The Voice of Hind Rajab (2025)

DAS KIND BEIM NAMEN NENNEN

7,5/10


© 2025 Polyfilm


ORIGINALTITEL: SAWT HIND RAJAB

LAND / JAHR: TUNESIEN, FRANKREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: KAOUTHER BEN HANIA

KAMERA: JUAN SARMIENTO G.

CAST: HIND RAJAB, SAJA KILANI, MOTAZ MALHEES, CLARA KHOURY, AMER HLEHEL U. A.

LÄNGE: 1 STD 29 MIN  


Wir kennen all diese Menschen nicht, die im kriegsversehrten Gaza-Streifen von Norden nach Süden und durch die Hölle getrieben werden und wieder zurück. Für uns hier im weit entfernten Europa haben sie keine Identität, sind sie doch nur Teil einer Masse von Menschen. Ab und an sieht man in den Nachrichten ihre Gesichter, weinend, flehend, verzweifelt, oft auch resignierend. Immer noch kennen wir ihre Namen nicht, immer noch sind diese Leute nur irgendwer. Anders auf der anderen Seite. Dort weiß man genau, wer am 7. Oktober 2023 von der Hamas entführt wurde. Man weiß, wer es nicht überlebt hat und wer vor wenigen Wochen tatsächlich wieder freikam. Sie haben ein Gesicht, gedruckt auf Tafeln und auf T-Shirts, getragen von den Angehörigen. Hier sind Mittel und Wege vorhanden, den Wert des Einzelnen aus dem gesichtslosen Bulk der Leidenden zu heben.

Wer ein Leben rettet…

Die im Gazastreifen haben das nicht. Da gibt es keine Mittel und Wege, keine T-Shirt-Druckereien oder das große Fernsehen, dass da vorrückt, um zu tun, was getan werden muss, um dem Individuum seinen Wert zu geben. Ich weiß noch, wie Steven Spielberg in seinem Holocaust-Meisterwerk Schindlers Liste einem jüdischen Mädchen den Mantel rot koloriert hat. Es bleibt namenlos, gesichtslos, jedoch sticht sie aus der Menge an Menschen hervor, um bewusst zu machen, dass es immer noch um den oder die Einzelne geht, um ein Gefühl dafür zu bekommen, dass, wenn andere nur ein Leben retten, retten sie die ganze Welt. Oskar Schindler, der am Ende des Films verzweifelt, weil er viel mehr hätte tun können, wird der Satz aus dem Talmud kaum trösten. Wäre es doch nur ein Leben mehr gewesen. Ein einziges.

Das Kind beim Namen nennen

Dieses eine trägt keinen roten Mantel. Wir wissen nicht, was sie anhat. Wir wissen nur: Sie ist sechs Jahre alt, und wir hören ihre Stimme. Ihre letzten Worte. Ihr verzweifeltes Flehen um Rettung, ihre Angst, ihr Weinen, das Aufblitzen von Hoffnung. Dabei sind es nur acht Minuten. Acht Minuten Fahrt mit dem Rettungswagen durch umkämpftes Gebiet, um an das Auto zu gelangen, in dem Hind Rajab feststeckt. Alle anderen, fast die gesamte Familie, ist tot, zersiebt von den Waffen der israelischen Armee. Auch das sehen wir nicht. Doch wir können es uns vorstellen, wenn die Stimme des Mädchens an die Ohren der Telefonistinnen und Telefonisten in der Notdienstzentrale des Palästinensischen Roten Halbmonds dringt.

Hier, in der Westbank, wo der Krieg weitestgehend außen vor bleibt, werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Zivilisten in Bedrängnis aus dem Kriegsgebiet zu bringen. Das läuft über einige Umwege, bis die israelische Armee davon erfährt, um dann den Schutz zu gewährleisten, wenn sich ein Rettungsfahrzeug in Bewegung setzt. Auch das sehen wir nicht, nur die Gesichter der Telefonierenden, auch sie sind verzweifelt, emotional verstört, aufgebracht, die Nerven liegen blank. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, mit dem Tag, mit dem Krieg, mit dem Tod. Und das Extreme dabei: Es ist im Film nicht nur irgendein Mädchen zu hören, das vorgibt, Hind Rajab zu sein. Es ist sie tatsächlich selbst. Regisseurin Kaouther Ben Hania (Der Mann, der seine Haut verkaufte) bettet das im Januar 2024 aufgezeichnete Soundfile des Gesprächs in ihren semidokumentarischen Spielfilm, was den Horror nur um so schlimmer macht. Die Mitarbeiter des Roten Halbmond sind zwar von Schauspielern besetzt, doch selbst da hat Ben Hania Ideen, wie sie die realen Personen vor die Kamera bekommt. Faktenmaterial trifft so auf die akribische Nachstellung nervenzerrender Abendstunden, das Kammerspiel wird zu einem Kino des Zuhörens und der Vorstellungskraft, der man aber nicht unbedingt nachgeben will, denn die Realität drängt alles Gespielte an den Rand.

Ein Schicksal für alle

Kriegsberichte aus den Nachrichten lassen einen irgendwann abstumpfen und resignieren, The Voice of Hind Rajab gelingt es aber dadurch, dass sie einem der unzähligen Opfer eine Stimme, ein Gesicht, und ein Leben gibt, dem Verheerenden einer zerstörten Zukunft Relevanz zu verleihen. Auf eine Weise erinnert dieses Schicksal an Anne Frank, durch dessen aufgeschriebenes Einzelschicksal der unschätzbare Wert eines Menschenlebens nicht mehr nur so dahingesagt bleibt.

