Das Verschwinden des Josef Mengele (2025)

WIE DAS BÖSE DIE WELT SIEHT

8/10


© 2025 Panda Lichtspiele


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2025

REGIE: KIRILL SREBRENNIKOW

DREHBUCH: KIRILL SEREBRENNIKOW, NACH DEM ROMAN VON OLIVIER GUEZ

KAMERA: VLADISLAV OPELYANTS

CAST: AUGUST DIEHL, MAX BRETSCHNEIDER, DANA HERFURTH, FRIEDERIKE BECHT, MIRCO KREIBICH, DAVID RULAND, ANNAMÁRIA LÁNG, TILO WERNER, BURGHART KLAUSSNER U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN



Muss man, will man, kann man denn überhaupt einen Film über einen bösen Menschen ansehen? An dieser Stelle wäre es angebracht, über die Begrifflichkeit des Schlechten nachzudenken. Das Böse, so möchte man meinen, existiert, ohne dass es in dem Moment, indem es sich offenbart, weiß, dass es das tut. Reue nennt sich der Effekt, wenn sich das Böse selbst erkennt. Umso erschreckender, wenn es das nicht tut – wenn diese Finsternis auf ewig glaubt, sie wäre strahlend hell wie die Sonne. Das ist dann das inhärente Destruktive einer globalen Gesellschaft, das unter unsagbarer Anstrengung Tag für Tag klein gehalten werden muss, wenn es schon nicht zur Gänze getilgt werden kann. Ist das nicht dieser ewige Kampf des Guten gegen das Böse, dieses oft zitierte Yin und Yang? Ist diese Balance nicht essenziell für die Existenz an sich? Dieser Überlegung widmet sich auch der Japaner Hamaguchi Ryusuke in seinem Gleichnis Evil Does Not Exist.

Der Trotz des Falschen

Die Banalität des Bösen hatte schon Jonathan Glazer in seinem ernüchternd schrecklichen „Familienfilm“ The Zone of Interest dokumentiert – und dabei versucht, die Welt so darzustellen, wie sie aus Sicht des Bösen wohl aussehen möge. Der Holocaust wird dabei zur Nebensache, die so weltbewegend erscheint wie die tägliche Müllabfuhr. Niemand aus dieser Familie Höß hat jemals begriffen, dass sie Falsches tat – bis auf die Schwiegermutter, deren Erkenntnis ob der Gräuel in einer nokturnen Schlüsselszene diese zur panischen Abreise bewegt. In Schindlers Liste ist die Welt des Amon Göth eine, in welcher Macht und Mord einander bedingen müssen, während Psychopathen wie dieser darin ihren Nährboden finden. Und jetzt auch er: Josef Mengele, eine Schreckensgestalt und Verbrecher gegen die Menschlichkeit und die Menschheit an sich, der Todesengel von Auschwitz, dessen Taten schwer zu dokumentieren sind, so vielfältig verheerend lassen sie sich darlegen. Während The Zone of Interest das unmöglich Auszudenkende hinter den Backsteinmauern als dunklen Rauch aufsteigen lässt und den Nazi-Alltag semidokumentarisch betrachtet, geht Kyrill Serebrennikow einen Schritt weiter und gibt diesem Mengele die Möglichkeit, seine Taten und Motive zu reflektieren.

Was gast du nur getan?

Eines vorweg: Es wird ihm nicht gelingen. Es wird auch nicht seinem Sohn Rolf gelingen, der seinen Vater Ende der Siebzigerjahre, zwei Jahre vor seinem Tod beim Schwimmen an der südamerikanischen Atlantikküste, dazu bewegen möchte, seine Taten als falsch einzugestehen. Nichts davon passiert, denn das Böse sieht sich im Recht, es sieht sich als das einzig Logische. Gerechtigkeit wird aus Sicht Mengeles zur scheinbar grundlosen Jagd auf einen im Selbstmitleid ertrinkenden Choleriker, den Klaus Kinski hätte darstellen können. August Diehl ist aber nicht weniger gut dafür geeignet. Der Herausforderung für einen Schauspieler besteht darin, völlig vorbehaltlos in die Rolle eines monströsen Menschen zu schlüpfen, der bis zum Ende glauben wird, dass das Unrecht auf der anderen Seite liegt. Sie anzunehmen, wird seine Spuren hinterlassen, denn egal kann einem wie Diehl so ein Mindset sicher nicht sein. Und dennoch hängt sich der Deutsche hinein in dieses Psychogramm, und meistert dabei mehrere Jahrzehnte der Paranoia, der Verzweiflung, der trotzigen Beharrlichkeit einer kranken Weltsicht, der puren Essenz radikalen, nationalsozialistischen Gedankenguts.

