Master Gardener (2022)

UNKRAUTJÄTEN ALS KATHARSIS

7/10


mastergardener© 2023 Leonine Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE / DREHBUCH: PAUL SCHRADER

CAST: JOEL EDGERTON, SIGOURNEY WEAVER, QUINTESSA SWINDELL, EDUARDO LOSAN, ESAI MORALES, RICK COSNETT, VICTORIA HILL, AMY LEE U. A.

LÄNGE: 1 STD 51 MIN


Gärtnern sollte man nicht trauen. Denn sie sind, so sagt es das Genre des Whodunit-Krimis, meistens die Mörder. Dieses Täter-Klischee ist so dominant, es besingt sogar Reinhard May in einer entspannten Songwriter-Hommage. Die Mörder-Gärtner-Konstellation kann man allerdings auch anders betrachten. Man muss kein Gärtner sein, um einen Mord zu begehen. Man kann auch zuerst einen Mord begehen, und dann, ja, dann zum Gärtner werden. Einfach, um begangenem Übel den Rücken zu kehren. Um neu anzufangen. Um Ruhe und vielleicht auch, wenn’s hochkommt, den eigenen Frieden zu finden mit einer Welt, die bislang nur aus Hass bestanden hat. Für die sich einer wie Joel Edgerton als Narvel Roth ordentlich schämt. Und daher angefangen hat, zu gärtnern. Entdeckt hat er dabei das Königreich einer Wissenschaft. Denn einen Garten die Jahreszeiten hindurch so standzuhalten, dass man dafür Eintritt verlangen kann, dafür braucht es Know-how. Edgertons Figur beschafft sich genau das. Akribisches Einlesen, behutsames Umpflanzen. Zur richtigen Zeit neue Samen aussäen, damit es später blüht. Das alles sehr zur Freude der stinkreichen Witwe Mrs. Haverhill (Sigourney Weaver), die den reuevollen Straftäter und Ex-Neonazi, der ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde und daher untertauchen musste, im Kreise ihrer wolhselektierten Entourage aufgenommen hat. Edgerton wird zum devoten Gesellschafter der Lady und zum Oberaufseher seines Grünzeugs. Kost und Logis sind inbegriffen, mehr braucht einer wie er nicht zu einem späten Frieden, ich will nicht sagen: Glück, denn die Identität aufzugeben und im mittleren Alter komplett neu anzufangen, bedarf eines nicht ganz schmerzlosen Tributs, den man zollen muss.

So darf Narvel eines Tages Maya, die Großnichte seiner Herrin, unter seine Obhut nehmen. Wie es aussieht, scheint auch sie vom rechtschaffenen Weg abgekommen zu sein. Und wer hätte da mehr Erfahrung im Läutern als der Gärtner mit dunkler Vergangenheit. Diese allerdings geheim zu halten, wird nicht lange gelingen. Narvel muss aus seiner Blase treten, um endlich mal ganz uneigennützig für jemanden da sein zu können. Selbstfürsorge ist schön und gut, doch befriedigt sowas nicht auf Dauer. Die Fürsorge zu teilen ist ein Wert, den es nicht zu unterschätzen gilt. Diesen Umstand der Reue und der daraus resultierende, völlig aufrichtige Altruismus – sie durchwirken als ethische Parameter Paul Schraders unbetitelte Trilogie über Selbstreflexion und Umdenken, über Schuld und Wiedergutmachung. Ich nenne sie mal salopp Reue-Trilogie, denn allem anderen liegt letztlich dieser Motor zugrunde. War es in First Reformed noch Ethan Hawke, der sich selbst geißeln musste, um den Schmerz der Welt zu ertragen, lässt in The Card Counter Oscar Isaac als ehemaliger Folterknecht des Militärs die Frage dafür, wer wohl die Verantwortung dafür trägt, seine Kreise ziehen. In Master Gardener ist Narvel Roth einer, der feststellen muss, seiner Vergangenheit in gewissem Maß nicht entrinnen, diese dafür aber nutzen zu können, um anderen, in diesem Fall der jungen Maya, zur Seite zu stehen. Niemand anderer hätte diese Rolle des in sich gekehrten Heckenrosen-Eremiten besser darstellen können als Edgerton. Sein stilles Charakterbild immersiviert mit dem ruhigen, fast schon als hübsch oder betulich zu bezeichnenden Stil Paul Schraders, der zwar in dunklen Abgründen wühlt, doch nur behutsam, wie eine systemische Therapie, weitestgehend fern vom Thriller, aber diesem noch zugeneigt. Sigourney Weaver als geistig verwirrte, elitäre Schreckschraube, die nicht mehr weiß, was sie tut, liefert eine unberechenbare Performance als Verkörperung eines Menschen, dessen Neid auf jene, die das Zeug haben, neu anzufangen, ihn selbst zerfrisst.

Dass aus Schraders Feder auch Scorseses Klassiker Taxi Driver stammt, ist kaum zu übersehen. Auch dort ist das Streben nach ethisch richtigem Handeln die Grundmotivation von Travis Bickle. So wirklich losgelöst hat sich Schrader bis heute nicht von dieser Thematik. Doch warum sollte er. So, wie er diesen Zustand des Findens nach Erlösung variiert, reicht das noch für ein paar weitere, tiefergehende Dramen rund um Werte, auf die es im Leben ankommt.

Master Gardener (2022)

It Comes at Night (2017)

NACHBARSCHAFTSHILFE ZU KRISENZEITEN

6,5/10


itcomesatnight© 2018 Leonine Distribution


LAND / JAHR: USA 2017

BUCH / REGIE: TREY EDWARD SHULTS

CAST: JOEL EDGERTON, RILEY KEOUGH, CHRISTOPHER ABBOTT, CARMEN EJOGO, KELVIN HARRISON JR. U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Schon wieder ist es passiert. Die Welt geht abermals vor die Hunde, und mittlerweile kann ich die Fülle an Postapokalypsen, Pandemien und Zivilisationsuntergänge gar nicht mehr alle zählen, so wütet das Subgenre des phantastischen Films durch die Unterhaltungskultur. Diesmal haben wir es aber mit einer astreinen Pandemie zu tun, die niemanden zu ominösen Kreaturen mutieren lässt, die das Blut der Gesunden wollen, sondern seine Opfer ähnlich der Pest und ohne viel Federlesens unter die Erde bringt. Natürlich nicht, ohne vorher einen Steckbrief mit allerhand Symptomen zu hinterlassen. Dafür sind Viren schließlich eitel genug.