Mit dieser echten Stimme gelingt es Ben Hania, nicht nur einen weiteren Film gemacht zu haben, der durch die Darstellung eines Übels betroffen machen soll. Diese echte Stimme hebt den Schleier zwischen Narrativem und der eigenen Convenience-Blase, in der man sich befindet. Das ist keine Erzählung. Das ist wahrer Schmerz.

The Voice of Hind Rajab (2025)

Oslo Stories: Sehnsucht (2024)

FREIHEIT IN GEDANKEN UND TATEN

8/10


© 2024 Alamode Film


ORIGINALTITEL: SEX

LAND / JAHR: NORWEGEN 2024

REGIE / DREHBUCH: DAG JOHAN HAUGERUD

CAST: JAN GUNNAR RØISE, THORBJØRN HARR, SIRI FORBERG, BRIGITTE LARSEN, THEO DAHL, NASRIN KHUSRAWI, VETLE BERGAN, ANNE MARIE OTTERSEN U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Wie es der Norweger Dag Johan Haugerud schafft, Gespräche zu inszenieren, als würde er im realen Leben und völlig unbemerkt Leute dabei beobachten, wie sie sich mit ihren Problemen und Unsicherheiten auseinandersetzen – das geht schon jetzt als denkwürdiges Beispiel natürlicher Dialogführung in die Geschichte des europäischen Kinos ein. Seine Trilogie SehnsuchtTräumeLiebe (im Original wird nur Teil eins mit Sex betitelt) beinhaltet hochkomplexe Gedankengänge und Situationsbeispiele, die durch das zwischenmenschliche Gespräch sozialphilosophische Dimensionen erreichen und dabei minimal-invasiv in die Tiefe gehen, ohne das Volumen des Erzählten unnötig aufzublasen oder zu pathetisieren.

Haugerud appelliert in seinen Filmen an die Vernunft, an die Zivilisiertheit, an die befreiende und erklärende Wirkung der Aussprache. Dialogfilme mag man mitunter vielleicht langweilig finden – doch niemals so in den Oslo Stories, welche die Hauptstadt Norwegens anders betrachten als es ein Reiseführer tun würde – vielmehr ist Oslo auch nur eine grundlegende gemeinsame Bühne für Menschen, die nicht nur ihre sexuelle Identität suchen, sondern vor allem auch eine Form der Selbstbestimmung, die sie im sozialen Kosmos einer Beziehung nicht verlieren möchten. Egal, wer in dieser Trilogie über seine Bedürfnisse stolpert und nicht absehen kann, in welche Richtung ihre Entscheidungen führen  – sie alle streben danach, ohne Schamgefühl authentisch zu bleiben. Verwechseln werden es manche mit individueller Freiheit, deren Wert es in einer Welt des Miteinanders gilt zu reflektieren.

David Bowie und der Wert der Intimität

In Oslo Stories: Sehnsucht widmet sich Haugerud den Wertvorstellungen von Sex und Liebe. Auch hier, so wie in Oslo Stories: Liebe, stehen zwei Personen im Mittelpunkt, die sich selbst erkennen müssen, indem sie ihre Wahrnehmung, ihre Prioritäten und den Faktor Kompromiss neu bewerten. Seit Mary Poppins hat man keine Rauchfangkehrer mehr auf Dächern sitzen sehen. Zwei davon, die namenlos bleiben, sind gut miteinander befreundet, und zwar so sehr, dass sie sich alles erzählen – ihre Träume und eben auch ihre sexuellen Abenteuer. Ein solches hat einer der beiden erlebt, einer, der von sich behauptet, heterosexuell zu sein, und sich dennoch auf Sex mit einem Mann eingelassen hat. Einfach, weil er so etwas noch nie gemacht, weil es seinen Horizont erweitert und ihn auf gewisse Weise auch erregt hat. Dessen Ehefrau steckt diese Untreue nicht ganz so gut weg, da schließlich Sex aus ihrer Sicht ein Akt höchster Intimität darstellt, die sich nur Liebende teilen. Diese unterschiedliche Auffassung führt zu tiefgehenden Gesprächen über Vertrauen, Machtgefüge und den Regeln des Miteinanders, die man aus Liebe bereit ist mitzutragen. Der Freund dieses Mannes hat ganz andere Probleme, weitaus abstrakterer Natur. Dieser muss sich in seinen Träumen mit David Bowie herumschlagen, der ihn jedes Mal so ansieht, als wäre er weder Mann noch Frau, als würde er ihn ansehen um seinetwillen, vorurteilsfrei, bedingungslos, nichts einfordernd. Was das zu bedeuten hat, will er wissen. Und natürlich reflektiert er dabei auch seine sexuelle Identität, um letztlich zu ganz einer anderen Erkenntnis zu gelangen.

Es wird bei Betrachten dieses Films wohl kaum jemanden geben, der, sofern er sich in einer Beziehung befindet, sich selbst nicht an diesen Gesprächen mit seinen ganz eigenen Erfahrungen beteiligen könnte. Oslo Stories: Sehnsucht wirft so viele Fragen und Gedanken auf, dass man dieses Werk nicht einfach im Kino zurücklassen kann. Haugeruds erster Teil schenkt naturgemäß keine allgemeingültigen Antworten, nähert sich möglichen aber an, und zwar immer mehreren gleichzeitig, ohne universelle Lösungen zu generieren. So unterschiedlich und vielgestaltig das psychosoziale Leben auch sein kann, so unterschiedlich und vielgestaltig ist dieses präzise ausformulierte Drama in seinen Aspekten und Themen, die so essentiell sind wie die menschliche Existenz an sich.