Wenn der Mörder lächelt

Das Verschwinden des Josef Mengele, in expressionistischem Schwarzweiß gedreht und in den verstörenden und an die Nieren gehenden Szenen sogar in Farbe, um die niemals verjährende Aktualität von Verbrechen viel eher in die Gegenwart zu bringen, ist schauspielerischer Brutalismus, das Lamento eines in die Enge getriebenen Unbelehrbaren; eines rechthaberischen, arroganten, zutiefst abstoßenden Patriarchen, dem nicht mal beim Töten Unschuldiger das Grinsen vergeht. Jetzt aber, in den Jahrzehnten nach dem Krieg, ist dieses quälende Versteckspiel eines Flüchtigen nur gut und recht, wenn dieser in seinem Leid genauso feststeckt wie in seiner Weltsicht. Bei jedem Zeter und Mordio ob der Ungerechtigkeit, die Mengele seiner Meinung nach widerfährt, stellt sich jedoch längst nicht diese Genugtuung ein, die man erfährt, wenn ein Antagonist seine Strafe erhält. Ganz klar liegt es an dieser Uneinsicht eines Widerlings.

Warum also so einen Film ansehen? Ist so ein Mensch die Mühe wert, Millionen an Gelder dafür zu verwenden, ihn ins Rampen- und Leinwandlicht zu rücken? Ja, das ist sie. Weil man benennen sollte, wovor man sich wappnen muss. Wie bei The Zone of Interest ist es der Versuch, sich auf die andere Seite zu stellen, nicht direkt in die Dunkelheit, sondern daneben, um zu sehen, was das Böse sieht. Um ein bisschen mehr zu verstehen, wie die Welt tickt. Und es ist die Faszination für Monster wie dieses, die klarmachen, wo ich, wo wir, niemals hinwollen. Dass es das gibt, ist erschreckend und belehrend, zugleich aber auch ernüchternd hoffnungslos, weil es so scheint, als hätten Geister wie Mengele in dieser Welt immer ihren Platz.

Das Verschwinden des Josef Mengele (2025)

Das tiefste Blau (2025)

AUGENTROPFEN FÜR ALTERSWEITSICHT

5/10


© 2025 Alamode Film


ORIGINALTITEL: O ÚLTIMO AZUL

LAND / JAHR: BRASILIEN, MEXIKO, CHILE, NIEDERLANDE 2025

REGIE: GABRIEL MASCARO

DREHBUCH: TIBÉRIO AZUL, GABRIEL MASCARO

KAMERA: GUILLERMO GARZA

CAST: DENISE WEINBERG, RODRIGO SANTORO, MIRIAM SOCARRÁS, ADANILO U. A.

LÄNGE: 1 STD 26 MIN


Jair Bolsonaro sitzt in dieser nahen Zukunft Gott sei es gedankt nicht mehr am Ruder. Der rassistische Umweltsünder hätte, wäre der Film die Realität, entweder eine nahe Zukunft wie diese verantwortet oder er säße, wenn nicht im Gefängnis, dann längst in einer dieser als euphemistisch bezeichneten Kolonien der über 75jährigen, die von der jüngeren Gesellschaft einfach nicht mehr er- und mitgetragen werden sollen. Es hemmt die Wirtschaft, heisst es in diesem Brasilien, denn die muss florieren. Da hat wohl niemand etwas davon, wenn die Alten von den Jungen ausgehalten und gepflegt werden müssen und dadurch das Bruttosozialprodukt nicht gesteigert werden kann. Natürlich fällt mir dabei Geier Sturzflug ein mit ihrem Klassiker der Neuen Deutschen Welle. „Wenn Opa sich am Sontag aufs Fahrrad schwingt und heimlich in die Fabrik eindringt“ – schon damals wusste man, das die ältere Generation irgendwann um ihre Pension kämpfen muss, würde diese es nicht möglich machen, bis zum Abnippeln an der Kurbel von wasweißich auch immer zu drehen, nur um, gezwängt zwischen Zahnrädern wie einst Charlie Chaplin, den prosperierenden Staat am Laufen zu halten.

Für die Alten das Abstellgleis

Was im Ganzen so aussieht, als wäre das eine menschenverachtende, ungerechtfertigte Erniedrigung jener, die Zeit ihres Lebens ihr Soll erfüllt haben, ist im Detail noch viel erniedrigender und bitterer. In den Städten des Amazonas kurven Pickups mit Käfigen hinten drauf durch die Straßen, um abgängige Alte, die nicht ins Lager geschickt werden wollen, einzusammeln. Tereza meint, auf die Archivierung ihrer selbst noch fünf Jahre warten zu dürfen, ist sie doch erst 75. Doch die Regeln haben sich geändert – die rüstige und keinesfalls inaktive Dame wird demnächst abgeholt, eine Woche Zeit bleibt ihr noch – um ihr selbst noch einen einzigen Wunsch zu erfüllen, bevor gar nichts mehr geht, nämlich zu fliegen, womit auch immer. Dafür begibt sie sich gegen den Willen ihres töchterlichen Vormunds an den Amazonas, fliegen und Bahnfahren darf die Entmündigte schließlich nicht ohne Genehmigung. Auf ihrer kleinen Odyssee trifft sie auf einen entrückten Bootsmann, völlig verpeilten Flugpiloten, rangelnden Süßwasserfischen (wie seltsam!) und einer längst pensionsfähigen, aber autarken Bibelverkäuferin, mit der sie Freundschaft schließt – und die es irgendwie geschafft hat, ihrem aufgehalsten Schicksal zu entkommen.

