The End (2024)

BLEIBT DEN MENSCHEN NOCH DAS SINGEN

4,5/10


© 2025 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: DÄNEMARK, DEUTSCHLAND, IRLAND, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2024

REGIE: JOSHUA OPPENHEIMER

DREHBUCH: JOSHUA OPPENHEIMER, RASMUS HEISTERBERG

CAST: TILD SWINTON, MICHAEL SHANNON, GEORGE MACKAY, MOSES INGRAM, BRONAGH GALLAGHER, TIM MCINNERNY, LENNIE JAMES, DANIELLE RYAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 28 MIN


Die Zeit nach dem Untergang muss nicht immer zum Spannendsten gehören, was die Welt je erlebt hat. Muss diese denn sterben, um was zu erleben? Mitnichten. In Film und Fernsehen hat die Apokalypse stets einen Nachhänger: die Postapokalypse, das elende Nichts danach, in welchem das letzte Häufchen an Menschen im übertragenen Sinn das Feuer neu entdeckt. Hinzu kommen meist Horden von Zombies oder andersgeartete Monster. Oder es passiert gar nichts, es ist einfach nur öde, und die Überlebenden haben sich längst unter die Erdoberfläche zurückgezogen, denn von dort ist nichts mehr zu holen. In Fallout oder Silo zum Beispiel, beides angesagte Science-Fiction-Serien, ist das kolportierte Ende der Welt nur politisches Druckmittel eines diffusen Machtapparats. Selbst im nun schon in die Jahre gekommenen Klassiker Flucht ins 23. Jahrhundert hat sich jenseits des kuppelförmigen Jungbrunnens längst eine neue, fruchtbare Wildnis etabliert. In Joshua Oppenheimers Alltag nach dem verheerenden Tag X denkt keiner daran, wiedermal einen Blick an die Oberfläche zu wagen. Kann ja sein, dass es sich im Licht einer immer noch strahlenden Sonne besser leben lässt als in einem Kalksteinbunker, in welchem der Feinstaub garantiert irgendwann eine kaputte Lunge garantiert, und zwar bei allen Beteiligten.

Diese Beteiligten sind die Gruppe aus einer dreiköpfigen Familie und liebgewonnenen Freunden, wie auch immer haben sich diese ein schmuckes Zuhause gestaltet, alles schön klassizistisch vertäfelt, überall hängen museumsreife Gemälde von Renoir oder Degas, es ist schließlich nicht so, als hätten die Damen und Herren hier unten von null auf eine neue Existenz errichtet. Sie müssten also schon weit vorher gewusst haben, dass alles zu Ende gehen wird. Und nun ist es da, und es gibt keine Zombies und keine toxische Atmosphäre, keine marodierenden Anarchisten, Sekten, invasive Alienrassen oder die Herrschaft künstlicher Intelligenzen. Oppenheimer lässt uns im Unklaren darüber, was wirklich geschehen sein mag. Wichtig ist nur, die Nachwelt als die Illusion einer trauten Gemeinschaft zu erhalten. Und die gestaltet sich ziemlich ereignislos. Ja, das Ende kann zum quälenden Müßiggang werden, in dem man seinen Hobbies frönt oder vor lauter Langeweile plötzlich anfängt, zu singen. Im Prinzip mal keine schlechte Alternative, Musik vertreibt dunkle Gedanken, macht glücklich, schüttet genug Endorphine aus, um zuversichtlich ins Morgen zu blicken. The End wird damit zum zaghaften Musical inmitten einer Art lieben Familie, die gemeinsam zu Tisch sitzt oder am Diorama eines intakten Amerikas herumschraubt.

Und plötzlich ist sie da, die junge Frau, die es geschafft hat, von außen in die heile Welt von Tilda Swinton, Michael Shannon und George McKay einzudringen. Viel Nachricht von jenseits des Bunkers scheint sie nicht zu bringen, doch klar wird, dass die Welt da oben nicht vergiftet ist. Moses Ingram (die Inquisitorin Reva aus der Star Wars Serie Obi-Wan Kenobi) mischt dann folglich auch noch mit, wenn es heisst, wiedermal einen Song zum Besten zu geben, der nur bedingt melodisch scheint. Ingram hat aber die weitaus beste Stimmlage, und wenn sie mal das Rampenlicht okkupiert, klingt das wohl in den Ohren – nicht so bei Tilda Swinton. Doch Swinton hat andere Stärken. Sie alle eint, dass sie verdrängt haben, was vor dem Ende alles passiert war – welche Tragik, welche Fehler, welche Widersprüche. Um mit sich selbst ins Reine zu kommen, dafür braucht es aber keinen Film, der weit mehr als zwei Stunden dauert. Oppenheimer wagt hier keinerlei Ausbrüche, er weigert sich, die Lage zu einer prekären werden zu lassen. Es wird geredet, erkannt, reflektiert, dann wieder gesungen, alles in der kulissenhaften Monotonie eines Endzeit-Downton Abbey, jenseits der Tore ins Eigenheim ausgehöhlte Tunnel, allerhand Staub. Und keine Lust darauf, die Dinge zu ändern. Nicht mal George McKay, längst flügge, wagt seine eigene Zukunft, obwohl die Chance dafür zum Greifen nahe liegt. Handlung, wo gehst du hin, könnte man fragen. Leider nirgendwo.

Da sich alle im Kreise drehen und Oppenheimer sein schleppendes Kammerspiel weitgehend sich selbst überlässt, ohne den Schicksalsgott zu spielen oder den verordneten Selbstbetrug in einem Aufschrei aufzudröseln, mag The End manche aus dem Publikum in den Schlaf singen. Selten war die Postapokalypse so fade.

The End (2024)

A Different Man (2024)

SCHÖNHEIT MUSS LEIDEN

8/10


a-different-man© 2024 Universal Pictures International


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: AARON SCHIMBERG

CAST: SEBASTIAN STAN, RENATE REINSVE, ADAM PEARSON, C. MASON WELLS, OWEN KLINE, CHARLIE KORSMO, PATRICK WANG, MICHAEL SHANNON U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Den Kerl kenn ich. Es ist Adam Pearson, so ein Gesicht vergisst man nicht. Denn er war es, den Alien Scarlett Johansson in Under the Skin so bewundernswert anders fand. Pearson kann nun ein weiteres Mal brillieren, und nein, er muss sich nicht hinter einem Laken mit Löchern verstecken wie es seinerzeit William Hurt in David Lynchs Elefantenmensch tun musste. Als John Merrick, der vermutlich an einer ähnlichen deformierenden Krankheit litt wie Adam Pearson, musste dieser im England des späten 19ten Jahrhunderts als Freak in Schaubuden für großen Reibach sorgen. Unwürdige, inhumane Methoden waren das damals – Tod Browning hatte schon seinerzeit in seinem Klassiker Freaks all diesen Menschen ihr Wertebewusstsein zurückgegeben und sie Rache nehmen lassen. Merrick selbst gelingt in diesem düsteren Meisterwerk in Schwarzweiß dieses Kunststück eben nicht. Sein Wunsch, so behandelt zu werden wie ein normaler Mensch, geht erst in Erfüllung, als er stirbt.