Oslo Stories: Sehnsucht (2024)

Oslo Stories: Liebe (2024)

DIE LUST AUF ANDERE

7/10


© 2024 Alamode Film


ORIGINALTITEL: KJÆRLIGHET

LAND / JAHR: NORWEGEN 2024

REGIE / DREHBUCH: DAG JOHAN HAUGERUD

CAST: ANDREA BRÆIN HOVIG, TAYO CITTADELLA JACOBSEN, MARTE ENGEBRIGTSEN, LARS JACOB HOLM, THOMAS GULLESTAD, MARIAN SAASTAD OTTESEN, MORTEN SVARTVEIT U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Nicht nur Richard Linklater kann den Dialogfilm. Wir erinnern uns noch: Before Sunrise, ebenfalls Teil einer Trilogie, in der es ums Reden, dann ums Reden und nochmals um Reden geht, ließ das Publikum nicht nur Wien bei Nacht betrachten, sondern etablierte eine intellektuelle Kunstform, in welcher weniger die Handlung den Film antreibt, sondern das gesprochene Wort. Und hier auch nicht der Monolog, sondern der Austausch an Meinungen, Erlebnissen und das gelebte Interesse am Gegenüber. In Anbetracht aktueller sozialer Tendenzen, die in Richtung Ich-Einkehr gehen und in denen das sogenannte Gegenüber lediglich zur tagebuchähnlichen Projektionsfläche wird, ist diese Art der selbstlosen Aufmerksamkeit eine seltene Eigenschaft, die im Gedankenkino wiederkehrt und sich etabliert, momentan und sehr auffällig vor allem in der Oslo-Trilogie, die zwar nicht ganz so radikal wie Linklater nur das Gespräch sucht, dafür aber einen gemeinsamen Nenner all dieser drei Filme freilegt: Sexuelle Normen und intime Identitäten.

Während Oslo Stories: Träume empfundene sexuelle Anziehung und das Verliebtsein in vielerlei Hinsicht und aus den Blickwinkel unterschiedlicher Menschen betrachtet, geht Oslo Stories: Liebe einen Schritt weiter und sieht sich an, wie gelebte Individualität mit unterschiedlichen Formen von zwischenmenschlicher Beziehung klarkommt. Auf der einen Seite ist da der homosexuelle Krankenpfleger Tor, der täglich mit der Fähre zur Arbeit pendelt und die Überfahrt dafür nützt, Kontakte für sexuelle Abenteuer zu knüpfen. Bis er auf den Psychiater Bjørn trifft – einem Mann, der ganz anders tickt (und als einziger auch in Oslo Stories: Träume vorkommt). Auf der anderen Seite haben wir Marianne, Urologin und Arbeitskollegin von Tor, die sich von diesem inspirieren lässt und, obwohl ihre Freundin sie mit einem alleinstehenden Familienvater verkuppeln will, der sehr wohl ihr Typ zu sein scheint, das Konzept der sexuellen Freiheit erprobt.

Sex und die Suche nach Vertrauen

Let’s Talk About Sex? Es geht bei weitem nicht nur darum. Es lässt sich gar erkennen, dass diese Form des Miteinanders im letzten Teil von Haugeruds urbaner Trilogie andere Prioritäten erlangt. Das müssen längst nicht die wichtigsten sein, können aber gewichtig werden, wenn der Begriff des Vertrauens in einer ganz gewissen Szene im Film kein einziges Mal Erwähnung findet. Und doch gibt es Lebensentwürfe, die ohne diesen Umstand klarkommen, die den Wert des Vertrauens und Vertrauen-Gebens nicht erfahren müssen oder wollen. In genau dieser Szene, wenn Marianne mit ihrer Fähren-Bekanntschaft für eine Nacht über das Fremdgehen philosophiert, denke zumindest ich unweigerlich an Karoline Herfurths geglücktem Episodendrama Wunderschöner. Dieser Moment passt da gut hinein, weitet sich das Gespräch auch noch insofern aus, da es die männliche Wahrnehmung von Frauen, die ihre Selbstbestimmung leben, kritisch, aber vorwurfsfrei thematisiert.

Vorwürfe gibt es in Oslo Stories: Liebe schließlich überhaupt keine, nur wahnsinnig viel Verständnis. Als wäre das Künstlermanifest Dogma 95 wieder auferstanden, lobt Haugerud den Dialogfilm als dokumentarischen, fast schon beiläufigen Austausch, ohne dabei allzu sehr abzudriften. Die Side Story um eine Osloer Jubiläumsfeier mag vielleicht trotz ihrer feministischen Thematik nicht ganz fertig und auch weniger relevant wirken für das, was den Film umtreibt – die parallel- und ineinanderlaufenden Charakterentwicklungen hingegen bestechen durch ihre sprachliche Raffinesse, die sogar jede Menge nonverbales Understatement zulässt, wenngleich Oslo Stories: Liebe in der norwegischen Originalfassung mit Untertiteln fast schon als halbes Buch durchgeht, mit vielen netten Bildern, auch vom Osloer Rathaus. Ein seltsames, kantiges, geometrisches Gebäude, scheinbar brutalistisch. Ein Kontrapunkt zur veränderlichen Gefühlswelt dieser experimentierfreudigen Liebenden.

