLLIDAY GRAINGER, CAMERON BRITTON, STEVE PARK, IAN HANMORE U. A. 

LÄNGE: 2 STD 17 MIN


Bong Joon-Ho muss Vegetarier sein. Etwas anderes hätte man nach seinem Schweinehund-Märchen Okja schließlich ohnehin nicht annehmen können. Jetzt, mit Mickey 17, zementiert er ein weiteres Mal die Conclusio in sein Meinungsportfolio, dass niemand verwurstet gehört – weder Mensch noch Tier. Die Würde bleibt auch bei Tieren unangetastet, ob sie nun genau solche kognitiven Fähigkeiten besitzen wie unsereins oder nicht. Um ehrlich zu sein, ist der Mensch im Entschlüsseln tierischer Sprache keinen Schritt weitergekommen, lediglich Mutmaßungen führen dazu, dass das Vokabular von Hund, Wal oder Affe deutlich differenzierter sein könnte als angenommen. Ein ähnlicher Verdacht könnte auch angesichts der autochthonen Lebewesen auf fernen Planeten aufkommen – so gesehen zum Beispiel auf dem treffend benannten Himmelskörper namens Niflheim, angelehnt an die in den nordischen Mythen existierende Welt des Nebels, des Eises und der Finsternis. Um abzuklären, ob dieser Ort etwaige Gefahren für den Menschen birgt, wird einer wie Mickey Barnes in die winterliche Frischluft gestoßen. Er ist schließlich entbehrlich, all die anderen nicht. Warum? Der Kerl ist ein Expendable – der einzige Expendable auf einem Kolonialkreuzer, auf dem eine dorfgroße Gemeinde unter der Führung des an Elon Musk (und nicht an Donald Trump) erinnernden Möchtegern-Diktators Kenneth Mitchell und dessen saucen-affiner First Lady ein neues Reich gründen soll, vier Jahre Reisezeit von der längst zerstörten Erde entfernt. Als austauschbarer Billigmensch muss Mickey im plüschigen gemüts-Outfit eines Versuchskaninchens alle möglichen wissenschaftlichen und existenzsichernden Experimente über sich ergehen lassen. Ob tödliches Bakterium, kosmische Strahlung oder ein Sturz in eine Gletscherspalte: Mickey hat zwar Angst vor dem Tod, wird aber immer wieder recycelt, aus allen möglichen organischen Abfallprodukten, um erneut als systemerhaltende Ein-Mann-Exekutive für allerlei Drecksarbeit herhalten zu müssen. Da passiert es, dass der Sturz durchs Eis gar nicht mal so lethal ausgeht. Mickey Nummer 17 – nach 16 Toden – überlebt dank der Hilfe einer außerirdischen Spezies, abfällig bezeichnet als die Creeper, und muss seine Koje bald mit Mickey Nummer 18 teilen. Einziges Problem: Multiple Personen sind unter Mitchells Regime nicht erlaubt.