So traurig wie Lynchs Film ist A Different Man bei weitem nicht. Das einzige, was man empfinden könnte, wäre Mitleid für Sebastian Stan. Aber nicht, weil er zu Beginn des Films hinter jener Gesichtsdeformation verschwindet, mit welcher Adam Pearson zu leben gelernt hat. Sondern, weil er zum schönen Prinzen mutiert. Das Wort Mutation ist auch hier mehr als nur angebracht. Denn die Frage, die Aaron Schimberg in seinem Film wohl am lautesten stellt, ist: Wer bestimmt denn dieses Ideal von Schönheit? Und leben wir wirklich noch in einem Zeitalter, in welchem Inklusion und Akzeptanz etwas ist, das wir unbedingt in unseren Social Media-Status festmachen müssen, weil es so etwas Besonderes ist?

A Different Man ist dahingehend Social Fiction. Die Darstellung einer progressiven, humanistischen Akzeptanzgesellschaft, in der einzig Sebastian Stan als lebendes, reaktionäres Fossil daherkommt, der, womöglich aufgewachsen mit diversen unzeitgemäßen Märchenstunden, immer noch dem Glauben anhängt, kein Lebensglück zu finden, wenn man äußerlich nicht der Norm entspricht. Und wieder die Frage: Was ist Norm? Was ist normal? Schließt diese Bezeichnung nicht schon von vornherein einen großen Teil der Gesellschaft aus, der anders ist oder anders sein will? Dieser Begriff ist antiquiert, und Schimberg bringt diese unreflektierte Rückschrittlichkeit anhand eines mit leisem Humor hochintelligent konstruierten Gleichnisses auf den Punkt.

Sebastian Stan ist, wie bereits erwähnt, zu Beginn noch der „entstellte“ Schauspieler Edward, unglücklich mit seinem Aussehen, sich selbst und überhaupt allem. In seiner Wohnung tropft es vom Plafond, der Schimmelfleck wird immer größer und spiegelt die Seele des Ausgestoßenen, der eigentlich gar keiner sein muss, denn nebenan wohnt Ingrid (Renate Reinsve, Der schlimmste Mensch der Welt), die sich sehr schnell an Edwards Aussehen gewöhnt und es bald schon so faszinierend findet, um immer wieder bei ihm aufzuschlagen, um mit ihm abzuhängen. Was würde Edward nicht alles geben, um ansehnlich zu sein. Also unterzieht er sich einem wissenschaftlichen Experiment, welches dazu führt, dass er seine Deformation im wahrsten Sinne des Wortes abwirft, um als Sebastian Stan hervorzugehen. Ein neues Leben muss her, sein altes erklärt er für tot. Nun kann er alles haben, wonach ihm jemals gelüstet hat: Frauen, Karriere, eine teure Wohnung mit Aussicht. Was plötzlich aber fehlt, ist menschliche Nähe. Währenddessen hat Ingrid längst ein Theaterstück geschrieben, um das Leben Edwards Revue passieren zu lassen. Dafür castet sie Menschen mit Gesichtsdeformationen. Was nun kommt, ist so kurios wie erhellend: Edward, nunmehr Guy, will sich bewerben – und legt sich dafür eine Maske zu.

Schimbergs Skript ist genial – und niemals auch nur ansatzweise gierend nach Bodyhorror-Erlebnissen, obwohl die Phase der Verschönerung Edwards durchaus auch etwas für David Cronenberg gewesen wäre. Doch anders als in Die Fliege stellt Schimberg das „Beauty and the Beast“-Konzept auf den Kopf. In Ansätzen haben dies bereits die Gebrüder Farrelly probiert: Schwer verliebt mit Gwyneth Paltrow und Jack Black aus dem Jahr 2002 hinterfragt den Begriff der Schönheit ebenfalls – nur mit derbem Witz und einer Lust am Bizarren. A Different Man bleibt elegant und geschmackvoll, behält sich stets einen leisen Sarkasmus und eine Schadenfreude im Hinblick auf Sebastian Stans fortschreitenden inneren Verfall. Adam Pearson als sein Counterpart lebt das Leben wie der glücklichste Mensch auf Erden, sein Äußeres ist nie ein Thema, und wenn doch, dann ist es zumindest kein Tabu. Die Darstellung dieser Akzeptanz zeigt das Ideal einer aufgeschlossenen Gesellschaft, wie sie natürlich zu wünschen wäre, wie es sie allerdings leider noch nicht gibt. Um diesen Konflikt zwischen den Begriffen Norm, Ideal und Individualität darzustellen, braucht es aber diese Plakativität, die dem Film erst die Schärfe einer Satire verleiht, die in ihrer unkonventionellen Exzentrik auf so verblüffende Weise eine neue Sichtweise präsentiert, die wir uns alle schon mal so überlegt, aber noch nie zu Ende gedacht haben. Wenn Kino so anders sein darf wie dieser Film hier, dann wäre das als neue Norm mehr als wünschenswert.

A Different Man (2024)

The Bikeriders (2024)

DES MANNES LETZTE FREIHEIT

6/10


bikeriders©  2024 Universal Pictures

LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: JEFF NICHOLS

CAST: JODIE COMER, AUSTIN BUTLER, TOM HARDY, MICHAEL SHANNON, MIKE FAIST, BOYD HOLBROOK, DAMON HERRIMAN, BEAU KNAPP, EMORY COHEN, TOBY WALLACE, NORMAN REEDUS U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


„Ich beschließ‘ ich kauf mir wie der Marlin Brando a klasse Maschin…“ – dass ein Film wie Der Wilde seinerzeit die Freiheitsträume ohnehin im Patriarchat befindlicher Männer so sehr triggern hat können – dieses Phänomen wurde selbst vom österreichischen Satiriker Helmut Qualtinger aufs Korn genommen, mit dem Song Der Halbwilde, aus dessen Lyrics obige Zeile stammt.