Oslo Stories: Liebe (2024)

Der Spitzname (2024)

SCHNEEBALLSCHLACHT MIT WORTEN

5/10


derspitzname© 2024 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2024

REGIE: SÖNKE WORTMANN

DREHBUCH: CLAUDIUS PLÄGING

CAST: IRIS BERBEN, CHRISTOPH MARIA HERBST, FLORIAN DAVID FITZ, CAROLINE PETERS, JANINA UHSE, JUSTUS VON DOHNÁNYI, KYA-CELINA BARUCKI, JONA VOLKMANN U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


„Wegen dessss Klimawandelssss“, verbessert Christoph Maria Herbst als I-Tüpfelreiter bar excellence seine bessere Hälfte Caroline Peters während der Fahrt in ein österreichisches Skigebiet, an welchem Schwager Florian David Fitz endlich Schauspielerin Janina Uhse ehelichen will – in bescheidenem Familienkreis sozusagen, auch natürlich unter dem Beisein der auf Lanzarote mit ihrem Adoptivsohn lebende Iris Berben, die gefühlt letzten Sommer erst ihrer Sippschaft verklickert hat, nun einen anderen Nachnamen angenommen zu haben. In Sönke Wortmanns zweitem Aufguss des Remakes der französischen Erfolgskomödie Der Vorname gesellen sich nun auch die Kindeskinder dazu – Antigone und Cajus sowie die kleine Pauline, die von Papa stets Paulchen genannt wird: Das ist der Spitzname, um den sich scheinbar alles drehen soll. Letztendlich spielt er keine große Rolle. Ob Florian David Fitz nun seine Tochter aufgrund der liebkosenden Namensgebung lieber gerne als Jungen sehen will, ist ein peripheres Thema, das niemals zum Stein des Anstoßes wird.

Der Name ist also nicht Programm. Die Brisanz eines möglichen, politisch und moralisch unkorrekten Vornamens wie Adolf ist in Der Spitzname einfach nicht mehr gegeben. Es gibt nichts, worüber es sich wirklich aufzuregen lohnt und wofür die Familie ihr Miteinander überdenken müsste. An diesem Winterwochenende, das natürlich bestens in die Weihnachtsferien passt und auch so ein Gefühl vermittelt bei all jenen, die sich so einen noblen Ausflug in die Berge eben nicht leisten können, als wäre man direkt dabei, kommt ein spielfreudiges Ensemble zusammen, welches prächtig miteinander auskommt. Während sich die junge, vorzugsweise weibliche Generation mit militanter Kampfes- und Provokationslust in den Woke- und Genderwahnsinn stürzt und alle Anwesenden zu belehren gedenkt, was man sagen darf und was nicht, sind die anderen damit beschäftigt, ihr lahmarschiges Leben mit revolutionärem Zunder zu füllen. Dazwischen gibt es aber noch die Verfechter der guten alten Sprache oder karrieregeile Mittvierziger, die auf eigennützige Weise dazu bereit sind, Geschlechterrollen zu überdenken. Es treffen Ansichten und Meinungen aufeinander, auf die thematisch einzugehen eigentlich keinen Sinn machen würde, da es sonst den Rahmen spränge. Jedes Thema da drin in dieser Komödie hat etwas für sich, wird aber nur mal auf kecke und gar nicht mal so schenkelklopfend spaßige Weise aufgegriffen. Es ist womöglich so wie bei einem selbst innerhalb des letzten Restes von funktionaler Familie, der liberal und vorurteilsfrei genug ist, um sich einander spielfreudig an die Gurgel zu gehen, ohne nachtragend zu bleiben oder den Kontakt abzubrechen. Die Fronten bleiben in Der Spitzname nicht gnadenlos verhärtet, an manchen Stellen suchen sogar familiäre Erzfeinde wie Herbsts und Uhses Figur den Dialog.

Doch je länger der verbale und immer repetitiver werdende Schlagabtausch andauert, desto deutlicher wird, dass all das zeitgeistige Gerede einen hohlen Kern umgibt. Der vage roten Faden, der sich durch den Film zieht, zerfasert, inhaltliche Substanz gibt es keine, vielmehr häuft Wortmann einzelne Anekdoten aneinander, als wäre man beim Zusammenschnitt entfallener Szenen aus den letzten beiden Filmen. Folglich sind diese dann auch nicht die Witzigsten, und wenn man Christoph Maria Herbst, den ich als begnadeten Komödianten empfinde, der weiß, wies geht, mal wegrechnet, bleibt seichte Fernsehunterhaltung, die dem bourgeoisen Zielpublikum nach dem Mund redet.

Der Spitzname (2024)

Jahrhundertfrauen

GESCHLECHTERROLLEN IM WERTETAUMEL

8,5/10


jahrhundertfrauen© 2016 Splendid Film


LAND / JAHR: USA 2016

BUCH / REGIE: MIKE MILLS

CAST: ANNETTE BENING, ELLE FANNING, GRETA GERWIG, BILLY CRUDUP, LUCAS JADE ZUMANN U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Eigentlich ist Mike Mills selbst verfasstes Werteportrait aus den Siebzigerjahren mitunter einer der Filme, die spätestens zum Internationalen Frauentag aus den Streaming-Archiven geholt werden könnten. Jahrhundertfrauen – oder im Original 20th Century Women – bringt es zustande, über Geschlechterrollen zu sinnieren, ohne dabei auch nur ein einziges Mal in die Spurrillen oft gehörter Phrasen zu geraten, obwohl es derer genug gäbe auf dem Weg hin zu einem fortschrittlicheren und respektvollerem Wertebild, die sich der Mann von Morgen aneignen sollte. Dabei begegnet ihm die Frau oftmals mit Angriffslust. Nicht aber hier. Diese Jahrhundertfrauen haben es nicht notwendig, die entbehrungsreiche Figur des 20th Century-Mannsbildes mit militanter Gehässigkeit zu entmachten. Sie nutzen die Chance, dem Mann von morgen all die Dinge, auf die es ankommt, auf teils sogar unbewusste Art in ein witgehend vorurteilsfreies Bewusstsein zu rufen.