It Comes at Night katapultiert den Zuseher mitten ins Geschehen, ohne wirklich viel zu erklären. Zugegeben, es ist herzlich wenig, aber viel mehr muss man auch nicht wissen, nur eben, dass die Krankheit dermaßen ansteckend ist, dass sich Gesunde den Kranken nur mit Atemmasken nähern können. Dazu Gummihandschuhe und auf keinen Fall berühren! So blickt die Familie rund um Joel Edgerton auf den dahinsiechenden Großvater, der kurz davor steht, dahingerafft zu werden. Er wird also halbtot vor die Tür gebracht, von dort mit der Schubkarre in den Wald, erschossen, angezündet und eingegraben. Contact Tracing hin, Quarantäne her – diese Prozedere wünscht man sich wirklich nicht durchzuziehen, wenn’s die eigenen Reihen trifft. Doch was bleibt Paul und seiner Familie, bestehend aus Frau und Teenager, auch anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen, um nicht selbst draufzugehen. Bislang scheint das Überleben durchgetaktet genug, um auch weiterhin durchzuatmen – dazu gehört: Kein Kontakt mit Fremden, des Nächtens Verdunklung und so wenig wie möglich aus dem Haus gehen. Doch trotz Apokalypse lebt man nicht allein auf der Welt, und wie der Titel schon sagt, passiert es vorzugsweise zu nachtschlafener Zeit, wenn sich Unbekannte Zugang in die verbunkerte Villa verschaffen, die verzweifelt auf der Suche nach Essbarem sind.

So fängt es also immer an. Das Nachbarschaftsgen wird aktiv, Solidarität für andere zeichnet den Menschen erst für seine Menschlichkeit aus. Und auch nachdem es zuerst den Anschein hat, besagter Eindringling führe Böses im Schilde: dieser ist noch ärmer dran als die Verbunkerten selbst, hat Familie und bittet um Zuflucht in einem Haus, das Platz genug gewährt für weitaus mehr Sippschaften als nur die eine. Die Sache mit der Nächstenliebe sollte man sich natürlich nicht zweimal überlegen, da sei ein Quantum an Selbstlosigkeit schon lobenswert. Bei Trey Edwards Shults (Waves) nihilistischem Kommunen-Horror zur Endzeit ist das oberste Gebot jedoch, sich selbst der Nächste zu sein, ein tunlichst nicht zu Brechendes.

Angereichert mit Albtraumszenarien im fahlen Licht von Taschenlampen, die Kelvin Harrison Jr. als Teenager Travis mit dem Publikum teilt, ist It Comes At Night ein zutiefst misstrauisches Werk, dass keine Kompromisse kennt und kennen will. Nur wer sich streng an die Regeln hält, kann überleben – der andere, der diese Regeln verbiegt, eher nicht. So unterzieht sich die Menschheit in dieser beklemmenden und zutiefst freudlosen Zukunft, die sogar jenen Funken der tröstenden Zweisamkeit vermissen lässt, den immerhin The Road noch aufweisen konnte, der Radikalkur einer gnadenlosen Evolutionsstrategie, die zu vernichten hat, was sich nicht anpassen kann. Doch es ist weniger das Subjekt einer wandelbaren Natur, sondern das strenge Gerüst eines teils fanatischen Dogmas, das alle in Gefahr bringt. Nach dem Herdentrieb des Menschen liegt die Zukunft nun in der Vereinzelung. Nächstenliebe und Altruismus sitzen da genauso am absterbenden Ast wie die Spezies selbst, die durch das Gemeinsame erst so viel errungen hat.

Lange vor Corona nahm dieses finstere Schreckgespenst einer Pandemie die Angst vor Ansteckung vorweg. Gut also, bei Betrachtung des Streifens bereits zu wissen, dass jener Virus, der uns nun schon drei Jahre lang quält, uns nicht zu solchen Maßnahmen hat greifen lassen wie Joel Edgerton es als seine Pflicht ansieht.

It Comes at Night (2017)

The Stranger

DER AUSTRALISCHE FREUND

6/10


thestranger© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: AUSTRALIEN 2022

BUCH / REGIE: THOMAS M. WRIGHT

CAST: JOEL EDGERTON, SEAN HARRIS, EWEN LESLIE, KAMERON HOOD, JADA ALBERTS, STEVE MOUZAKIS, MIKE FOENANDER, FLETCHER HUMPHRYS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Was heuer auf den Filmfestspielen so präsentiert wurde, lässt sich oftmals und gar nicht mal so sehr verspätet auf Netflix finden. Da spart man sich das mühsame Kartenkaufen, vor allem bei Filmen, die sowieso nie das Licht der großen Leinwand erblicken würden und sonst sang und klanglos in den lichtlosen Archiven der Kinogeschichte verschwinden würden. Dabei hätte man vielleicht Lust auf einen neuen Film mit Joel Edgerton, einem charismatischen und stets opaken Darsteller, dessen wahre Gesinnung erst immer gegen Ende seiner Filme zum Vorschein kommt. Edgerton ist ein Kaliber, und auch wenn The Stranger die Finsternis der Filmarchive vielleicht ganz guttun würde – ihm beim Ermitteln zuzusehen, inmitten eines Australiens, das sich ausnahmsweise mal von einer Seite zeigt, die wir nicht aus Bildbänden und Reisemagazinen kennen, hat schon was für sich. Noch dazu, wenn er sich mit einem nicht weniger mysteriösen Charakter herumschlagen muss, der, auf eindringliche Weise von Sean Harris verkörpert, die ganzen dunklen Schatten einer australischen Jetztzeit mit sich herumträgt, ohne es zu wissen. Wie ein Wirt einen Virus birgt, dabei aber selbst nicht erkrankt und nur den ganzen Mist an die anderen abgibt, freilich, ohne vorsätzlich gehandelt zu haben.

Das Fremdenverkehrsamt hat für The Stranger sicherlich keinen Cent locker gemacht. Man könnte meinen, irgendwo sonst auf den gemäßigten Graden dieser Welt unterwegs zu sein. Australien wird hier austauschbar, protzt nicht mit Stränden, Wäldern und artenreichen Wüsten, sondern mit Staub, Einöde und urbaner Verbauung. Ein Bus fährt anfangs durch die kontinentale Nacht, mittendrin eben Sean Harris als einer mit stechendem Blick. Man nennt ihn Henry, und dieser Henry reist von Queensland in den Westen, um Vergangenes hinter sich zu lassen. Paul (Joel Edgerton) ist ebenfalls Fahrgast, und am Ende der Reise angekommen, tun sie sich zusammen. Der eine braucht ein Auto, der andere einen Job. Eine Hand wäscht die andere, beide arbeiten für Australiens Unterwelt, die für zahlungskräftige Kunden falsche Papiere ausstellt, und bald wird aus Teamgeist sowas wie Freundschaft. Was Henry aber nicht weiß: Paul ist als Ermittler undercover unterwegs, um den seltsamen Freund genauer unter die Lupe zu nehmen, gilt der doch als Hauptverdächtiger in einem Fall von Kindesentführung und vermutlich Mord. Keine leichte Sache, das Ganze, denn Henry ist verschwiegen wie ein Grab und gibt keinerlei Hinweise darauf, mit dieser grauenhaften Sache überhaupt etwas zu tun zu haben.