Nun hat es auch Tom Hardy erwischt. Wir sehen ihn im Film The Bikeriders, wie er entgeistert auf den kleinen hauseigenen Fernseher starrt und Marlon Brando dabei zusieht, wie er in ebenjenem Film neue Begehrlichkeiten weckt. Jene nach einer Lederjacke, nach einer neuen wilden Identität, nach zweirädrigen Boliden und der Missachtung so gut wie aller sozialer Regeln, die für ein Miteinander essenziell sind. Diesem stiernackigen, kernigen, unrasierten Mann namens Johnny folgen alsbald immer mehr und mehr solcher Männer, die, meist als Außenseiter der Gesellschaft, nirgendwo dazugehören dürfen; die in der frühen Midlife-Crisis stecken oder die Wucht ihrer – überspitzt gesagt – maskulinen Identität innerhalb eines geordneten Lebens samt Familie nicht mehr standhalten können. Einer dieser aus der Gesellschaft Verstoßenen ist Benny, gespielt vom zurzeit allseits beliebten Newcomer Austin Butler, der bereits Superstar Elvis Presley Charakter verliehen hat. Die 60er-Jahre Frisur steht ihm prächtig, sein einstudierter verlorener Blick ebenso. Benny hat nirgendwo sozialen Halt, also ist es der Verein der Vandals Chicago, und ganz besonders sein väterlicher Freund Johnny, von dessen Seite er nicht abrückt – bis Kathy (Jodie Comer, The Last Duel) in sein Leben tritt. Mit ihr schließt er gar den Bund der Ehe, bleibt aber dennoch ein schwer zu fassender Charakter. Die Gang der Biker hingegen erfährt im Laufe der Jahre eine Umwälzung und Veränderung nach der anderen. Ganz plötzlich gibt es Ableger, dann wieder andere, die dem Boss der Runde seinen Platz streitig machen wollen. Dann gibt es Neider und die Lust an kriminellen Handlungen, die das Image einer gelebten Anarchie, die mit Bikergangs eben assoziiert wird, bis heute prägen.

Dennis Hoppers Easy Rider hat die Hoffnung auf eine ungestüme Freiheit auf zwei Rädern wohl letztlich ausgeräumt und ausgeträumt. Jeff Nichols hat sich dabei an einem Fotobuch des Journalisten Danny Lyon orientiert und daraus die Chronik von Aufstieg und Fall einer ganzen Subkultur in graubraunen Bildern auf die Straßen des Mittleren Westens gesetzt. Schnell stellt man fest, dass dieses Bild der männlichen Freiheit und der maskulinen Selbstbestimmung nicht mehr sein kann als die Zwangsbeglückung vollkommen Unglücklicher, die überraschend wenig Spaß daran haben, an ihren fahrbaren Untersätzen herumzuschrauben und diese, wäre es denn möglich, gegen Pferde eintauschen würden, gäbe es den Wilden Westen noch. Tom Hardy, Butler und das ganze illustre Ensemble skizzieren die Portraits sehnsüchtig Suchender, die außerhalb dieses Mikrokosmos aus wenigen Regeln und der Lust am Heroismus wohl nirgendwo zur Ruhe kommen würden. Nichols erzählt die Geschichte aber aus dem Blickwinkel von Jodie Comers Figur, die einem fiktiven Reporter das ganze Drama schildert. Dabei braucht es einige Zeit, bis man sich an diesen pragmatischen Charakter gewöhnt. Die zähe Dominanz dieser Figur ist nämlich nicht, was man erwartet hätte.        

The Bikeriders ist zeitgeistiges Genrekino mit vielen leeren Kilometern. So orientierungslos wie seine Protagonisten ist bisweilen auch Nichols Film. Wild wechselt dieser zwischen den Zeitebenen, zu viele Charaktere ähneln sich zu stark, um die Vielfalt einer Gesellschaft abzubilden, die keine wirklichen Identitäten besitzt, sondern nur das Bewusstsein einer Community, die schnell zerbrechen kann. Außen wuchtig, innen geradezu hohl. Comers Figur weiß das. Und am Ehesten entwickelt Austin Butler so etwas wie eine Biografie, die den Ausbruch aus einem Teufelskreis depressiver Leere beschreibt.

The Bikeriders (2024)

The Flash (2023)

DEM SCHICKSAL DAVONLAUFEN

7/10


theflash© 2023 Warner Bros. Ent. All Rights Reserved.  TM & © DC 


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: ANDY MUSCHIETTI

DREHBUCH: CHRISTINA HODSON

CAST: EZRA MILLER, MICHAEL KEATON, SASHA CALLE, BEN AFFLECK, MICHAEL SHANNON, RON LIVINGSTON, MARIBEL VERDÚ, KIERSEY CLEMONS, JEREMY IRONS, ANTJE TRAUE, GAL GADOT U. A.

LÄNGE: 2 STD 24 MIN


Es ist selten empfehlenswert, seinen eigenen Problemen davonzulaufen. Immer weiter weg. Barry Allen tut das. Er läuft weg vom Schicksal seiner Familie, von der Tragödie eines Todesfalls, der so leicht hätte verhindert werden können, hätte Mum im Supermarkt nur nichts vergessen. In Wahrheit aber will Barry durch sein Davonlaufen die Vergangenheit wieder einholen, fast so, als würde man so schnell vor jemandem herlaufen, dass man, einmal die Erde umrundet, ihm letzten Endes nachläuft. Genauso – oder ungefähr so – funktioniert das. Und The Flash wird zum Herrn der Zeit, ohne dafür jemals irgendwelche Workshops dafür besucht zu haben, denn man weiß ja seit Marty McFly, wie heikel es ist, damit herumzuspielen. Die Manipulation am Zeitstrahl löscht entweder alles aus, verändert ihn – oder ein ganz neuer entsteht, inklusive frisch gezapfter  Vergangenheit.

Das DC-Multiversum wäre somit geboren, und Barry Allen fungiert als dessen Hebamme. Wie es der Zufall will, trifft Allen nicht nur auf glückliche Eltern, sondern auch auf sein Alter Ego ohne Kräfte. Ein völlig durch den Wind befindlicher Taugenichts, der sich von den Eltern aushalten lässt, aber selbst nichts auf die Reihe bekommt. Es wird schwierig werden, all das Leben wieder in den Normalzustand zu versetzen, denn in dieser neuen Welt gibt es keine Metawesen, die dem plötzlichen Auftauchen von Kryptonier Zod etwas entgegenhalten könnten. Wir wissen: Zod, gespielt von Michael Shannon (und diesmal eher farblos, wenn man Man of Steel nicht kennt) wollte schon anno 2013 die Erde unter Zac Snyders Regie niederbügeln – und nebenbei des Superman habhaft werden. Nun aber ist alles anders. Und zum Glück finden wir uns an jenem Tag ein, an welchem Allen seine Speed Force bekommen soll. Einer von beiden muss dann also schließlich The Flash werden. Wer, wird sich zeigen. Und Batman? Lustigerweise gibt‘s den. Doch der ist nicht Ben Affleck. Schließlich ist es jener aus den Filmen von Tim Burton, mit selbem Outfit und selbem Batmobil. Nur etwas älter.