Dabei ist dieser junge Mann, um den es hier geht, lediglich noch ein Teenager von 15 Jahren, ein kluger Jungspund, der gemeinsam mit Mama Annette Bening in einer renovierungsbedürftigen Villa wohnt, deren Zimmer unter anderem an Greta Herwig alias Abbie vermietet werden. Das Mädchen Julie (Elle Fanning) wohnt zwar nicht da, ist aber ebenfalls ein gern gesehener Gast. Drei Frauen sind es: eine Fotografin und dem Krebs eben von der Klinge gesprungen, eine promiskuitive Blondine mit dominanter Mutter und eben Annette Bening, alleinerziehende Mittfünfzigerin und etwas ratlos, wenn es darum geht, den jungen Filius auf das Leben vorzubereiten. Da kommen ihr die beiden omnipräsenten Damen recht gelegen – die könnten doch unterstützende Vibes erzeugen, wenn es darum geht, die Welt mit differenzierteren Blicken zu betrachten.

Natürlich kann es leicht passieren, dass bei einem komplexen Thema wie diesem ein Film, der sich fast ausschließlich auf Dialoge verlässt, mit Binsenweisheiten und auch irrelevantem Geschwafel die Geduld des Zusehers strapaziert. Da braucht es eben einen Autor, der etwas ganz anderes, und eigentlich viel mehr will als „nur“ die Mechanismen proaktiven Feminismus zu erörtern. Nämlich: die Kunst des achtsamen Umgangs zu lehren. Grandios, wie Mike Mills seine Szenen setzt und seine Figuren das Wort erteilt, ihnen dabei aber nichts in den Mund legen muss, da diese aus eigener Überzeugung, und oft mit einer beiläufigen Selbstverständlichkeit, kluge Wahrheiten gelassen aussprechen. Dabei kreisen pointierte Dialoge, meist verankert in alltäglichen Situationen, um Erziehung, Elternschaft und obsoleten gesellschaftlichen Tabus. Ein bisschen erinnert der Stil und auch der Scharfsinn an Richard Linklaters Boyhood. Annette Bening gelingt wohl einer ihrer besten, wenn nicht ihre beste Performance. Dabei spielt sie weder eine Erkrankte, noch ist sie körperlich wie geistig beeinträchtigt noch ist sie sonst auch nur irgendwie eine Persönlichkeit, die aus dem Rahmen fällt. Eben weil Bening das nicht ist, sondern weil sie diese alleinerziehende und an sich selbst zweifelnde, ganz normale Person ist, findet sie diese unartifizielle Ausdrucksstärke. Das ist ausgereiftes Minenspiel nebst ausgereiften Szenen, die so wunderbar unverkrampft von so vielem erzählen, und die es knapp zwei Stunden lang schaffen, gleich mehrere Biographien anzureißen, ohne einander die Aufmerksamkeit zu stehlen. Hier findet sich diese zu vermittelnde Achtsamkeit selbst in inszenatorischer Hinsicht. Ein so unprätentiöses wie komplexes Werk also, das seinen wertschätzenden Imperativ auch filmtechnisch punktgenau umgesetzt hat.

Jahrhundertfrauen

Malcolm & Marie

DIE KRÄNKUNG EINER NACHT

5,5/10


malcolm_marie© 2021 Netflix


LAND / JAHR: USA 2020

DREHBUCH UND REGIE: SAM LEVINSON

CAST: ZENDAYA, JOHN DAVID WASHINGTON

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Wie heisst das Zauberwort? Das lernt man schon im Kleinkindalter. Und eigentlich sind es zwei dieser Sorte. Bitte und Danke. Ein Basislehrgang in Sachen Respekt und Wertschätzung. Wie ist das in einer Beziehung? Muss man da auch andauernd Danke sagen? Ja, muss man. Denn nichts in einer Beziehung ist, nur weil es eine Beziehung ist, selbstverständlich. Das ist etwas, das muss Filmemacher Malcolm noch lernen. Der hat nämlich völlig vergessen, bei der Premiere seines Regiedebüts vor allem seiner besseren Hälfte jenen verbalen Tribut zu zollen, den sie verdient hätte. Meint Marie. Und schon ist die Lunte für eine hitzige Nacht aus Küssen und verbalen Schlägen gezündet. Eine knapp über hundert Minuten lange Wippschaukel an Stimmungen. Da ließe sich ja ein zweites Wer hat Angst vor Virginia Woolf? dahinter vermuten, Edward Albees Beziehungsdrama, ebenfalls an einem Abend, und vor allem einer, an dem sich beide nichts schenken.

Geschenkt haben sich Schauspielerin Zendaya (eben noch in Spiderman: Far from Home als Parkers nonkonforme Klassenkollegin – und schon im bauchfreien Abendkleid) und Tenet-Star John David Washington anlässlich dieses heimlichen Corona-Drehs erstmal ihren negativen Antigentest. Damit sie überhaupt so sehr auf Tuchfühlung gehen können, wie sie es in diesem Zwei-Personen-Drama tun. Location ist ein großzügig verglaster Bungalow irgendwo in Kalifornien, die elegante Bildsprache macht auf sophisticated Schwarzweiß und setzt obendrein noch auf eine angenehm grobkörnige Struktur der Bilder. Das ist schon mal erlesen, da kann man gut und gerne darin versinken. Dazu ein paar jazzige Musiknummern und, am Türrahmen lehnend, den Glimmstängel zwischen den Fingern. Lauren Bacall, Richard Burton, Humphrey Bogart oder wie sie alle heißen, hätten sich in diesen Rollen wohl wiedergefunden. Klar, das sind alles Stars mit unübersehbaren Egos. Malcolm und Marie haben diese auch – stolze Egos, die deren Kränkung zum Anlass nehmen, den Mittelpunkt auf sich zu lenken.