Engagement im Investigieren ist eine Sache. Verbissenheit eine andere. Und so nimmt diese ungesunde Beziehung zwischen den beiden verkappten Männern unangenehme Ausmaße an, die The Stranger auch unangenehm für den Zuschauer werden lassen. In fröstelnder Nüchternheit und traumartiger Herumspinnerei entwickelt Thomas M. Wright eine auf den wahren Fall des 2003 verschwundenen Daniel Morcombe beruhenden Mystery-Thriller, bei welchem lange Zeit völlig unklar zu sein scheint, wessen Identität plausibel genug erscheint, um sie als wahr aufzufassen. Welche Vergangenheit gehört wohl wem? Manchmal scheint es, als würden Sean Harris und Edgerton die Rollen tauschen. Als hätte letzterer das ganze schon mal erlebt, und als wäre Harris nur ein Hirngespinst? The Stranger spielt mit dem Fremdartigen und Dunklen wie David Lynch, hat mitunter auch den Hang zum spukhaften Horror, der sich in Visionen manifestiert. Unwohlsein ist also Wrights oberste Devise in einem Werk, das genauso gut von David Michôd sein könnte, der mit dem postapokalyptischen Streifen The Rover zumindest noch die astralische Wüste als pittoreske Kulisse hochfuhr, wenn schon der Plot genauso finster war. Harris und Edgerton faszinieren – begegnen möchte man aber keinem von beiden, zu unberechenbar wäre die soziale Interaktion. Die beiden scheinen festzustecken in einem Katz- und Mausspiel auf engstem Raum, das Erwin Schrödinger wohl gerne in seiner Kiste veranstaltet hätte. Denn auch bei The Stranger ist das Licht, das auf den Film fällt, so schwach, dass es den Zustand der beiden Protagonisten nicht offenbaren kann. In dieser Atmosphäre ist der Thriller durchaus gelungen. Andererseits bleibt dieser ein sperriges, seltsames Ding. Und im Keller des Unterbewusstseins, da rumort es.

The Stranger

Dreizehn Leben

AUGEN ZU UND DURCH

7,5/10


thirteen-lives© 2022 MGM Studios


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2022

REGIE: RON HOWARD

DREHBUCH: WILLIAM NICHOLSON

CAST: COLIN FARRELL, VIGGO MORTENSEN, JOEL EDGERTON, TOM BATEMAN, SAHAJAK BOONTHANAKIT, VITHAYA PANSRINGARM, THIRAPHAT SAJAKUL, SUKOLLAWAT KANAROT, PAUL GLEESON, LEWIS FITZ-GERALD U. A.

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Wer gerne in Schauhöhlen geht und vielleicht schon mal die Lamprechtshöhle in Lofer an der salzburgischen Grenze zu Deutschland besucht hat, wird sich womöglich noch daran erinnern können, dass an allen möglichen Stellen Hinweisschilder zu finden sind, die vor Hochwasser warnen und unmissverständlich formuliert haben, was zu tun sei, würde man sich schlagartig in einer Situation wiederfinden, bei welcher einem das Wasser plötzlich bis zum Hals steht. Natürlich kommt da unweigerlich jene Schlagzeilen in den Sinn, die 2018 aus Thailand, dem tropischen Urlaubsland schlechthin, zu vermelden waren: Zwölf Mitgliedern einer Jugend-Fußballmannschaft wurde gemeinsam mit ihrem Trainer der Besuch der Tham-Luang-Höhle im Norden des Landes zum Verhängnis, als sie eines sonnigen Nachmittags mehrere Kilometer tief in den Berg gewandert waren. Damit, dass das Wetter so plötzlich umschwingen würde, hatte keiner gerechnet. Heftige Regenfälle und ein Überfluten einiger Passagen der schwierig zu begehenden Höhle waren die Folge. Zu diesem Zeitpunkt wusste natürlich noch niemand, dass alle überlebt haben werden. Innerhalb kürzester Zeit hatten sich Experten aus aller Herren Länder am Ort des Geschehens eingefunden – thailändische Special Forces genauso wie Wetterexperten und Höhlentaucher, natürlich der Bürgermeister und ab und an auch der Minister. Nicht zu vergessen die Medien. Da die ganze Welt von dieser Sache erfuhr, folgten auch die beiden britischen Bergungsspezialisten John Volanten und Richard Stanton dem Ruf der Pflicht. Sie dürften es auch gewesen sein, die sich als erste von der Unversehrtheit der Mannschaft vergewissern konnten. Was dann aber folgte, waren Fehlversuche, ein Todesopfer und der lange Prozess einer Lösungsfindung in Anbetracht langer, schwieriger und vor allem auch beengender Tauchgänge, welche Kinder im Alter zwischen 11 und 16 Jahren ohne Vorkenntnis rein psychisch wohl nicht verkraften würden. Kurz bevor den Eingesperrten der Sauerstoff ausgeht, hat Richard Stanton eine verrückte, aber vielleicht durchaus machbare Idee…

Ohne Führung in eine solch halbherzig erschlossene und sehr tiefe Höhle vorzudringen – sowas lässt sich zum Beispiel in Österreich nicht erleben. In südostasiatischen Ländern wie in Thailand fehlt vermutlich das Budget, um ein Naturdenkmal wie die Tham-Luang-Höhle entsprechend abzusichern. Fahrlässig ist das schon, doch es passierte, was eben nun mal passiert ist. Und Ron Howard, alter Hase im Regiehandwerk und Experte zwar nicht im Höhlentauchen, aber im minutiösen Verfilmen tatsächlicher unglaublicher Ereignisse, blendet alles Periphere so gut es geht aus, nur um sich vollkommen auf die chronologische Schilderung der Ereignisse zu konzentrieren, die am Ende des Tages als Good News in die Geschichte eingehen werden. Good News verkaufen sich allerdings nicht so gut wie Bad News, umso löblicher ist es, hier mal nicht die Fehlbarkeit des Menschen aufgezeigt zu sehen, sondern dessen Sinn für Teamwork, Willenskraft und Wagemut. Der Mensch ist hier ein Held, weil er ein Mensch ist, und nicht, weil er Kräfte besitzt, die von anderswo aus der Popkultur kommen. Howard hat bereits in Apollo 13 mit Tom Hanks gezeigt, dass historische Chroniken längst nicht knochentrockene Dokumentationen sein müssen. In Spielfilmform erlebt das Publikum menschlichen Wagemut wie diesen hautnah. Dasselbe passiert nun mit Dreizehn Leben: Fakten und dazwischen das fiktional angepasste Drama einzelner Schicksale, die als Identifikationsfiguren dienen. William Nicholson (Regiedebüt mit Wer wir sind und wer wir waren) schrieb, wie schon für Balthasar Kormákurs Tatsachentragödie Everest, das Drehbuch. Viggo Mortensen, Colin Farrel und Joel Edgerton sorgen dafür, die bereits vierte filmische Abhandlung der spektakulären Höhlenrettung auf Starkino-Niveau zu heben. Und ja, sie agieren souverän, Mortensen zum Beispiel enorm glaubwürdig – rational und distanziert, wie Menschen vom Schlag eines Richard Stanton wohl sein müssen. Emotionen spielen hier weniger eine Rolle als nüchternes Abwägen der Risiken und kühler Berechnung.