Andy Muschietti, der Stephen Kings Es neues Leben eingehaucht hat, gilt nun als neue Hoffnung am DC-Firmament. Alle sind so richtig begeistert, was dieser aus Flash – sowieso das Sorgenkind, das jahrzehntelang auf seine Origin-Story hat warten müssen – gemacht hat. Obwohl: Ezra Miller, ebenfalls ein Sorgenkind, war schon längst etabliert. Nur die Story musste noch knackig genug werden – und mit dem roten Faden des Marvel-Multiversums mithalten. Denn Zeitreisen und andere Dimensionen sind immer noch der Trend, die kausalen Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung immer noch ein grenzenloses Labor, in welchem sich herumexperimentieren lässt, als gäb‘s kein Morgen mehr. Manchmal ist das auch tatsächlich so, und das Morgen lässt sich nur durch kluge Manipulation des Vergangenen oder der Zukunft garantieren. Auch The Flash rennt, schwitzt und flitzt nun weltenrettend diverse Zeitlinien entlang, die sich als alternative Dimensionen manifestieren. Das ist weniger krass als in Spider-Man: Across the Spider-Verse, aber man ahnt nicht, was eine Dose Tomaten eigentlich alles anrichten kann. Aufbauend auf diesem Schmetterlingseffekt lässt man sich gerne davon überzeugen, dass das scheinbar längst etwas erschöpfte Prinzip der Multiversen in gefühlt allen Comicverfilmungen immer noch einige Blickwinkel in petto hat, aus welchen die Sicht auf das Raum-Zeit-Dilemma nochmal neue Impulse erhält. Bei The Flash gelingt das. Michael Keaton weiß, wie er einfach, aber verständlich, hierzu den Erklärbären gibt, während Ezra Miller im Doppelpack mit sich selbst hadert – und dabei den Film zum Schauspielkino werden lässt, mit ganz besonderen Performancenleistungen. Miller mag im Privaten so einiges ausgefressen haben – als Schauspieler ist er ein Profi. Einer, der nuancieren kann, mit expressivem Ausdruck und kraftvoller Spielfreude. Und auch Michael Keaton, grundsympathisch wie eh und je, feiert den nostalgischen Rückblick auf sein Karrierehoch aus den Achtzigern. Im Team sind die zwei unschlagbar, da mag Supergirl (Sasha Calle) etwas an Kraft verlieren und noch nicht wirklich ihre Bestimmung finden.

Das Publikum aber ist sofort mit dabei. Zumindest mir erging es so. Lose auf dem Comic Flashpoint basierend, gelingt Muschietti ein höchst geschmeidiges, kurzweiliges Abenteuer mit der richtigen Portion an Situationskomik, ohne selten überzogen zu wirken, wenn man von der Krankenhaus-Szene mal absieht. Doch die passt wiederum gut zu James Gunns Stil. So gesehen ist The Flash ein Hybrid zwischen Snyder-Verse und dem rotzfrechen Wahnsinn einer Suicide Squad oder des Peacemaker, alle im selben Universum.

So richtig outstanding ist das Soloabenteuer des blitzschnellen Gutmenschen allerdings nicht. Vielleicht sind es zu viele Kompromisse und manchmal more of the same, doch im Grunde ist The Flash wie aus einem Guss. Ein Sprint ohne Pause, mit ganz vielen Cameos und Referenzen auf die Film- und Fernsehgeschichte des DC-Universe. Es ist das Ziehen einer Bilanz; ein Erkennen, wo man gerade steht, um danach weiterzulaufen. Hoffentlich in die richtige Richtung.

The Flash (2023)

Amsterdam

DREI MUSKETIERE GEGEN DEN FASCHISMUS

7/10


AMSTERDAM© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: DAVID O. RUSSELL

CAST: CHRISTIAN BALE, JOHN DAVID WASHINGTON, MARGOT ROBBIE, ZOE SALDANA, RAMI MALEK, ANYA TAYLOR-JOY, MICHAEL SHANNON, MIKE MYERS, CHRIS ROCK, ROBERT DE NIRO, MATTHIAS SCHOENAERTS, ANDREA RISEBOROUGH, TAYLOR SWIFT, TIMOTHY OLYPHANT, ALESSANDRO NIVOLA U. A.

LÄNGE: 2 STD 14 MIN


Angekündigt war David O. Russells stargespickter Historienfilm bereits diesen Spätsommer in unseren Wiener Kinos. Angesichts der Fülle an bekannten Gesichtern wäre Amsterdam sowieso ein Must-See gewesen. Schon allein Christian Bale als ausgemergelter Veteran des ersten Weltkriegs mit Glasauge hätte ein Kinoticket wert sein sollen. Und dann versprach der knappe Einblick sogar noch Margot Robbie und den für mich einzig wahren James Bond-Nachfolger, nämlich John David Washington. Michael Shannon hätte sich die Ehre gegeben, Anya Taylor-Joy, Zoe Saldana und der wie immer hinter seinem Make Up verborgene Mike Myers. Nicht zu vergessen: Altstar Robert de Niro, diesmal nicht als Dirty Grandpa. Kurzum: Amerikas Stars in einer uramerikanischen Nachkriegssatire rund um eine politische Verschwörung, die in Ansätzen tatsächlich so stattgefunden haben soll. Man möchte sich kaum vorstellen, hätten diese Revoluzzer es geschafft, nach dem Vorbild Nazi-Deutschlands und des faschistoiden Italiens unter Mussolini eine ähnlich radikale Diktatur zu errichten. Doch die Geschichte hat uns gelehrt: So kam es nicht. Genauso wenig wie die Auswertung des epischen, prall ausgestatteten Schinkens für die Leinwand.

Grottenschlecht sollen die Kritiken für Amsterdam vorab gewesen sein. Niemand jenseits des Atlantiks hätte sich daraufhin für den Film interessiert. Da hatten sogar all die bekannten Gesichter den Karren keinen Zoll weit aus dem Schlamm hieven können. Amsterdam wurde zum teuren Murks – und verschwand auf Nimmerwiedersehen von den Programmagenden der europäischen Kinos. Einige Monate später dann das: Russels Streifen erscheint als Streaming-Perle auf Disney+. Für all jene, die sich gerne selbst ein Bild von einem Film machen wollen, der keine Chance aufs Überleben hat und womöglich bei den diesjährigen goldenen Himbeeren abstauben wird müssen, allein schon aufgrund des von der Publicity gesteuerten, wenig schmeichelnden Richtungsdrangs. Die eigene Meinung, die hätte ich mir so oder so bilden wollen. Natürlich auch im Kino. Jetzt eben in den eigenen vier Wänden, mit Ausblick auf ein braun getünchtes Babylon New York der Dreißigerjahre, voller Untergrund, Intrigen und Bündnisse, deren Reichweiten aufgrund bedachter Vernetzung bis in alle Kreise langt. Dabei passiert es, dass der eine oder die andere, die im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder nachkriegerischer Verschwörungen gerät, wiederum andere, die in ihrer Moral und sozialer Verantwortung dank ihres Korsetts noch aufrecht stehen können, hellhörig werden lässt. Einer dieser Veteranen ist Burt Berendsen, ein knorriger Arzt mit Glasauge und besagter Leibesstütze, der gemeinsam mit seinem Buddy aus dem Krieg, Advokat Harold Woodman, Versehrten sowohl rechtlich als auch medizinisch unter die Arme greift. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss: Einer dieser Fälle, die Obduktion eines plötzlich verstorbenen Armeegenerals Bill Meekins, wird zutage bringen, dass es sich hierbei um Giftmord gehandelt hat. Als die Tochter des Verblichenen kurz davorsteht, die Sache öffentlich zu machen, stirbt auch sie. Berendsen und Woodman sind von da an auf der Flucht, wird doch ihnen die Straftat in die Schuhe geschoben. Und während sie so durch die dunklen Gassen einer vergangenen Großstadt koffern, versuchen sie gleichermaßen, sich zu rehabilitieren. Dabei kommt ihnen das Auftauchen jener Vertrauten und Freundin gelegen, die sich damals, mit den beiden, in Amsterdam Marke Drei Musketiere auf eine lebenslange Zweckgemeinschaft eingeschworen hat.