Womit sich die emotionale Teilnahme des Zusehers an diesem schicken Geplänkel mit dispkrepanten Stimmungsschwankungen in Grenzen hält. Sam Levinson hat gar nicht vor, wie ein Edward Albee wirklich ans Eingemachte zu gehen. Klar, die Vergangenheit holt sich ihre Erwähnungen, um diesen Hickhack besser zu verstehen. Die Bekümmernisse der Beiden, ihren Trotz und ihre ständige Eigenrotation, die bleiben in diesem Schloss aus Glas, finden keinen Bezugspunkt nach draußen und haben auf Dauer auch nichts wirklich Relevantes mehr zu berichten.

Annerkennung, Achtsamkeit – Zendaya unter artiger, allerdings aber professioneller Ausführung akkurater Regieanweisungen fordert dieses Verhalten ein, gibt aber nicht viel Einblick in ihre Psyche. John David Washington ebenso wenig, er ergeht sich in gut ausformulierte, aber völlig belanglose Monologe über Kritiker und Filmbiz, die den kargen Plot auf Spielfilmlänge strecken. Malcolm & Marie zelebriert eine eigene Welt, eine eigene gesellschaftliche Biosphäre, so fern von einem greifbar hemdsärmeligen Leben. Das ist das, was Sam Levinson schafft: Eine prätentiöse Blase, darin eine kunstvolle Fotoshow mit zwei hippen Stars, die noch einige Karrierestufen vor sich haben. Das ist Beziehungskiste mit Glamour.

Malcolm & Marie

One Night in Miami…

REFLEXIONEN ZUM FEIERABEND

7,5/10


onenightinmiami© 2020 Amazon Studios


LAND: USA 2020

REGIE: REGINA KING

CAST: ELI GOREE, KINGSLEY BEN-ADIR, LESLIE ODOM JR., ALDIS HODGE, BEAU BRIDGES, LANCE REDDICK U. A. 

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Gestern, am 22. Jänner, wäre Soul-Legende Sam Cooke 90 Jahre alt geworden. Doch der Mann, der ist schon lange tot. Er wurde erschossen, angeblich in Notwehr, im Alter von gerade mal 33 Jahren. So einen Tod musste Malcolm X ebenfalls erleiden. Am 25. Februar 1964 allerdings wussten beide noch nichts von ihrem tragischen Schicksal, als sie mit Cassius Clay aka Muhammed Ali und dem Football Star Jim Brown auf den Sieg des berühmten Boxers gegen Sonny Liston anstoßen wollen. In einem Hotel in Miami, irgendwann spätnachts. Dieses Treffen hat allerdings nie wirklich stattgefunden, es ist rein fiktiv. Gekannt haben sich die vier Schwarzen aber schon. Vor allem Malcolm X und Ali waren gute Freunde, und ersterer konnte den Boxer letzten Endes auch zum Islam bekehren. Die vier treffen sich also in einem Hotelzimmer, und nicht an einer Bar, um zu feiern. Warum? Weil Malcolm X jede Sekunde fürchten muss, von Rassisten attackiert oder gar ermordet zu werden (was schließlich auch eintrat – aber nicht durch Rassisten, sondern durch Mitglieder der Nation of Islam. Doch das nur am Rande). In diesem Zimmer treffen vier unterschiedliche Lebenskonzepte und Einstellungen aufeinander, es wird gelacht, es wird aus früheren Zeiten erzählt, es wird gestritten, getrotzt und sich wieder versöhnt. Diese Nacht, die ist fast schon zu ideal, um wahr zu sein. Und dennoch wird sie unter der Regie von Schauspielerin Regina King (Oscar für If Beale Street Could Talk) zu einem vor allem textlich beeindruckenden Come Together.

Sowas passiert auch nur, weil One Night in Miami… ein Theaterstück ist. Dramen für die Bühne sind ausgesucht dialogstark, ausgefeilt bis zum letzten Punkt, die Atempausen akkurat gesetzt. Das war auch schon bei Ma Rainey’s Black Bottom so, ein verbal wuchtiger Film. Oder The Boys in the Band – Jim Parsons Einladung zum Geburtstag. Alles Werke, die mit sicherer Hand und geradezu vorbildlich für das Kino adaptiert wurden. Doch leider nur fürs Streamingkino, denn alle drei Werke wären auch visuell erste Sahne. One Night in Miami… punktet daher mit edler Ausstattung und ordentlich 60er-Kolorit. Was das Dialogdrama aber noch mehr zu einer ganz besonderen Gesprächsrunde werden lässt, ist am wenigsten dessen Plot, denn viel passiert hier nicht. Was diese Nacht bietet, ist ein Innehalten und Reflektieren, ein Abwägen des Status Quo und ein Sinnen über die Zukunft. Was den Film also so besonders werden lässt, dass ist das gemeinsame Agieren von vier recht unbekannten Künstlern, die in ihren inszenierten Alter Egos ihren Meister gefunden haben. Kingsley Ben-Adir entwirft einen sowohl scharfsinnigen als auch provokanten, obsessiven Malcolm X. Eli Goree ist als Cassius Clay der resolute Muskelprotz von nebenan, Aldis Hodge der wohl rationalste der vier und Musicalstar Leslie Odom Jr. setzt als leidenschaftlicher Soulsänger Sam Cooke mit einer detailliert manieristischen Performance dem Schauspielabend die Krone auf. Regina King  hat mit dem durchdachten Theaterstück schon vieles auf der Habenseite – mit dem seit langem wohl am besten aufeinander eingestimmten Ensemble in einem Film ist ihr damit ein wortgewandter, sehr empathischer und auch ernstzunehmend gesellschaftskritischer Wurf gelungen, der, ähnlich wie Ma Rainey’s Black Bottom, Kämpfer, Verbündete und Opportunisten im Kampf der Schwarzen um gleiches Recht sichtet und dabei in eine aufwühlende Vergangenheit blickt.