Howard und Nicholson lassen also kein Detail außen vor. Alles ist durchgetaktet, hat in akribischer Perfektion seinen Platz und seine Rolle. Dreizehn Leben ist ein präziser, sachlicher, und gerade deswegen äußerst packender Film, bei dem man nie die Orientierung verliert und der gerade in seiner Filmtechnik, insbesondere den Unterwasserszenen, abenteuerlich genug anmutet, um ihn nicht als zu distanziert zu betrachten, wenngleich große Gefühle innerhalb der dichten Abfolge der Ereignisse wenig Platz bekommen.

Dreizehn Leben

The Green Knight

DEN KOPF HINHALTEN

6,5/10


thegreenknight© 2021 24 Bilder


LAND / JAHR: USA, IRLAND 2020

BUCH / REGIE: DAVID LOWERY

CAST: DEV PATEL, ALICIA VIKANDER, JOEL EDGERTON, SEAN HARRIS, SARITA CHOUDHURY, KATE DICKIE, ERIN KELLYMAN, RALPH INESON, BARRY KEOGHAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Fantasy ist trotz des Erfolgs mit Game of Thrones und Herr der Ringe immer noch rar gesät, natürlich aufgrund der Kosten, die so ein Projekt verschlingt. Ausflüge ins Mittelalter sind fast ausschließlich in der Hand eines Ridley Scott (demnächst mit The Last Duel im Kino), wenn nicht gerade Michael Hirst seine Vikings auf die Welt loslässt. Endlich gibt’s hier Nachschub, und endlich mal dreht sich alles wieder um König Artus und die Ritter der Tafelrunde. Von Guy Ritchies Haudrauf-Interpretation des illustren Helden ist nämlich auch nur noch eine vage Erinnerung geblieben. Das könnte sich mit dem Spin-Off eines ganz anderen Recken durchaus ändern, denn die Verfilmung einer mittelalterlichen Romanze rund um Gawain entlockt den Themen unter der Regie eines sehr bemerkenswerten Filmemachers ganz andere Töne. Die Rede ist von David Lowery, ein Feingeist und cineastischer Umdenker. Einer, der Disneys Elliot – Der Drache zur emotional intensiven Familien-Fantasy mit Öko-Botschaft emanzipiert hat. Der Robert Redford Banken ausrauben ließ und in A Ghost Story auf innovative Weise über die Zeit und den Tod philosophiert hat. Es lässt sich erahnen, in welche Richtung Lowery diesmal abdriften wird, ist doch das Genre des Ritterfilms gänzlich neu in seinem Oeuvre. Das Ergebnis ist in Sachen Grünstich dem Fell des Walddrachen Elliot ganz ähnlich, taucht allerdings ganz tief ein in die Sphären von mit Chorklängen erfüllten, steinernen Gewölben, um längst gewohntem Trend den Rücken zu kehren. Hier, in der Finsternis des Mittelalters, trifft „Slumdog Millionaire“ Dev Patel auf den oder das große Unbekannte: auf den magischen, grünen Ritter.

Dabei ist anfangs noch alles so, wie es in einem Film über die Tafelrunde sein zu hat. Es ist Weihnachtstag, alles versammelt sich um den obligaten runden Tisch, der bereits recht alternde Artus spricht zu seinem Gefolge, als sich plötzlich die Tore öffnen und eine berittene Gestalt die traute Runde stört, um einen der Anwesenden zu einem Schlagabtausch herauszufordern. Der Mutige soll seinen Hieb ausführen, in einem Jahr gibt’s dann die Antwort des grünen Ritters auf die gleiche Weise. Noch Nicht-Tafelrundler Gawain, ein trinkfreudiger Taugenichts, zeigt dennoch Mut und schlägt dem Fremden den Kopf ab. Pech für den Jüngling, denn das berüstete Baumwesen zeigt sich unsterblich und zieht sich enthauptet zurück. Was also tun? Gawain will die Abmachung nicht erfüllen, wohl wissend, dass dies seinen Tod bedeutet. Doch das Volk, darunter auch Artus, feiert ihn schon jetzt als mutigen Helden.

Es ist ja nicht so, dass die Legende rund um Gawain noch nie verfilmt wurde. Sean Connery hat sogar mal die Rolle des martialischen Waldschrats übernommen. Nur so, wie die Mythen hier zu neuem Leben erwachen, gab‘s das noch nicht. The Green Knight ist Ritterkino für Intellektuelle und Kunstgenießer, für Museumsbesucher und Minnesang-Afficionados. Lowery schwelgt in nebelverhangenen, herbstlichen Landschaften, das Mystische ist allgegenwärtig – der Sinn manchmal jedoch nicht. Gawains Queste wird zu einer Rittergenese über Schlachtfelder und an ziellos umherwandernden Riesen vorbei. Das Phantastische bleibt vage, die Magie hingegen scheint alles zu durchdringen, erscheint aber auch nie konkret als solche. Vielmehr hängt sie mit Gawains Wahrnehmung und Seelenwelt zusammen, die sichtbar wird. Das gerät manchmal zum Durcheinander aus rätselhaften Andeutungen und aufgeräumten, recht formelhaften Dialogen, die aber sehr darauf bedacht sind, eine altertümliche Sprache zu sprechen, knapp an der Versform vorbei. Vieles geschieht wortlos, kippt in malerisch überhöhten Realismus, wobei die streng komponierte, farblich durchdachte Bildsprache am meisten fasziniert. Lowerys Film erinnert stark an die surrealen Welten des Italieners Matteo Garrone. Seine Filme Pinocchio (2019) oder Das Märchen der Märchen, eine Anthologie barocker Erzählungen, finden einen ähnlichen Stil. Sie sind diffus, transzendent, lakonisch und durchzogen von erdigem Naturalismus. Das ist wunderschön und sinnlich. Aber auch sehr artifiziell, weniger spontan und unnahbar.