Edward Ashtons Roman Mickey 7 hat für den Protagonisten dieser schillernden Science-Fiction-Satire nur sechs vorangegangene Tode geplant. Bong Joon-ho treibt die vom System betriebene Entbehrlichkeit genussvoll auf die Spitze und webt in dieses Szenario gleich mehrere gesellschaftskritische Themen ein, die aber allesamt niemals mit dem erhobenen Zeigefinger fuchteln. Er verzichtet auch auf platte Vergleiche mit realen Umständen und verfremdet sie so weit, dass sie dennoch, wie in einem pädagogisch ausgefeilten Kinderbuch für gar nicht weltfremde Heranwachsende, verstanden werden können. Jean Ziegler stellte zum Beispiel in einem Buch die Frage: Wie kommt der Hunger in die Welt? Bong Joon-ho gibt zu bedenken, wer eigentlich in einer Gesellschaft wie dieser und der unseren das Werk am Laufen hält, ohne dafür jene Anerkennung und Wertschätzung zu bekommen, die diesen Menschen zustehen würde. Mickey ist die fleischgewordene Metapher für den systemrelevanten Austauscharbeiter, der sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode schuftet, während die oberen Gesellschaftsschichten mit aufsteigender Tendenz immer mehr dem Peter-Prinzip folgen und auf jene unter ihnen treten. Filme wie Der Schacht von Galder Gaztelu-Urrutia oder auch Joon-Hos genialer Revolutions-Actioner Snowpiercer thematisieren Ähnliches. Mickey 17 aber ist von all diesen Filmen der schrulligste, liebevollste und verspielteste. Dafür kann man dem leidenschaftlich agierenden Robert Pattinson in seiner (und das ist nicht nur eine Phrase) bislnag besten Rolle nicht genug danken. Er legt seinen von allen Seiten getretenen Mickey mit einer schlurfigen, verpeilten, naiven Gottergebenheit an, er macht ihn zum Nichtsnutz und zum Improvisateur bar excellence gleichermaßen. Zum sozial-menschlichen Ideal und zum gehorsamen Befehlsempfänger. Er ist der einfachste unter den Einfachen, durch seine Unvoreingenommenheit aber auch jener mit der größten sozialen Kompetenz. Skills, die alle anderen über ihm nicht besitzen. Auch wenn Pattinson dann zweimal zu sehen ist – der Mann weiß, wie er sein Verhalten differenziert, damit man beide spielerisch unterscheiden kann. Der übrige Cast kann sich ebenfalls sehen lassen. Ruffalo wiederum dürfte seine Performance des Chauvinisten aus Lanthimos Poor Things niemals so recht abgelegt haben.

Den größten Clou fährt Bong Joon-ho mit der Liebe zu anderen Arten ein. Nach dem nilpferdigen Okja sind es diesmal knuffige Mischwesen aus Assel, Elefant und Moschusochse mit einem Schuss Lovecraft’schem Cthulhu. Wesen, die genauso wertzuschätzen sind wie jeder einzelne Hominide, der hier als Alien-Rasse auftritt, um die Andersartigen aufgrund machtgieriger Inkompetenz auszulöschen. Diese Kreaturen aber schließt man ins Herz, man bewundert die Raffinesse der Filmemacher, diese zum Leben zu erwecken. Mickey 17 wird zur kauzigen Komödie, niemals zu albern, niemals zu schrill. Bong Joon-Ho beweist ein empathisches Gespür für seine Themen und seine Geschichte, er bleibt respektvoll selbst der respektlosesten Figur gegenüber. Dass man also mit Witz, Ironie und spektakulären Bildern das Genre innovativ erweitern kann, erfrischt das Gemüt nerdiger Phantasten genauso wie nachdenklicher Realisten. Und vielleicht, ja, vielleicht würde sich Bong Joon-ho mit seinem Herz für die Vielfalt des Individuums dazu überreden lassen, irgendwann das Star Wars-Universum zu bereichern. Ein Gedanke, der mit während des Films immer wieder kam.

Mickey 17 (2025)

Bridget Jones – Verrückt nach ihm (2025)