One Night in Miami…

The Guilty

IM ZWEIFEL FÜR DEN ANRUFER

8/10

 

theguilty© 2018 Nikolaj Møller

 

LAND: DÄNEMARK 2018

REGIE: GUSTAV MÖLLER

CAST: JAKOB CEDERGREN, JAKOB ULRIK LOHMANN, MORTEN THUNBO U. A. 

 

Um einen perfekten Film zu machen braucht man (außer einem guten Buch) eigentlich nicht viel. Im Grunde sogar fast gar nichts. Eine Kamera, eine Schauspielerin oder einen Schauspieler, eine Location. Diese könnte auch nur ein Auto sein. Was man aber mit Sicherheit braucht, ist ein Telefon. Oder mehrere. No Turning Back mit Tom Hardy war so ein Film. Ein Mann in seinem Vehikel, eine Fahrt durch die Nacht. Am Hörer: alle möglichen Leute, die mit Hardys Schicksal zu tun haben werden. Die Rechnung für so ein minimalistisches Konzept, die ging damals tatsächlich auf. Auf den Dialog kommt es an. Auf einen roten Faden. Und dem Charisma des einen Schauspielers, der es schafft, trotz fehlendem Gegenüber unterschiedlichste Emotionen aus dem Ärmel zu schütteln. Hardy konnte das. Jakob Cedergren im Telefonthriller The Guilty kann das auch.

Weniger ist mehr. Den Überblick verliert man in Gustav Möllers Kammerspiel wirklich nicht. Und das ist gut so. Der dänische Knüller beweist sich als eine willkommene Abwechslung von Filmen, die sich in ihrer Ambition, ordentlich Inhalt zu kreieren, in Konfusion verlieren. The Guilty behält als filmischer Einakter einen klaren Kopf, und holt heraus, was aus seinem Potenzial herauszuholen ist, ohne prätentiös zu wirken. Die Dänen, die können das. Ihre Werke sind oft Kunststücke einer überlegten Strategie. Der Stoff, aus dem ambivalente Filme sind, die nicht zwingend Norm-Parameter erfüllen, entfaltet sich dann ganz von selbst. In The Guilty hat die Geschichte eine ganz besondere Eigendynamik. Das Erstaunliche: alles, was hier passiert, wirkt plötzlich. Man könnte meinen, The Guilty ist ein unmittelbares Dialog-Happening, fast schon eine Live-Schaltung, ein Stück Dokusoap über einen strafversetzten Polizisten, der im Innendienst Notrufe entgegennehmen muss und dann einen Anruf erhält, der den Dienstschluss um einige Zeit nach hinten verschieben wird. Am anderen Ende der Leitung: eine Frauenstimme – verzweifelt, weinerlich, angsterfüllt. Die Dame ist entführt worden. Dann, nach mehreren Calls und Backcalls wird der Fall immer klarer, und Polizist Asger immer tiefer in einen Fall hineingezogen, der seine Kompetenzen bei weitem übersteigt und der ihn auch ganz persönlich immer mehr in die Extreme treibt, ohne dabei einen kühlen Kopf zu bewahren. So zumindest scheint es.

Und dann? Dann ist The Guilty mehr ein Hörspiel als ein Film. Diese Hybriden gibt es. Hörfilme, wenn man so will. Hätten wir für Möllers Film kein Bild, würde er allerdings genauso funktionieren. Das Unsichtbare gegenüber am Telefon fasst in Worte, was wir nicht sehen und uns umso stärker vorstellen können. The Guilty entfaltet einen ganz speziellen Sog in eine imaginäre Realität im Kopf. Bei No Turning Back war das längst nicht so stark. Die zweite Ebene des Hörens und Vorstellens ist von einnehmender Gewichtigkeit, fast rückt der kahle Büroraum mit den Bildschirmen und dem Kunstlicht in immer weitere Ferne, das Hörbild übernimmt die Führung. Bis Stille einkehrt und Jakob Cedergrens grübelndes Konterfei wieder den Ist-Zustand dominiert. So switcht das filmische Experiment hin und her, hat fast schon eine interaktive Funktion. Darüber hinaus wagt sich der Thriller auch inhaltlich an einen klugen Diskurs über die Frage nach Schuldigen, Tätern und Opfern. Klar deklarieren lässt sich hier keiner der Involvierten, und wenn doch, dann ist das Spektrum des Gehörten und voreilig Gerurteiltes nur das Segment eines Ganzen, einer nachtschwarzem, verregneten Grauzone, die in beeindruckender Nuancierung narrative Kreativität entfacht, die ausladende Event-Filme manchmal kaum ansatzweise erreichen.

The Guilty

303

LIEBE GEHT DURCH DEN WAGEN

5,5/10

 

303© 2018 Alamode

 

LAND: DEUTSCHLAND 2018

REGIE: HANS WEINGARTNER

CAST: MALA EMDE, ANTON SPIEKER, MARTIN NEUHAUS U. A.