Amsterdam ist ein Film, der diesen feisten Abwärtsdaumen nicht verdient hat und maßlos unterschätzt wird. Vielleicht deshalb, weil er seine Story relativ langsam erzählt und seinen Schwerpunkt weniger auf das Aufdecken der faschistoiden Machenschaften legt, sondern vielmehr auf die besondere Freundschaft dreier grundverschiedener Lebenskünstler, die mit Rückblenden aus dem Ersten Weltkrieg auf die Entstehung selbiger eingeht. Die kleinen, feinen Szenen, geschmackvoll ausgestattet und getextet, ufern nie in pathetische Dramatik aus. Es werden selten Leute auf offener Straße erschossen, wie in Sergio Leones Es war einmal in Amerika. Es geht nicht um Rache und Eifersucht und Missgunst, die sich in emotionalen Showdowns entlädt. Amsterdam hat das alles gar nicht. Das originell konzipierte Werk bleibt augenzwinkernd, jovial und ironisch. Und genießt dabei die Performance von Christian Bale in jeder Einstellung, der den hilfsbereiten, selbstlosen und gutmütigen Kriegsheimkehrer mit einnehmender Sympathie verkörpert. Diese Figur hat Tiefe, Licht und Schatten gleichermaßen. Ist so greifbar wie das Absonderliche eines eigenen, verschrobenen Onkels, der aber trotz seines Auftretens scharfsinnig wie kaum ein anderer bleibt. Fast schon wie die Gestalt eines gewitzten Inspektor Columbo, der für Bales Figur ein Bruder im Geiste des Glasauges bleibt. Dabei bieten Washington und Margot eine nicht weniger formidable Rückendeckung.

Amsterdam atmet die Aufbruchsstimmung und die Umbruchsstimmung des frühen 20. Jahrhunderts, wie die Sky-Hitserie Babylon Berlin. Ein neuer Krieg war da kaum noch denkbar, fast unmöglich. In dieser Erschöpfung findet Amsterdam auch seine entspannte, allerdings dialoglastige Kraft, und es mag fast sein, dass dieses an ein posthum entdecktes Werk Billy Wilders erinnernde Schaulaufen den Film über seine Erzählstränge stolpern lässt. Trotz der Wortgewalt und der scheinbar vielen, gedehnten Szenen gelingt O. Russell, die Übersicht zu bewahren. Ist man mal mittendrin, in dieser Amsterdam-Verschwörung, bleibt man gerne dran – bis zum mit Spannung erwarteten Finale, das einen Staatenbund vor dem Sturz in den Abgrund bewahren wird. Andernorts hat man, wie wir längst wissen, weniger Glück gehabt.

Amsterdam

Bullet Train

DAS KARMA BRICHT SICH BAHN

7/10


bullettrain© 2022 Sony Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: DAVID LEITCH

CAST: BRAD PITT, JOEY KING, BRIAN TYREE HENRY, AARON TAYLOR-JOHNSON, ANDREW KOJI, HIROYUKI SANADA, SANDRA BULLOCK, MICHAEL SHANNON, LOGAN LERMAN, BAD BUNNY, ZAZIE BEETZ, CHANNING TATUM U. A. 

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Bevor sie ans kriminelle Handwerk gehen, unterhalten sich Zwei über Obst, und das im Shinkansen, dem schnellsten Zug Japans, auf dem Weg von Tokyo nach Kyoto. Klingt ein bisschen nach einer Forstsetzung von Pulp Fiction. Diesmal plaudern Travolta und Samuel L. Jackson nicht über Franchise-Burger, sondern über deren Decknamen Lemon und Tangerine. Doch falsch gedacht, die beiden sind es nicht. Es sind Aaron Taylor-Johnson (Wanda Maximoffs Bruder Quicksilver) und Bryan Tyree Henry (u. a. Eternals), zwei Brüder nicht nur im Geiste, denn die beiden verbindet Mord und Totschlag. Es sind Killer, die den Sohn eines gefürchteten Gangsterbosses namens Der weiße Tod von A nach B bringen sollen, gemeinsam mit einem Koffer voller Geld. Diesen Koffer wollen andere aber auch haben. Wie zum Beispiel Pechvogel Ladybug, dargestellt von Brad Pitt, der endlich wieder mal den verpeilten Sonderling geben darf, den er einfach so gut kann. Oder die arglos scheinende junge Dame namens Ms. Prinz (Joey King, The Princess), die andere dazu nötigt, ihren perfiden Plan auszuführen, der den gemeinsamen Nenner geben soll für all die hinterlistigen Schachzüge, die da in einer Nacht im Bullet Train in die Tat umgesetzt werden wollen. Dass sich dabei alle gegenseitig im Weg stehen, ist wohl klar. Und gerade dieses Durcheinander an verpassten Gelegenheiten, falschen Interpretationen und Missverständnissen, für welches der japanische Autor Kotaro Isaka in seinem gleichnamigen Roman gesorgt hat, funktioniert auf der großen Leinwand wie ein knallbuntes Bilderbuch aus Gewalt, Missgunst und Ehrgeiz.

Dabei gehen die Wogen immer wieder mal hoch und es kommt zu kabinentauglichen Exzessen, die sich ob der Weitläufigkeit dieses Hochgeschwindigkeitszuges in den sterilen, menschenleeren Teppichbodenabteilen fast schon im Verborgenen abspielen, wie kleine Kammerspiele, die in ineinandergreifenden Episoden die Schnitzeljagd zwar nicht so rasant wie der Zug selbst, aber dennoch in vergnüglicher Kurzweil vorwärtsbringen.