The Green Knight lässt etwas ratlos zurück, ist aber unterm Strich sicherlich bemerkenswert. Ein exzentrischer Genuss fürs Auge und fürs Ohr und so theatralisch wie John Boormans Excalibur, nur ohne Carmina Burana. Die Artusepik bleibt hier spartanischer und den Geistern einer moralischen, erzieherischen Natur unterworfen.

The Green Knight

Midnight Special

WENN KINDERAUGEN LEUCHTEN

7/10

 

midnightspecial© 2016 Warner Bros GmbH

 

LAND: USA 2016

REGIE: JEFF NICHOLS

CAST: MICHAEL SHANNON, JOEL EDGERTON, KIRSTEN DUNST, JAEDEN MARTELL, ADAM DRIVER, SAM SHEPARD U. A. 

 

Was der Mensch nicht kennt, fürchtet er. Solange unklar bleibt, worum es sich handelt, muss das Fremde eine Bedrohung sein und mit Vorsicht zu genießen. Am Besten im Schutzanzug, wie in Steven Spielbergs E.T.. Sobald bekannt war, dass ein fremdartiger Gnom auf Erden wandelt, waren alle hinter ihm her. Aber es muss nicht mal ein fremdartiger Gnom sein, einer im Watschelgang und mit leuchtenden Fingern, die heilen können. Es reicht auch, wenn das Medium ein auf den ersten Blick ganz normaler Junge ist, der jedoch nicht weniger Lichtspiele auf Lager hat wie der Außerirdische im Fahrradkorb. Dieser achtjährige Alton kann so manches. Und eigentlich zu viel, findet die Staatssicherheit und der gesamte Geheimdienst. Radio- und Funkwellen jedweder Frequenz und jedweder Sprache sind für den Kleinen ein offenes Buch. Und Vorahnung ist sein zweiter Vorname. Was stimmt nur nicht mit diesem Kind, mit diesem Sonderling und Freak, der eine Vorliebe für Heldencomics hat und das Sonnenlicht nicht ertragen kann?

Ein Messias der Neuzeit ist dieser Alton jedenfalls keiner. Auch wenn eine Provinzsekte das gerne behaupten würde. So kann’s gehen, wenn humanphysikalische Anomalien inmitten einer halb aufgeklärten Gesellschaft Wurzeln schlagen. Dann hat man schnell ein gottgleiches Wesen, das viel mehr weiß als der Normalsterbliche. War das mit Jesus von Nazareth ähnlich? Überlegungen dazu verteilt Regisseur Jeff Nichols nur unter der Hand, als gut versteckte Metaebene für Sozialphilosophen mit Hang zu Querverweisen durch die Geschichte menschlicher Irrungen. Was der Mensch also nicht kennt, fürchtet er? Auch das ist die halbe Wahrheit. Oder er betet ihn an. Oder: er will das Unbekannte gefügig machen. Die Gedanken in Midnight Special reichen viel weiter als bei E.T., obwohl der Klassiker aus den 80ern mit den unendlichen Weiten kokettiert. Midnight Special tut das erstmal nicht, obwohl die Vermutung nahe liegt, dass das verwunschene Kind nicht von dieser Welt ist. Jeff Nichols erklärt anfangs überhaupt nicht viel. Er wirft den Zuseher in den Status Quo während einer Flucht – wovor eigentlich? Erst langsam setzen sich die Fragmente zusammen, die ungeklärten Verhältnisse machen das ganze ohnehin düstere Szenario noch mysteriöser. Als würde man Gespräche anderer belauschen, die etwas Traumatisches erlebt haben. Als wäre man lediglich ein zu spät dazugekommener Zeuge eines bizarren Unfalls, der Zeit und Raum außer Kraft gesetzt hat. Wer die amazon-serie Tales from the Loop gesehen hat, wird ungefähr wissen, was ich meine. Die nach Motiven der Bilder von Simon Stålenhag inszenierte Science-Fiction-Meditation kreist genauso um Unerklärliches wie Midnight Special. Weder Gut noch Böse ist am Werk, nur die panische Überforderung von Menschen, die das, was sie erleben, ihrem erlernten Weltbild nicht unterordnen können. Dennoch macht Nichols daraus einen nachttrunkenen Thriller, in den das gleißende Licht einer unheimlichen Begegnung der dritten Art bricht.

Mehr sei darüber nicht zu sagen, der Rest ist Suspense zwischen Beschützerinstinkt und staatlich verordneter Neugier, die den Hang hat, das Rätselhafte zu brechen. Nach einigen Twists und spielberg´scher Sphärenkonjugationen ist Jeff Nichols Essay, die Freiheit für das Rätselhafte in unserer Welt über unsere Bedürfnisse zu stellen, ein unprätentiöses Noir-Vexierspiel mit verspielten, klassisch-futuristischen Ansätzen, sonst aber von einer aufgeräumten, vielleicht zu strengen Ernsthaftigkeit, die einer kindlichen Betrachtung für das Unerklärliche nicht ganz so viel abgewinnen kann – was fast ein bisschen schade ist.

Midnight Special

The King

SCHLACHTEN, DIE GESCHICHTE MACHTEN

8/10

 

theking© 2019 Netflix

 

LAND: GROSSBRITANNIEN, UNGARN, AUSTRALIEN 2019

REGIE: DAVID MICHÔD

CAST: TIMOTHÉE CHALAMET, JOEL EDGERTON, SEAN HARRIS, BEN MENDELSOHN, LILY-ROSE DEPP, ROBERT PATTINSON U. A.

 

Issos, Actium, Dürnkrut oder Hastings – Wendepunkte der Geschichte, mit Schwert, Schild und Kriegsgerät erzwungen. Hätte die jeweils andere Partei gewonnen, hätten wir eine gänzlich andere Gegenwart und wäre Europa nicht zu dem geworden, was es ist. Kriege also, die waren die Politik der Antike, des Mittelalters und weit darüber hinaus. Statt Wahlduelle im Fernsehen Schlachten, die Geschichte machten. Zu eingangs erwähnten Eckpfeilern aus Tod und Verderben gesellt sich die alles andere als unter ferner Liefen geschlagene, legendäre Schlacht von Azincourt am 25. Oktober 1415: England gegen Frankreich, mit der die zweite Phase des bis 1453 andauernden 100jährigen Krieges begann. Unter flatterndem Banner und mit Gottes Segen: Heinrich V. Widerspenstiger Prinzensprössling und später König wider Willen – idealistisch, besonnen und klug, leider aber auch leicht beeinflussbar. Mit der Schlacht bei Azincourt schrieb der junge Mann aufgrund seiner taktischen Asse im Ärmel wie Langbögen und Kriegern in leichten Rüstungen schwarze Zahlen, denn mit dem Gemetzel im herbstlichen Schlamm, das bis heute als strategische Ausnahmeerscheinung zur Schlachtenanalyse gilt, hat sich England zumindest für kurze Zeit den Westen Europas unter den gerissen. Der Australier David Michöd (u. a. The Rover mit Robert Pattinson) hat für seinen Heinrich V. besetzungstechnisch die absolut richtige Wahl getroffen: Timothée Chalamet brilliert mit mediävalem Undercut und verbissenem Trotz als die puristische Version einer shakespeareschen Theatergestalt, frei von Versen und pathetischem Gehabe, was ihn aber nicht davon abhält, Gänsehaut erzeugende Schlachtenreden zu halten. An seiner Seite ein so bäriger wie bärtiger Joel Edgerton, nicht minder originär – und als Antagonist (zumindest aus der Sicht der Briten) der mittlerweile enorm wandelbare Robert Pattinson in wohl einer seiner besten Nebenrollen.