 

Ab in den Süden! – Ich kann es kaum erwarten, bis Buddy vs. DJ the Wave wieder aus dem Radio scheppert, bis die Uhren endlich umgestellt sind und es langsam wieder nach Sommer riecht. Mit Ab in den Süden ist das Urlaubsfeeling in der Zielgeraden, da freut man sich, endlich ausbrechen und den ganzen Alltag hinter sich lassen zu dürfen. So wie die 24jährige Biologiestudentin Jule, die gerade ihre letzte Prüfung vor der große Pause versemmelt hat und sich nun mit einem Wohnmobil der Marke Mercedes Homer 303 aufmacht, ihren Freund zu besuchen, der in Portugal weilt und noch gar keine Ahnung davon hat, dass er womöglich Vater wird. Doch ganz sicher ist sich Jule da nicht – ob sie die Schwangerschaft nicht abbrechen soll? Kurz nach Berlin gabelt die junge Frau an einer Tankstelle den Tramper  Jan auf – ebenfalls Student, ebenfalls mit einem Projekt gescheitert, und eigentlich vaterlos. Sein unbekannter, biologischer Erzeuger, der weilt auch im Süden, und zwar in Spanien. Sommerferien sind also da, um das zu tun, was man irgendwie tun muss − wobei der Weg als Ziel eigentlich viel schöner ist als das, was wartet, wenn man ankommt.

Fatih Akin hat schon Anfang der 90er mit der Sommerkomödie Im Juli so ein launiges, verliebtes Roadmovie inszeniert, mit einer traumhaft quirligen Besetzung, und mit einer kurzweiligen Story, die nah an der hollywoodtauglichen Krimikomödie entlangflaniert. 25km/h, die Reise auf zwei Mofas Richtung Nordsee, war auch so ein Selbst- und Wiederfindungstrip. Und 303 – der liegt auch irgendwo auf dieser Schiene, nähert sich aber thematisch fast schon mehr den Dialogkomödien eines Richard Linklater an, insbesondere der Before-Trilogie, bestehend aus Sunrise, Sunset und Midnight. Ethan Hawke und Julie Delpy trafen sich da in Wien, Paris oder letztendlich in Griechenland, um einfach miteinander zu reden, Diskussionen vom Zaun zu brechen und an den Erkenntnissen zu wachsen. Das ist auch der Punkt, warum Linklaters Dialog-Trilogie in allen Teilen so gut funktioniert. Weil einfach die Chemie zwischen den beiden gestimmt hat – und beide auch bereit waren, ihren Standpunkt zu verändern, aus einem anderen Licht zu betrachten, sich selbst zu hinterfragen.

Die Chemie zwischen Mala Emde und Anton Spieker scheint erstmal auch zu stimmen. Beide Schauspieler lassen sich gut aufeinander ein, und sehr wahrscheinlich lief das Casting für diesen Film nicht getrennt voneinander ab, wie vielleicht bei Herzblatt. Die beiden mögen sich, das ist klar, zumindest nach dem zweiten Anlauf, denn beim ersten Mal hat Jan noch den Beifahrersitz räumen müssen, weil er bei Jule einen wunden Punkt getroffen hat. Gut aber, dass der Zufall es so wollte und beide wieder zusammengeführt hat. Und so tingeln sie quer durch Deutschland, Belgien, Frankreich und Spanien. Wir sehen, wie sie die offenen EU-Grenzen passieren, wenn der Kölner Dom oder rustikale französische Dörfer vorbeirauschen und das Meer zum Greifen nah ist. Während sie so von einer Landschaft in die nächste reisen, rund eine Woche lang, wird viel geredet, diskutiert und sinniert. Und genau darin liegt das Problem in diesem deutlich überlangen und auch viel zu langen Reisefilm vom Österreicher Hans Weingartner (Das weiße Rauschen, Die fetten Jahre sind vorbei). Sein mobiler Liebesfilm nimmt sich einerseits und vollkommen nachvollziehbar genügend Zeit, die Zuneigung der beiden füreinander langsam, aber stetig und glaubhaft wachsen zu lassen. Das ist das Kernstück, das tatsächlich auch so gemeinte Herzstück des Films – denn das Herz, das spielt hier eine große Rolle. Und was das Herz will, das, so wünscht man sich, soll es bei Jule und Jan auch bekommen. Andererseits aber sind die Dialoge nicht das, was sie sein sollten, da hätte Weingartner von Linklater mehr lernen sollen. Insbesondere bei den Gesprächen, die so aussehen sollen wie jene über Gott und die Welt. Wenn es um Suizid, Sexualität und Massenkonsum geht, wirken die Diskussionen so klischeehaft, vorbereitet und in den Mund gelegt wie durchkonzipiertes Schulfernsehen. Kann sein, dass Mala Emde und Anton Spieker hier aus dem Stegreif plaudern, aber wie Stegreif mutet das ganze nicht an. Eher wie eine Umfrage zu trendigen Jugendthemen. Da fehlt das Unmittelbare, das Aufgreifen des Gesprächs aus der Situation heraus. So hat man das Gefühl, einem Schulprojekt aus der Oberstufe beizuwohnen, das gerade mal ein Wochenende Zeit gehabt hat, sich stichwortartig die Fragen zu überlegen.

Liebens- und sehenswert sind die beiden ja trotzdem, und es sei ihnen das Glück in ihrem jungen Leben vergönnt, aber vielleicht bin ich diese Art der Twentysomething-Diskussionskultur schon durch und muss niemandem mehr meinen Standpunkt klarmachen. Weingartners Verliebte müssen das, und so ist sein Film auch durch den Eifer seiner populären, recht aufgepappten Topics ein reiner Jugendfilm, der weder überrascht, erstaunt oder Reibungsflächen bietet, der einfach nur  – und das kann er aber –- vom Gefühl einer Sommerliebe erzählt, und vom Alltag, den man gerne zurücklassen würde. Was aber nicht ganz klappt, denn die Hürden des Lebens sind mit dabei, wobei diese in 303 aber kleiner werden, sich anders verlagern oder von selbst lösen. Das ist wohl das, was das Reisen ausmacht – Distanz hinter sich und dem Status Quo zu bringen, während man sich neuen Horizonten auf der Landkarte und im Kopf zuwendet.

303