Stuntman David Leitch, der Charlize Theron in Atomic Blonde mit erdig-physischer Action konfrontiert und Ryan Reynolds als Deadpool 2 in selbstironische Höhen getrieben hat, scheint viel von seinen Kollegen gelernt – und sattelfest übernommen zu haben. Guy Ritchie zum Beispiel. Streckenweise hat man das Gefühl, hier einer Gaunerei des genannten Briten beizuwohnen, vor allem dank der Unzahl an Pro- und Antagonisten, die sich hier die Klinke reichen. Und dann wieder zitiert das Szenario den hochdramatischen Stil ostasiatischer Rachedramen im Dunstkreis der Unterwelt, angefangen von Takeshi Kitano bis hin zu Park Chan-Wook. Alle Welt fährt also mit diesem Zug, und so vielseitig die japanische Hauptinsel auch sein mag, so vielseitig sind David Leitchs Bekundungen an große Vorbilder und die Art und Weise stilistischer Handwerksproben, die brav an den Stationen warten, um einsteigen zu dürfen. Nebst der Fülle an Tötungsszenarien und biographischer Erklärungsfetzen stehen namhafte Stars Schlange, um in knackigen Cameos für Wiedersehensfreude zu sorgen. Mittendrin eben Brad Pitt mit Käppi und einer im Selbstmitleid gerne versinken wollenden Larmoyanz bezüglich seiner Pechsträhne, die unter diesen Umständen so nah am Glück vorbeischrammt wie nur möglich. Mut zur Antipathie zeigt der Star aber keine – er bleibt der Schöne Hollywoods, dem man nichts übelnehmen kann und will.

Bullet Train stellt die richtigen Weichen, um das Grundmuster von Filmen, die im Zug spielen, nicht zu kopieren oder gar auf bequeme Weise nachzuahmen. Langweilig wird’s nie, vorhersehbar auch nicht, wenngleich das Karma der guten Bösen und bösen Bösen festgelegt scheint. Hier nochmal konterzukarieren und die im Stillen gehegten Prophezeiungen des Publikums zu unterwandern, hätte aus Leitchs Railrun vielleicht gar ein kleines Meisterwerk des Actionkinos gemacht. Das Schicksal wäre zum eigenen Protagonisten geworden. So aber gehorcht sie einer manchmal zahmen Gefälligkeit, die eigentlich, so würde ich behaupten, niemand erwarten hätte wollen.

Darüber hinweg sieht man gerne. Denn im Minutentakt wechselnden Parameter sind der Grund dafür, warum Bullet Train richtig Spaß macht. Und irgendwann, kurz vor Kyoto, wachsen einem so manche Pechvögel und Glücksengelchen richtig ans Herz. Doch schnell kann’s gehen, und das Karma gibt sich seinen Launen hin.

Bullet Train

99 Homes – Stadt ohne Gewissen

DAS KALTE HERZ DES WESTENS

7/10


99homes© 2015 Wild Bunch Distribution


LAND / JAHR: USA 2014

BUCH / REGIE: RAMIN BAHRANI

CAST: ANDREW GARFIELD, MICHAEL SHANNON, LAURA DERN, TIM GUINEE, J.D. EVERMORE U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Mach nie die Tür auf, lass keinen rein – das rät zumindest die Erste Allgemeine Verunsicherung. Doch es hilft alles nichts. Auch wenn man in diesem Fall so tut, als wäre man nicht zuhause, sitzt man trotzdem bald vor selbigem, und zwar von einem Tag auf den anderen. Wir wissen: 2008 gab´s die Finanzkrise, und wir wissen auch, wohin das geführt hat: zum Platzen der sogenannten Immobilienblase. Sicherheiten waren plötzlich nichts mehr wert, Kredite nicht zahlbar, und Banken konnten sich nur noch damit retten, den Leuten das Heim unter dem Hintern wegzuziehen.

Was für eine schlimme Situation, die der alleinerziehende Bauarbeiter Dennis Nash da erleben muss. Es reicht nicht, dass der Mann den Job verliert – nein. Eines Morgens steht der Hausverwalter Rick Carver vor seiner Tür, flankiert von zwei hochmotivierten Polizisten und einer Entourage für die Drecksarbeit. Sind die Raten fürs Haus nicht mehr zahlbar, wohnt hier jetzt die Bank. Dabei muss die ganze Familie mitansehen, wie das komplette Interieur im Vorgarten landet. Doch so leicht lässt sich der arbeitswillige Jungvater nicht unterkriegen. In der Not bietet er Carver seine Dienste an, bleibt anfangs Mädchen für alles, um später genau das zu tun, was auch jener getan hat, der ihn und seine Familie vor die Tür gesetzt hat. Doch Moment! Genauer betrachtet ist ja nicht der Wohnungspfänder der Böse, sondern das Wirtschaftssystem dahinter. Genauer betrachtet wird aber auch klar, dass der schmierige Geschäftsmann Carver Mittel und Wege gefunden hat, selbst die Banken um ihren Vorteil zu prellen. 

Nirgendwo sonst als in den USA kann aus Alles plötzlich Nichts werden. Kann eine Existenz plötzlich scheitern. Nirgendwo sonst ist man auch dermaßen wenig vor Schicksalsschlägen abgesichert. Polizzen sind eine Sache fürs Establishment. Welches aber auch anderweitig vorgesorgt hat. Wie die schillernde Figur des Rick Carver eben. Will man solche Rollen wirklich treffsicher besetzen, klingelt´s womöglich bei Michael Shannon an der Tür. Der Mann ist prädestiniert für den charismatischen, kompromisslosen und über Leichen gehenden Typus, ein gelackter Influencer unter dem Herrn, ein Geschichtenerzähler und Einwickler. So kommt es, dass die Wirkung dieses Films fast ausschließlich auf seine Golferkappe geht. Und dabei ist es kaum vorstellbar, dass es Menschen gibt, die es tatsächlich anstreben, so sein zu wollen, und die es der Wirtschaft dort gutgehen lassen, wo man nicht so genau nachfragt. Ramin Bahrani setzt auch hier, so wie in seiner erst kürzlich auf Netflix erschienenen Buchverfilmung Der weiße Tiger  – die Chronik eines steinigen Wegs zum Wohlstand in Indien – seine abenteuerliche Identifikationsfigur auf Augenhöhe mit dem Zuschauer, die anfangs nichts, aber auch gar nichts hat und letztendlich alles haben könnte. Wie Peter Munk aus Willhelm Hauffs Das kalte Herz.

Und wie bei Hauff hat auch 99 Homes – Stadt ohne Gewissen ein ausgeprägtes Moralbewusstsein. Bahrani kann es natürlich nicht akzeptieren, die Welt auf diese Art sich selbst zu überlassen. Dafür ist er zu sehr Humanist, der erahnt, wie man leben soll. Diesen lehrmeisterlichen Gewissenskonflikt darf Andrew Garfield in diesem packenden Wirtschaftsthriller ganz alleine austragen – zwischen altklugen Weisheiten aus dem Munde Michael Shannons, der weiß, wies geht, und einem sozialen Bewusstsein, das selten in die Agenda des Erfolges passt.