DIE WOHLTAT DER VORHERHSEHBARKEIT

5,5/10


© 2025 Universal Pictures


ORIGINALTITEL: BRIDGET JONES: MAD ABOUT THE BOY

LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA, FRANKREICH 2025

REGIE: MICHAEL MORRIS

DREHBUCH: HELEN FIELDING, DAN MAZER, ABI MORGAN, NACH DEM ROMAN VON HELEN FIELDING

CAST: RENÉE ZELLWEGER, LEO WOODALL, CHIWETEL EJIOFOR, HUGH GRANT, EMMA THOMPSON, COLIN FIRTH, ISLA FISHER, NICO PARKER, SALLY PHILLIPS, SHIRLEY HENDERSON, JIM BROADBENT U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Weg vom Problemkino, raus aus dem Arthouse. Gewalt, Mord und Totschlag haben Pause. Das Phantastische findet sich maximal in Happy End-Beziehungen wieder, die im exakt bemessenen Timeslot eines abendfüllenden Spielfilms nach vorprogrammiertem Auf und Ab letztlich alles richtig machen. Schön, diese heile Welt mit den Wohlstandsproblemchen, die niemals an der nackten Existenz seiner Leidtragenden rütteln. Willkommen also in der Welt der RomComs, der Romantischen Komödien, vorzugsweise nach Schema F, doch dieses Schema funktioniert, weil es sein Publikum womöglich von viel ernsteren Problemen, die das echte Leben betreffen, wegholt. Kino wird dabei zur reinen Unterhaltung, zur Entspannung, als würde man in einem Stressless-Sessel sitzen, der rund zwei Stunden einem selbst gehört. Da das Medium Film dabei aber nicht viel Neues erzählt, weil es die Karte des Vertrauten ausspielt, habe ich das Genre eher großräumig umfahren. Zumindest auf der großen Leinwand. Daheim auf der Couch darf gerne zum wiederholten Male die Lieblings-Sitcom ihre bereits auswendig erlernten Folgen abspulen, weil diese das Gefühl der Geborgenheit vermitteln und so angenehm vorhersehbar sind wie ein Mittagsschläfchen. Entspannung pur in einer Welt des Umbruchs. Selten war die Zerstreuung wichtiger denn je. Und findet im vierten Alltagsabenteuer aus dem Bridget-Jones-Universum die richtige Bildschirmshow.

24 Jahre, nachdem Helen Fieldings Figur des jungen, weiblichen Tollpatsches im Pyjama die Stereotypen der weiblichen Selbstdarstellung aufdröselte, ist der im Charlie Chaplin-Schritt watschelnde, liebevolle Charakter mit dem verkniffenen Clint Eastwood-Blick längst Mutter zweier Kinder und gleichzeitig Witwe. Wie es dazu kam? Dafür braucht man bei Gott nicht alle drei Vorgängerfilme anzusehen. Dank der recht simplen Storyline erschließt sich auch für Nichtkenner des Franchise die gesamte Welt von Bridget Jones innerhalb von Sekunden. Colin Firth also dürfte Jones Ehemann Mark Darcy gewesen sein – er buhlte schließlich mit Hugh Grant um die reizende Dame, als letzterer noch den Hechtler in den Swimmingpool gewagt hat. Darcy aber ist verstorben, Bridget muss alles allein regeln und sich einem Gewitter sämtlicher Ratschläge aus dem Freundeskreis aussetzen. Statt Hugh Grant köpfelt diesmal der deutlich jüngere Spätstudent Roxster in den Pool und verdreht der schwer in den Alltag findenden Renée Zellweger so richtig den Kopf. Damit aber nicht genug: Auch wenn es nicht so aussieht, als ob da jemals die Funken sprühen können, bläst auch noch Lehrer Chiwetel Ejiofor (von Twelve Years a Slave bis hierher ist es ein weiter Weg) als Mr. Wallaker tagtäglich in die Trillerpfeife, um Bridgets Kinder Gehorsam zu lehren.

Ja, im Grunde ist sie das, die Geschichte. Ein bisschen geht’s auch um Verlust, um das Alter, um die eigene Erlaubnis, die man sich gibt, um einen Neuanfang zu wagen. Geht alles nicht so einfach, aber einfach genug, um Brigdet Jones – Verrückt nach ihm in einlullender Geschmeidigkeit dahinzuerzählen, während der Stressless-Sessel arbeitet und man selbst immer weicher und elastischer wird. Dazwischen darf man schmunzeln, wie in den vertrauten Sitcoms auch. Und manchmal, da wundert man sich, mit welchen banalen Versatzstücken man ein längst schon vieles gesehene Publikum abholen kann. Langeweile wird dabei zur Tugend, das gute Gefühl, Erwartbares erwarten zu können, zum Sonntagsausklang für die Gebeutelten, die Ja zur idealen, manchmal aber auch leicht reparierbaren Welt sagen.