Da der Cast bis in ebensolche hinein eine charakterlich völlig autarke Dramatis Personae um sich geschart hat, bedarf es nur noch eines geharnischten Sprungs von den Schiffsplanken bis zu festgestampftem Boden packenden Geschichtskinos, die Michöd mit The King mehr als gelungen ist. Tatsächlich darf der Streamingriese Netflix stolz sein, mit diesem brandneuen Schlachtenepos endlich mal wieder den fahrig produzierten On-Demand-Einheitsbrei hinter sich gelassen und neben Alfonso Cuarons Roma die bislang beste Produktion in seinen Bauchladen aufgenommen zu haben. Dem fast zweieinhalb Stunden langen Film (dessen Laufzeit man ihm nicht anmerkt) gelingt es, die wuchtige, aufgewühlte, spannende Intensität historischer Meisterwerke wie Elizabeth von Shekhar Kapur mühelos zu erreichen. Und das, weil Michöd sich eigentlich nur auf eines konzentriert – auf die penible Rekonstruktion eines nachhaltigen Kräftemessens, mit dem Anspruch, so detailliert wie möglich auf all die Wägbar- und Unwägbarkeiten der beiden Parteien in dieser Konfrontation einzugehen. Michöd und Edgerton haben da ein ausgezeichnetes, zwischen Vorgeschichte und Höhepunkt perfekt abgestimmtes und ausgewogenes Drehbuch entworfen, dass seinen Charakteren genauso viel Luft lässt wie den Blut- und Boden-Fakten der epochalen Schlacht. Und selten zuvor, nicht mal in Game of Thrones, hat man jemals gesehen, wie sich von Kopf bis Fuß geharnischte Ritter wie hier auf der vom Regen morastigen Wiese bei Azincourt den Rest geben. Das ist ein Blechsalat, den muss man gesehen haben, das ist ein Kampf, der letzten Endes keine Gefangenen macht. Dabei lässt Michöd expliziter Gewalt kaum Spielraum, und wenn, dann nur, wenn unbedingt nötig. Der Film ist zwar brutal, weil mittelalterliche Schlachten eben brutal sind, doch gerät die Gewalt nicht zum Selbstzweck, sondern bleibt archaische Notwendigkeit, wenn es darum geht, dem frechen, überheblichen Dauphin Frankreichs wortwörtlich den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Wer eine Leidenschaft für Geschichte hat, wer das späte Mittelalter in seiner kühnen, kalten, bitteren Rauheit und seinem Kalkül aus Vergeltung, Bestrafung und Barmherzigkeit unter Freunden faszinierend genug findet, der sollte um The King keinen Bogen machen. Sondern lieber den Bogen spannen – um irgendwie dabei zu sein, in einem Gefecht, das mit urtümlichen, gemäldeartigen Bildern und erdigen, kargen Kontrasten in ein Damals lädt, wo Könige noch an vorderster Front waren. Und wir hintendrein.

The King

Der verlorene Sohn

SEELENGEISSELN MIT DEM BIBELGÜRTEL

6,5/1

 

BOY ERASED© 2018 Kyle Kaplan / Focus Features

 

ORIGINALTITEL: BOY ERASED

LAND: USA 2018

REGIE: JOEL EDGERTON

CAST: LUCAS HEDGES, NICOLE KIDMAN, RUSSEL CROWE, JOEL EDGERTON U. A.

 

Der liebe Gott will das alles gar nicht. Nicht diese Qual, nicht diese Verzweiflung. Menschen, die im mehrere Bundesstaaten umfassenden Biblebelt ihre Homosexualität entdecken, können sich glücklich schätzen, wenn es keiner merkt. Denn gleichgeschlechtliche Liebe, die ist im Südosten der USA etwas, das für all die anderen frommen Gläubigen nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Da muss die mittelalterliche Ahnung einer manipulativen Finsternis herhalten, die sich im Hexenwahn Europas und in der Manifestation des Teufels in den Dingen des Alltags schon Jahrhunderte zuvor austoben konnte, zum Leidwesen tausender unschuldiger Opfer. Erschreckend, dass sich diese Auslegung der heiligen Schrift im Pietismus der evangelikalen Kirche in zwar gesitteter, aber nicht weniger grausamen Form erhalten hat. Denn Homosexualität ist nichts, was den lieben Gott sauer aufstößt. Sondern Teil einer komplexen Biologie, die weder umgepolt, noch verdrängt, noch weggebetet werden kann.

Diese Erkenntnis hat der 19jährige Jared nach seinem Austreibungsseminar allerdings auch erlangt. Und noch etwas ist ihm klar geworden: Das die Reparativtherapie des bigotten (ebenfalls homosexuellen) Seminarleiters Victor Sykes nichts anderes als sektiererische Gehirnwäsche sein kann, in der Schwule und Lesben Sünden bekennen müssen, die sie bei Gott nicht getan haben. Schon wieder Gott, obwohl Vater unser in Joel Edgertons Film nur lediglich namentlich erwähnt wird – und sich ganz weit entfernt hat von Menschen, die die Weisheit mit dem letzten Abendmahl gegessen und keine Ahnung davon haben, wie das Wesen Mensch überhaupt funktioniert. Das sind auch die, die womöglich daran glauben, dass unsere Welt erst 6000 Jahre alt ist. So einem Schwachsinn sind junge Menschen wie Jared ausgeliefert. In Person des eigenen Vaters (schwerfällig: Russel Crowe), Victor Sykes und der Gesellschaft eines ahnungslos intoleranten Glaubens. Denn Glauben heißt doch nichts wissen. Und weiß man einmal mehr, ist man verdächtig. Jared, der fügt sich erstmal, macht gute Miene zum beschämenden Spiel. Und findet sich im Laufe des therapeutischen Programms in einem zermürbenden Umfeld aus Erniedrigung und den Abnötigungen absurder Geständnisse wieder. Und irgendwie, so erscheint es mir, gibt es Szenen in diesem auf wahren Begebenheiten beruhenden Drama, die mich an Stanley Kubricks Antikriegsfilm Full Metal Jacket erinnern. Auch in dieser seelenbrechenden Vorhölle haben Bestimmer jungen Menschen deren Identität geraubt – zwar nicht ihre sexuelle, aber sonst den ganzen Rest. Die Ideale, die nach diesem Flächenbrand zurückbleiben, sind jene, die zur erfolgreichen Vernichtung des anderen führen, und die bereits im Drill der Kadetten ihren Anfang nimmt. Da wie dort gibt es manche, die der psychischen Geißelung nicht standhalten können. Und bevor es zu spät ist, zieht Jared die Reißleine.