99 Homes – Stadt ohne Gewissen

Echo Boomers

DIE RÜCKKEHR DER VANDALEN

6/10


echo-boomers© 2020 Saban Films


LAND / JAHR: USA 2020

BUCH / REGIE: SETH SAVOY

CAST: PATRICK SCHWARZENEGGER, ALEX PETTYFER, NICK ROBINSON, HAYLEY LAW, MICHAEL SHANNON, GILLES GEARY, LESLEY ANN WARREN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Die Vandalen wurden ja geschichtlich betrachtet zu Unrecht mit ihrem ethnischen Namen dafür verwendet, als Begriff für Zerstörungswut herhalten zu müssen. Dabei haben die damals nicht mehr kaputt gemacht als all die anderen. Aber wir haben diesen Begriff nun mal, und er passt auch ganz gut auf die Gruppe von 5 Mitt- bis Endzwanzigern, die nichts Besseres zu tun haben als einen auf Revoluzzer zu machen und in neureiche Villen einzubrechen um a) alles Wertvolle mitgehen zu lassen und b) den übrigen Rest genussvoll zu zertrümmern. Da sieht Oasis-Frontmann Liam Gallagher mit dem Zertrümmern von Hoteleinrichtung ja geradezu blass aus. Gibt’s in diesen noblen vier Wänden genug Glas, freut das ganz besonders. Das gestohlene Zeug wird dann an einen Hehler vertickt. Da weiß man wieder, wofür man studiert hat, oder? Nun, die 5 hier wissen es nicht. Zumindest vorerst nicht. Bis einer von ihnen, und zwar der Neuzugang, das Ruder rumreißt und der destruktiven Gesinnung ein Ende macht.

In Midnight Sun war der junge Mann bereits zu sehen, jetzt nähert sich Arnies Filius Patrick Schwarzenegger langsam, aber doch, den Genregefilden seines Papas, wenngleich Echo Boomers von Regiedebütant Seth Savoy natürlich kein Actionkracher der alten Schule ist, sondern vielmehr ein Thrillerdrama irgendwo zwischen Die fetten Jahre sind vorbei (mit Daniel Brühl) und Ben Afflecks The Town. Sohn Schwarzenegger bemüht sich sichtlich, wirkt aber teils noch arg einstudiert, wenn er vom Schüchti zum Systemveränderer erstarken will. Da braucht´s noch Praxis, damit der junge Mann aus dem Schatten des elterlichen Ruhms treten kann und man aufhört, fortwährend zu überlegen, ob der Mime eigentlich irgend etwas von der markanten Gesichtsphysiognomie seines Papas übernommen hat.

Gegen ein Schauspielkaliber wie Michael Shannon bleibt Schwarzeneggers Darbietung auch noch etwas blass – ersterer wiederum darf als präpotentes Mastermind hinter den Raubüberfällen so richtig großkotzig andere niedermachen. Dieses Machtverhältnis zwischen den ungestümen Home-Invasoren und dem Hehlerkönig sorgt für knisterndes Tauziehen, die Kanadierin Haley Law lotet die emotionale Tiefe aus und Schnösel Alex Pettyfer in seiner Rolle als blitzgescheiter Studienabsolvent opfert seine Arroganz leider auch nicht dem niedersausenden Baseballschläger, der sonst nur ausgesuchtes Interieur zerstört. Auch wenn das Arm-Reich-Gefälle manchmal wirklich für Sodbrennen sorgt – zu sehen, wie alles kaputtgeht, tut richtig weh und lässt auch Anti-Materialisten über diese Notwendigkeit des Vandalismus sinnieren, die auch mit Graffiti-Statements nichts transportiert, worüber man nachdenken sollte. Somit lügen sich die Echo Boomers wohl selbst in die Tasche, und wo niemandem der Sinn nach Kompromissen steht, ist einem die Zerstörung dessen näher, was man selbst gerne hätte, aber unerreichbar scheint. Andere würden Neid dazu sagen.

Echo Boomers

Edison – Ein Leben voller Licht

HELL IN DER BIRNE

5/10

 

DSC03764.ARW© 2020 Filmladen Filmverleih

 

LAND: USA, GROSSBRITANNIEN, RUSSLAND 2017

REGIE: ALFONSO GOMEZ-REJON

CAST: BENEDICT CUMBERBATCH, MICHAEL SHANNON, TOM HOLLAND, NICHOLAS HOULT, KATHERINE WATERSTON, OLIVER POWELL, NANCY CRANE U. A.

 

Koryphäen der Wissenschaft – so könnte man den Trend rund um Geistesriesen des Industriezeitalters bezeichnen, welchen das Kino derzeit mit etwas mehr Nachdruck als sonst verfolgt. Marie Curie – Elemente des Lebens läuft derzeit auch in unseren Lichtspielhäusern, später dann soll noch Tesla mit Ethan Hawke folgen. Und das waren sicher nicht die letzten. Thomas Alva Edison war auch so ein Anstupser des menschlichen Fortschritts, einer mit ordentlich Grips in der Birne und mit ganz viel Licht in selbiger, allerdings auf dem Prinzip des Gleichstroms. Man braucht nicht glauben, dass zur damaligen Zeit nur Edison alleine der Heilsbringer für den technologischen Boom des Menschen war, da gab’s auch noch andere. Der eben erwähnte Futurist Nikola Tesla zum Beispiel, der allerlei Visionen hatte, und der Industrielle George Westinghouse, der das Prinzip der Glühbirne weiterführte, allerdings mit Wechselstrom hantierte und somit auch größere Gebiete der vereinigten Staaten mit Licht von der Leitung versorgen konnte. Edison sieht sich natürlich seiner Ideen beraubt und zieht gegen seinen Konkurrenten zu Felde – allerdings wird ihm das nicht viel bringen. Womit Edison im Eigentlichen zu Weltruhm gelangte, das sei seinem ausgeprägten Sinn für Marketing zu verdanken, und einem Hang zur Volksnähe, den all die anderen nie wirklich entwickeln konnten, am Allerwenigsten Tesla, ein blitzgescheiter, aber nerdiger schräger Kauz, der fast schon als Vorbild für Sheldon Cooper aus der Big Bang Theory gelten kann, zumindest was die Interpretation Nicholas Hoults in Alfonso Gomez-Rejons Film betrifft. Ihm gegenüber: Benedict Cumberbatch als derjenige, der bei Assoziativfragen zur Elektrizität womöglich als erster fällt: Thomas Alva Edison. Strenger Denker, ruheloser Erfinder, Superhirn, Geschäftsmann. Im privaten Schlepptau: zwei Kinder, eine Frau. Um Edison selbst handelt der Spielfilm, der bereits 2017 abgedreht wurde und aufgrund von Studiofusionierungen längere Zeit in der Schublade verschwand, nur peripher. Es ist die Geschichte eines Triumvirats von Amerikas technisch-utopischer Elite, die weder miteinander noch ohneeinander konnte.