Bridget Jones – Verrückt nach ihm (2025)

Der Graf von Monte Christo (2024)

WER ZU SPÄT KOMMT, BESTRAFT DIE ANDEREN

7,5/10


© 2024 Panda Lichtspiele


LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE: MATTHIEU DELAPORTE, ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE

DREHBUCH: MATTHIEU DELAPORTE, ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE, NACH DEM ROMAN VON ALEXANDRE DUMAS

CAST: PIERRE NINEY, ANAÏS DEMOUSTIER, BASTIEN BOUILLON, ANAMARIA VARTOLOMEI, LAURENT LAFITTE, PIERFRANCESCO FAVINO, PATRICK MILLE, VASSILI SCHNEIDER, JULIEN DE SAINT JEAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 58 MIN


Verrat, Befreiung, Selbstfindung und Rache: Den Roman von Alexandre Dumas dem Älteren, der ungefähr in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben wurde, mag man fast schon als zweite Bibel ansehen für jene, die weniger das große Abenteuer suchen als vielmehr kurz davor stehen, angesichts prekärer Umstände aufzugeben. In Der Graf von Monte Christo steckt die ganze Wut eines Übervorteilten und Verratenen, steckt eine Welt voll der Ungerechtigkeiten – wohl kaum einem anderen literarischen Werk wohnt so sehr die Sehnsucht nach Gerechtigkeit inne, die nicht Rache genannt werden will. Rache ist viel zu plump für diesen Grafen, sie verbrennt viel zu schnell. Schließlich hätte man sie alle auch zur Strecke bringen können, diese falschen Freunde und korrupten Machtmenschen, die völlig skrupellos und bar jeder Moral die Unliebsamen und Schwachen aus dem Weg räumen. Doch der Graf hat anderes vor. Was wäre gewesen, hätte es in dieser Geschichte die Insel Monte Christo gar nicht gegeben? Hätte der frischgebacken Kapitän Edmond Dantès, der vom Nebenbuhler und besten Freund aufs Kreuz gelegt wird, jemals aus eigener Kraft diese Genugtuung erlangen können, die er letztendlich erlangen wird?

Gefühlt jeder kennt die Geschichte des Gefangenen, der sich mithilfe eines weisen italienischen Geistlichen zum Intellektuellen mausert, um dann dank glücklicher Zufälle aus seiner Isolation zu entkommen. Abbé Faria, so hieß der geheimnisvolle Häftling und Mentor Edmonds, erzählt dem um seine Existenz Gebrachten von einer geheimnisvollen Insel, von den letzten Templern und einem unermesslichen Schatz tief im Berg. Märchenhafter kann das Ganze kaum sein. Und dennoch ist es nicht mehr als ein Jackpot, ein gewaltiges Glück, so viel kann einer in einem Leben gar nicht verwerten, es sei denn, genauso viel Pech im Vorhinein hält die Balance. Mit dieser Balance kann Edmond leben und plant von langer Hand die große, schleichende Vergeltung, um all jenen das Herz zu brechen, die sein Schicksal verschuldet haben.