Joel Edgerton, der neben der Regie auch die Rolle des jovial-durchtriebenen Reparativtherapeuten übernommen hat, ist natürlich nicht ganz so gnadenlos perfide wie „Sergeant Hartmann“ R. Lee Ermey, aber jemand, dessen bekehrender Eifer Angst macht. Klar führt diese fragwürdige Indoktrinierung in einer Institution, die es nur gut für sich selbst meint, Erfolg maximal zur Leugnung von einem selbst. Das mitanzusehen, ist keine erquickende Bibelrunde zur Festigung der Gemeinde, und auch keine zwei Stunden entspannende Kinounterhaltung. Mit Der verlorene Sohn oder Boy Erased, wie der Film im Original heißt, arbeitet Edgerton Fakten auf, die Empörung fordern. Sein Film ist der erhellende Bildbericht eines Skandales, eine Reportage über verzweifelten Selbstverrat, über die Zensur der Freiheit, festgehalten in herbstlichen, fast ausgedörrten Bildern. Lucas Hedges, der mit Manchester by the Sea erstmals auf sich aufmerksam machte, bietet mit einer wieder mal famosen Nicole Kidman als hin und hergerissene, aber allen voran liebende Mutter überzeugende Schauspielkunst. In Rollen, die sicherlich nicht leicht zu interpretieren oder auszubalancieren sind. Die durchaus belasten können, wenn man beim Verstehen der filmischen Identität keine halben Sachen machen will.

Der verlorene Sohn bespricht ein Thema, das natürlich bereits vorhandenes, notwendiges Interesse voraussetzt. Das ungeschönte, allerdings aber auch hoch emotionale Drama ist ein sehr spezieller Film, der vor allem jenen, die sich ebenfalls die eigene sexuelle Orientierung verbieten, und zwar aus religiösen Gründen, etwas mitgeben können auf den Weg zu mehr Eigenakzeptanz und einem festeren Boden unter den Füßen.

Der verlorene Sohn

Gringo

DIE FIRMA DANKT!

6/10

 

GRINGO©2018 Tobis Film / Photo: Gunther Campine Courtesy of Amazon Studios

 

LAND: USA 2018

REGIE: NASH EDGERTON

CAST: DAVID OYELOWO, JOEL EDGERTON, CHARLIZE THERON, SHARLTO COPLEY, AMANDA SEYFRIED U. A.

 

Alles für die Firma, und natürlich auch alles für den besten Freund, der noch dazu der Vorgesetzte ist, was mal prinzipiell nie wirklich gute Vibrations erzeugt. Ist die Hierarchie mal festgelegt, haben persönliche Bande plötzlich nicht mehr so viel Zugkraft – oder finden ihren grenzenlosen Nutzen in der kollegialen Bereitschaft des Untergebenen. Der herzensgute Harold zum Beispiel hat keinen blassen Schimmer von den unerhörten Dingen, die da rund um ihn vorgehen, und die sowohl Privates wie Berufliches nicht mehr trennen wollen. Harold, das ist so eine unbeholfene Figur wie aus den desaströsen krimikomödiantischen Schieflagen aus der Feder der Coen-Brüder. Oder fast schon eine Art Jerry Lewis, während Dean Martin seinen devoten Grimassenschneider vorführt. Diesen sagenhaft blauäugigen Loser verkörpert überraschenderweise der ansonsten für ernste Mienen bekannte David Oyelowo, vorrangig in Erinnerung als Martin Luther King im Politdrama Selma. In Gringo allerdings entdeckt, liebt und herzt der Afroamerikaner seine komödiantische Seite, stets an der Schwelle zur Hysterie, herzzerreißend naiv und hyperaktiv wie nach ausgiebigem Koks-Konsum. Oyelowo weiß sich mit dieser Performance für den Casting-Entscheid überschwänglich zu bedanken. Als kleinkarierter, braver Workaholic, den die Umtriebe seiner Chefetage nach Mexiko führen, findet sich besagter Harold irgendwo zwischen Drogenkartell, selbstinszenierter Entführung und als ungewollt gerettetes Opfer wieder, das im Laufe des Filmes natürlich alles spitzkriegt, was im Land der unbegrenzten Drogen-Oligarchie und darüber hinaus im rechtsstaatlichen Amerika alles so abgeht. Sich händeringend zu wehren und dem falschen Freund das letzte Firmengeld aus der Tasche zu ziehen, das ist ein Prozess, der die launige Krimikomödie quer durch die ganze Laufzeit des Films auf Trab hält.

Stuntman Nash Edgerton, Bruder von Joel, der in Gringo die Rolle des schmierigen falschen Fünfziger übernimmt, hat für sein Langfilmdebüt ordnungsgemäß alle Hausaufgaben gemacht, auf Basis eines Drehbuchs, welches sich storymäßig trotz all seiner verwebten Handlungsfäden nicht in redundanten Nebensächlichkeiten verliert. Gringo ist ein schwarzhumoriger Thriller, nie wirklich ernstzunehmend, teilweise sogar überraschend, oft aber Vorbilder zitierend, die in der Chronik gerechtigkeitsliebender Krimischwänke bereits auf deutlich raffiniertere Art ihre grimmige Loserstory erzählt haben. Da kommt die Ballade vom Außendienstler in Mexiko nie wirklich aus dem Schatten heraus, unterhält aber dennoch und vor allem aufgrund der gut aufgelegten Darsteller, die mit David Oyelowo in diesem Live-Act-Cartoon um die Wette intrigieren. Charlize Theron als Business-Miststück par excellence zeigt wieder einmal ganz andere Seiten ihres Könnens, Joel Edgerton ist sowieso nur noch zum Abwatschen niederträchtig, und Sharlto Copley im Reinhold Messner-Look ist der fleischgewordene Wendehals für günstige Gelegenheiten. Alle gemeinsam sind ein pfiffiges Ensemble, nur inhaltliche Originalität, die lässt Gringo weitestgehend außen vor. Da helfen auch zeitweise überzogene Gewaltspitzen nichts, selbst der Wechsel zwischen Scherzlosigkeit und schadenfrohem Slapstick gibt dem ganzen Szenario nicht mehr Grip.