Die frei nach geschichtlichen Eckpunkten zusammengetragene Dreifach-Biopic (obwohl Tesla entschieden zu kurz kommt, Westinghouse aber die meiste Spielzeit hat) will prinzipiell mal gar keine Studie über Edison himself sein – im Original trägt der Film den Titel The Current War. Kurz: der Stromkrieg – wofür Gomes-Rejon denn knallroten Teppich für die Creme de la Creme des Ausstattungskino ausrollt. Edison – Ein Leben voller Licht besticht weniger durch die reichlich trockene Angelegenheit von Industriegeschichte, sondern viel mehr durch einen üppigen Bilderreigen an Interieur und Kostümen. Mit krassen Weitwinkel-Takes, die an Terrence Malick oder Stanley Kubrick erinnern, fängt der Geschichtsfilm Popup-Bilder ein, die feines Schauvergnügen versprechen. Ein Who is Who namhafter Stars findet sich ebenfalls ein, um dem Stromkrieg ordentlich Volt zu verpassen. Die Energie allerdings macht sich aber maximal erst auf der quartalsmäßigen Stromrechnung bemerkbar. Das Schlammcatchen dreier Fachgenies fällt erstens viel handzahmer aus als gedacht, da kann man noch so viel dramaturgischen Füllstoff dazu erfinden, und zweitens sind die vielen Treffen fein gekleideter Herren in Fabriken, Salons und tapezierten Waggons irgendwann ermüdend. Cumberbatch variiert seinen Charakter nur selten, auch Michael Shannon bleibt ein geschmackvolles Gemälde inmitten der noblen Atmosphäre eines technischen Museums mit allerlei Dingen, die man zuhause nicht hat und für die man gerne in den öffentlichen Schauraum geht. Die interessanteste und auch relevanteste Anekdote ist wohl die über die Entstehung des elektrischen Stuhls als „humane“ Tötungsmethode. Sonst aber freut man sich im Nachhinein, seine Volkshochschulkenntnisse über Elektrotechnik nochmal aufgefrischt zu haben – viel mehr bleibt allerdings nicht.

Edison – Ein Leben voller Licht

Midnight Special

WENN KINDERAUGEN LEUCHTEN

7/10

 

midnightspecial© 2016 Warner Bros GmbH

 

LAND: USA 2016

REGIE: JEFF NICHOLS

CAST: MICHAEL SHANNON, JOEL EDGERTON, KIRSTEN DUNST, JAEDEN MARTELL, ADAM DRIVER, SAM SHEPARD U. A. 

 

Was der Mensch nicht kennt, fürchtet er. Solange unklar bleibt, worum es sich handelt, muss das Fremde eine Bedrohung sein und mit Vorsicht zu genießen. Am Besten im Schutzanzug, wie in Steven Spielbergs E.T.. Sobald bekannt war, dass ein fremdartiger Gnom auf Erden wandelt, waren alle hinter ihm her. Aber es muss nicht mal ein fremdartiger Gnom sein, einer im Watschelgang und mit leuchtenden Fingern, die heilen können. Es reicht auch, wenn das Medium ein auf den ersten Blick ganz normaler Junge ist, der jedoch nicht weniger Lichtspiele auf Lager hat wie der Außerirdische im Fahrradkorb. Dieser achtjährige Alton kann so manches. Und eigentlich zu viel, findet die Staatssicherheit und der gesamte Geheimdienst. Radio- und Funkwellen jedweder Frequenz und jedweder Sprache sind für den Kleinen ein offenes Buch. Und Vorahnung ist sein zweiter Vorname. Was stimmt nur nicht mit diesem Kind, mit diesem Sonderling und Freak, der eine Vorliebe für Heldencomics hat und das Sonnenlicht nicht ertragen kann?

Ein Messias der Neuzeit ist dieser Alton jedenfalls keiner. Auch wenn eine Provinzsekte das gerne behaupten würde. So kann’s gehen, wenn humanphysikalische Anomalien inmitten einer halb aufgeklärten Gesellschaft Wurzeln schlagen. Dann hat man schnell ein gottgleiches Wesen, das viel mehr weiß als der Normalsterbliche. War das mit Jesus von Nazareth ähnlich? Überlegungen dazu verteilt Regisseur Jeff Nichols nur unter der Hand, als gut versteckte Metaebene für Sozialphilosophen mit Hang zu Querverweisen durch die Geschichte menschlicher Irrungen. Was der Mensch also nicht kennt, fürchtet er? Auch das ist die halbe Wahrheit. Oder er betet ihn an. Oder: er will das Unbekannte gefügig machen. Die Gedanken in Midnight Special reichen viel weiter als bei E.T., obwohl der Klassiker aus den 80ern mit den unendlichen Weiten kokettiert. Midnight Special tut das erstmal nicht, obwohl die Vermutung nahe liegt, dass das verwunschene Kind nicht von dieser Welt ist. Jeff Nichols erklärt anfangs überhaupt nicht viel. Er wirft den Zuseher in den Status Quo während einer Flucht – wovor eigentlich? Erst langsam setzen sich die Fragmente zusammen, die ungeklärten Verhältnisse machen das ganze ohnehin düstere Szenario noch mysteriöser. Als würde man Gespräche anderer belauschen, die etwas Traumatisches erlebt haben. Als wäre man lediglich ein zu spät dazugekommener Zeuge eines bizarren Unfalls, der Zeit und Raum außer Kraft gesetzt hat. Wer die amazon-serie Tales from the Loop gesehen hat, wird ungefähr wissen, was ich meine. Die nach Motiven der Bilder von Simon Stålenhag inszenierte Science-Fiction-Meditation kreist genauso um Unerklärliches wie Midnight Special. Weder Gut noch Böse ist am Werk, nur die panische Überforderung von Menschen, die das, was sie erleben, ihrem erlernten Weltbild nicht unterordnen können. Dennoch macht Nichols daraus einen nachttrunkenen Thriller, in den das gleißende Licht einer unheimlichen Begegnung der dritten Art bricht.

Mehr sei darüber nicht zu sagen, der Rest ist Suspense zwischen Beschützerinstinkt und staatlich verordneter Neugier, die den Hang hat, das Rätselhafte zu brechen. Nach einigen Twists und spielberg´scher Sphärenkonjugationen ist Jeff Nichols Essay, die Freiheit für das Rätselhafte in unserer Welt über unsere Bedürfnisse zu stellen, ein unprätentiöses Noir-Vexierspiel mit verspielten, klassisch-futuristischen Ansätzen, sonst aber von einer aufgeräumten, vielleicht zu strengen Ernsthaftigkeit, die einer kindlichen Betrachtung für das Unerklärliche nicht ganz so viel abgewinnen kann – was fast ein bisschen schade ist.

Midnight Special