Und Frankreich, das feiert die letzten Jahre schon die Wiederauferstehung des französisch-klassischen Literaturfilms, der Bezug nimmt auf all die ikonischen Werke jenes Mannes, der schon Die drei Musketiere für ewig ins kulturgeschichtliche Erbe Europas hat eingehen lassen. Was für das DC- und Marvel-Universum James Gunn, sind in der alten Welt Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière. Sie sind es, die Dumas‘ Musketier-Klassiker in formschöne zwei Teile verpackt haben, die wiederum von Martin Bourboulon 2023 dynamisch und erdig verfilmt wurden – Romain Duris, Vincent Cassel oder Francois Civil sind nur einige aus dem illustren Cast. (Nebenbei bemerkt: Delaporte und Patellière sind auch die Schöpfer der Erfolgskomödie Der Vorname) Und jetzt das – jetzt gibt es das wohl komplexeste Ensemblestück in einer dreistündigen, hochkomprimierten Deluxe-Fassung; in opulenter, aber niemals zu pompöser Ausstattung. In atemberaubenden Kostümen und mit einer ganzen Reihe an Schauspielerinnen und Schauspielern, die man allesamt bereits von irgendwoher aus anderen Filmen kennt – nur welche genau, das weiß man nicht. Die Gesichter sind aber vertraut, meist hinter Bärten verborgen oder im historischen Kontext aufgedonnert. Bei Anaïs Demoustiers liebreizendem Lächeln könnte man sich, sofern gesichtet, an Der Sommer mit Anaïs erinnern. Anamaria Vartolomei kennt man aus dem Venedig-Gewinner 2012 – Das Ereignis. Laurent Lafitte und Pierfrancesco Favino – Italiens gegenwärtig wohl bekanntestes Schauspielergesicht im regulären Dienst – sind sowohl Nemesis als auch Schutzengel. Und Pierre Niney? Er (u. a. die Hauptrolle in Francois Ozons Frantz) wagt die „Mission Impossible“ dank einer raffinierten Masken-Technologie, die, würde man es realistisch betrachten, zur damaligen Zeit niemals so funktioniert hätte. Wie Der Graf von Monte Christo es hinbekommt, sich täuschend echt zu verwandeln, ist fast schon ein phantastisches Element in einem ohnehin schon sehr hochidealisierten moralistischen Epos, für welches man ein gewisses Maß an Unmöglichkeit als plausibel ansehen sollte. Dann, nur dann gelingt diese wuchtige Oper der Manipulation anderer Leute, deren wunde Punkte zur Zielscheibe werden.

Es wäre aufgrund der Fülle an Handlung das Konzept einer Miniserie deutlich entspannter gewesen, doch das Schicksal der Drei Musketiere, von welchen der zweiteTeil sang- und klanglos in der Versenkung verschwand, wollte keiner nochmal wiederholen. Drei Stunden lassen sich also zwar nicht immer bequem, aber auf hohem Level und ohne Leerlauf als packendes Epos verknuspern, aufgeladen mit hochdramatischem Score, begleitet von einer virtuoser Kamera und in atemlosem Stakkato. Dass dabei die Übersicht etwas abhandenkommt, bleibt den vielen französischen Namen geschuldet und hängt von der Geistesgegenwart des Zusehers ab, jeden auch noch so beiläufig ausgesprochenen Namen sofort seinem Konterfei zuzuordnen. Das braucht Anlaufzeit.

Zu guter Letzt: Dass es Der Graf von Monte Christo in einer noch längeren Fassung geben könnte, scheint möglich, sind doch manche Figuren, vorrangig jene der angeblichen Patentochter des Grafen, dargestellt von Vartolomei, scheinbar grundlos mit im Spiel. Man fragt sich lange, was sie hier zu suchen hat, am Ende bleiben Delaporte und Patellière die Antwort darauf nicht schuldig, wenn auch etwas spät.

Der Graf von Monte Christo (2024)

Verlorene Illusionen (2021)

DIE INFLUENCER VON DAMALS

7/10


verloreneillusionen© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

REGIE: XAVIER GIANNOLI

DREHBUCH: XAVIER GIANNOLI & JACQUES FIESCHI, NACH DEM ROMAN VON HONORÉ DE BALZAC

CAST: BENJAMIN VOISIN, CÉCILE DE FRANCE, VINCENT LACOSTE, XAVIER DOLAN, SALOMÉ DEWAELS, JEANNE BALIBAR, GÉRARD DEPARDIEU, ANDRÉ MARCON U. A.

LÄNGE: 2 STD 24 MIN


Honoré de Balzac hat es schon immer gewusst. Und wir – wir wissen das auch nicht erst seit Inseratenaffären, Chat-Nachrichten und sympathisierenden oder antipathierenden Zeitungsartikeln, die die einen pushen und die anderen fallen lassen. Wer Geld hat, schafft an. Und hat das, soweit man zurückblickt, so schon immer praktiziert. In der Verfilmung des Romans Verlorene Illusionen aus dem neunzehnten Jahrhundert und geschrieben von niemand geringerem als Honoré de Balzac, gibt es keine Untersuchungsausschüsse oder Gerichtsverhandlungen wegen falscher Aussagen. Es gibt keine Prozesse wegen Rufschädigung oder übler Nachrede. In diesem Sündenpfuhl namens Paris ist niemandem, der Einfluss hat, auch nur irgendetwas heilig. Wer den Schaden hat, hat den Spott, wer die richtigen Beziehungen, der kann sich so lange hofieren lassen, bis andere mehr bieten, bessere Beziehungen haben oder einfach die schiere spitzbübische Freude daran finden, ohne Rücksicht auf Verluste die Gesellschaft nach Gutdünken zu manipulieren, bis nicht mehr erkennbar scheint, was eigentlich dessen Meinung war.