Am Ende des Filmabends lässt sich aber nicht wirklich großartig meckern, man fühlt sich unterhalten und an Genrefilme und -serien anderen Kalibers erinnert (ein bisschen The Mexican, ein bisschen Breaking Bad), während Edgerton´s schmissige Firmeninsolvenz als müßiges Fangenspiel zum Zeitvertreib wenigstens keinen schalen Geschmack hinterlässt, ganz so wie bei einem würzigen Joint, nach dessen Konsum man aber zumindest stoned wäre. Dieser Bewusstseinszustand bleibt aber in Gringo trotz heiß begehrter Hasch-Pillen unerreicht.

Gringo

RED SPARROW

DEN SPATZ IN DER HAND

5,5/10

 

redsparrow© 2018 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA 2018

REGIE: FRANCIS LAWRENCE

MIT JENNIFER LAWRENCE, JOEL EDGERTON, MATTHIAS SCHOENAERTS, JEREMY IRONS, CHARLOTTE RAMPLING U. A.

 

Wenn ich als feierabendlicher TV-Channelsurfer an den SWR denke, dann fällt mir erstmal unweigerlich der Südwestrundfunk ein. Dass mit diesem Kürzel aber auch der russische Auslandsnachrichtendienst gemeint ist, erschließt sich mir erst nach Sichtung des neuen Films von Panem-Macher Francis Lawrence. Red Sparrow heißt sein Agententhriller, und natürlich hat Namensvetterin Jennifer womöglich schon vor Vorlage des Drehbuchs zum Film ihre Rolle als fix in ihrer Agenda gehabt. Francis hätte aber auch Charlize Theron besetzen können – die hat aber bereits für Atomic Blonde zugesagt. Mit seiner ehemaligen Darstellerin der Katniss Everdeen ist Francis Lawrence aber sowieso auf der publikumswirksameren Seite. Lawrence zählt zu den bestverdienenden Stars und hat auch weit über ihr schauspielerisches Können hinaus im weltweiten Celebrity-Pool ihre Hände mit im Spiel. Red Sparrow wird also wohl vor allem wegen Jennifer Lawrence sein Geld einspielen, keine Frage. Noch dazu, wenn bei Erwartung einer im Vorfeld angekündigten ungezügelten Nabelschau Erinnerungen an Sharon Stone wach werden. Dass zumindest zeitweilig die Zugriffe auf die unwillkommenen Nacktfotos der jungen Dame weniger werden, kann auf taktisches Kalkül zurückzuführen sein.

In Red Sparrow, nach dem Roman des Ex-CIA-Agenten Jason Matthews, der sicher mit reichlich Erfahrungen aus der Branche authentisches Gebaren hinter den Kulissen illustriert, führt der SWR also so etwas Ähnliches wie ein Bootcamp für reizorientierte Kampfmätressen, genannt die Spatzenschule, unter der Fuchtel einer steingesichtigen Charlotte Rampling, die einen seltsamen Haufen junger Russinnen und Russen zur Schamlosigkeit erzieht. In dieses zweifelhafte Etablissement wird die Ex-Ballerina Dominika Egorova von ihrem zwielichtigen Onkel Wanja – da war wohl Matthews ein Liebhaber Anton Tschechows – gekarrt. Doch wenn ich Dominika Egorova wäre, würde ich, sofern ich die Wahl hätte, absichtlich aus der Schule fliegen wollen. So elitär und effektiv, wie angekündigt, ist diese knochentrockene Erziehungseinrichtung, die irgendwie an das Internat Romy Schneiders aus Mädchen in Uniform erinnert, längst nicht. Zumindest gelingt es Francis Lawrence kaum, die angebliche Relevanz der Vorgeschichte unseres roten Spatzen zu rechtfertigen. Die sogenannten Geheimnisse der Verführung und Manipulation, die dort weit jenseits des Kamasutras beigebracht werden, scheinen auch als Online-Tutorial auf Youporn seinen Zweck erfüllen zu können. Und die Erkenntnis von Jennifer Lawrence, dass sexuelle Nötigung meist mit Machtgehabe zu tun hat – das ist jetzt nicht so die Aha-Erkenntnis, die sie wohl meint erlangt zu haben.

Hat man die zumindest in der Synchronisation im unfreiwillig komischen, russischen Dauerakzent sprechende Meisterin aller Klassen in die freie Wildbahn der Agenten und Spione entlassen, beginnt das Spiel um Information, Täuschung und Taktik überhaupt erst interessant zu werden. Da ist aber schon rund die Hälfte des Filmes um. Sei´s drum, das war bei Atomic Blonde auch so. Da hat das Genre des Agentenfilms generell das Problem, die Gesamtsituation für das Publikum in viel zu langen Erklärungen überhaupt erst erfassbar werden zu lassen. Bei Atomic Blonde und Red Sparrow zeigt das Drehbuch zur ersten Halbzeit deutliche Schwächen – leicht zu dramatisieren ist so eine Romanvorlage sicher nicht. Hut ab, wenn es zumindest halbwegs gelingt. Dann aber wird das Gefühl, schon viel zu viel Zeit in Red Sparrow investiert zu haben, deutlich schwächer. Jennifer „Dominika“ Lawrence, die trotz ihres barbusigen, aber dennoch verhaltenen Teasings wie kaum eine andere junge Filmdiva so sehr ihre Keuschheit an die vorderste Front schickt, hat in Joel Edgerton zumindest einen Filmpartner gefunden, der seine Reize zum Glück nicht vortäuschen muss. Der stets verkniffen dreinblickende, gestandene Charaktermime hat schon Charisma, während Matthias Schoenaerts wie der jüngere Bruder von Vladimir Putin Todesdrohungen wie Tombolapreise verhökert.

Man bemerkt mitleidig, dass der rote Spatz immer noch gerne Ballerina hätte sein wollen. Von Professionalität keine Spur, vielmehr fallen die scheinbar unerwarteten Umstände in der Agentin aufreizenden Schoß. Improvisation ist wohl mehr ihr Ding  – oder ist alles nur Fassade? Spätestens jetzt sollte ich damit das Interesse meiner Leser wecken, denn je näher wir zum Ende kommen, umso mehr schlägt der Thriller seine notwendigen Kaninchenhaken, um als durchaus spannender Geheimtrip – nicht Tipp – zwischen Moskau, Budapest und Wien in Erinnerung zu bleiben. Und der Wiener Michaelaplatz könnte zumindest für Fans, die sich getrost wieder JLa´s Nacktfotos widmen, eine völlig neue Bedeutung erlangen.

RED SPARROW