In dieses freie Spiel der Kräfte, in diesen Ring, in dem jeder gegen jeden kämpft, Bündnisse schließt, um sie wieder zu brechen – in diese Urgewalten aus Einfluss und Redefluss wirft sich der junge, noch nicht sehr wohlhabende Dichter und Schreiberling Lucien (Benjamin Voisin) dank der gönnerhaften Verliebtheit seiner Mäzenin Louise de Bargeton (Cécile de France), die, und das darf keiner wissen, mit dem knackigen Feschak längst eine Liaison hat. Im frühen 19. Jahrhundert können amouröse Verbindungen zwischen unterschiedlichen Klassen das Gefälle im Ansehen nicht überwinden, und da Louise de Bargeton keine Lust auf jedwede Ächtung hat, bleibt das Gspusi geheim. Wie Felix Krull, der vorgab, etwas zu sein, was er nicht hat, stehen Lucien dank seiner Mäzenin manche Türen offen, um in der Haute Volée mitzumischen. Bald wird bekannt, dass der Möchtegern-Literat weniger mit seinen sperrigen Gedichten auf sich aufmerksam macht, als vielmehr mit seiner spitzen Feder, die tief in die süffisante Polemik taucht, um Snobs und VIPs zu diskreditieren. Die Zeitungen sehen sowas gerne, die Leserschaft zerreißt sich die Mäuler, der Content wird zum Gesprächsstoff – und Lucien wird bald ganz oben angekommen sein. Was einen dort oben erwartet, ist erstens von kurzer Dauer und zweitens aus fast jeder moralischen Erzählung wie das Amen im Gebet: Wer hoch steigt, wird tief fallen. Und bald nutzen ihm all seine Beziehungen nichts mehr, nicht mal die mit dem resoluten Verleger Dauriat, dem Gerard Depardieu im wahrsten Sinne des Wortes Gewicht verleiht.

Eine gewisse opulente Schwere kann man Xavier Giannolis Schicksalsschwarte von einem Film auch nicht wirklich absprechen. Statt gekleckert wird geklotzt, es biegen sich die gebohnerten Parkettböden in schmucken Hallen unter der Last des fein rausgeputzten Wer-bin-ich-wer-war-ich-Establishments, es trägt Benjamin Voisin als Lucien sein für die Öffentlichkeit erdachtes Ich zur Schau, als gäbe es kein Morgen mehr. Jenseits dieser Herrenhäuser und Prunkräume wird die Hauptstadt Frankreichs zu einem alle Werte über Bord werfenden Sodom und Gomorrha der Influencer und Follower von anno dazumal, zu einer geschichtlichen Anti-Nostalgie in üppigen Bildern, bei der man mit Erschrecken – obwohl man es längst gewusst hat – feststellt, dass die Welt niemals anders war. Dass seit jeher Meinungen gemacht wurden, Fake News verbreitet und Verlierer, die aus irgendwelchen Gründen auch immer plötzlich büßen müssen, durch den Dreck gezogen werden. Einen fast schon investigativen Gesellschaftsroman hat Balzac da geschrieben, Giannoli tischt uns die entsprechenden Bilder dazu auf, zusammengepresst auf ohnehin noch zweieinhalb Stunden, und dennoch zum Bersten voll mit Intrigen, Begehrlichkeiten und gnadenlosem Anarcho-Kapitalismus, der das ganze Räderwerk erst zum Laufen bringt. Es läuft bis heute.

Verlorene Illusionen (2021)