Die Tropen machen müde

Eine bittere, seltsam entschleunigte Zukunft ist das hier am südamerikanischen Megastrom, der mitunter eine Schnecke zu seiner Fauna zählt, die ein blaues Sekret absondert, welches das Bewusstsein erweitert und die Zukunft erahnen lässt – daher auch der Titel des Films. Als hätte Werner Herzog in der schwülen Tropenluft Brasiliens zwischen mehreren Nickerchen im Zustand des trägen Erwachens einen Film gedreht, tuckert Das tiefste Blau in entspannter Unentspanntheit und leicht erratisch durch einen Lokalaugenschein gar nicht vorhandenen Wirtschaftsenthusiasmus. Ist es nicht das Glücksspiel, bleiben die Jüngeren letztlich untätiger als die Alten. Eine gewisse Apathie macht sich hier breit, in der die ungestüme Tereza Spielraum genug findet, um sich aus dem Kreislauf einer deterministischen Zukunft durch einen ideenreichen Abschneider in die Wagemut herauszukatapultieren.

Mag sein, dass Das tiefste Blau die Welt nach der Arbeit zu einem einzigen Altersheim werden lässt und damit warnende Signale setzen will, nicht so unachtsam mit denen umzugehen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Und dennoch engagiert sich Gabriel Mascaro in seiner Coming of Overage-Fantasterei zu wenig, sondern lässt seine auseinanderklaffenden Szenen, die viel Nichterzähltes voraussetzen, wie Wachepisoden einer viel dichteren Geschichte erscheinen. Das macht das Ganze bruchstückhaft, den Blick in eine Richtung setzend, die das Publikum nicht trifft.

Das tiefste Blau (2025)

Für immer hier (2024)

LÄCHELN GEGEN DEN TERROR

6,5/10


© 2024 Polyfilm


ORIGINALTITEL: AINDA ESTOU AQUI

LAND / JAHR: BRASILIEN, FRANKREICH 2024

REGIE: WALTER SALLES

DREHBUCH: MURILO HAUSER, HEITOR LOREGA

CAST: FERNANDA TORRES, SELTON MELLO, FERNANDA MONTENEGRO, ANTONIO SABOIA, VALENTINA HERSZAGE, MARIA MANOELLA, LUIZA KOSOVSKI, BÀRBARA LUZ, CORA MORA, GUILHERME SILVEIRA, MARJORE ESTIANO U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Familie ist wirklich alles, das weiß auch Walter Salles, brasilianischer Filmemacher und seit Central Station längst bekannt als Beobachter eines jüngeren Südamerika zwischen Individualität und biographischen Notizen, zwischen stillem Aufbegehren und der Charakterbildung einer Revolution, wie sie Che Guevara salonfähig machte (Die Reisen des jungen Che), und zwar so weit, bis sie einging in die Popkultur. Weniger bekannt ist aber das Schicksal und Leben der Menschenrechtsaktivistin Eunice Paiva, die, bevor sie sich als Aktivistin eines Namen machte, als fünffache Mutter das Familienglück in Rio de Janeiro am Laufen hielt: Die malerische Bucht inklusive Jesus stets vor Augen, das strahlende, heiße tropische Wetter, der immerwährende Sommer auch in den Gemütern der Kinder und des Ehemannes Rubens (Selton Mello), ehemaliger Kongressabgeordneter und Kritiker des Militärregimes von Brasilien Anfang der 70er Jahre.

So ein Verhalten, das hätte Rubens wissen müssen, weckt irgendwann den Argwohn der Mächtigen. Hinter der Fassade einer glücklichen Familie, deren Zuversicht man kaum fassen kann, brodelt der kleine Widerstand. Es gibt Botengänge unter der Hand, die dem Regime sicher nicht in die Hände spielen. Irgendwann klopfen die Schergen der Regierung an die Tür des trauten Heims und nehmen Papa kurzerhand mit, um ihm „ein paar Fragen zu stellen“. Aus der Zusage, Rubens wäre bald wieder in der Obhut seiner Liebsten, wird nichts. Die Familie aber, sie bricht nicht auseinander. Eunice versucht, alles zusammenzuhalten, wird sogar selbst verschleppt und landet im Verhörgefängnis an einem unbestimmten Ort, muss Qualen erleiden und um ihre Kinder bangen.

Desaparecidos nennt man jene Menschen, die der Staatsapparat verschwinden lässt. Vor dem Hintergrund dieser grauenhaften Ereignisse, die sich scheinbar zur selben Zeit am ganzen Kontinent abspielen, errichtet Walter Salles das sehr intime und subjektive Portrait einer Familiengemeinschaft mit Mutter Eunice als jemand, der erhobenen Hauptes der Tragödie trotzt. Europa ist dabei weit entfernt von der Geschichte eines Kontinents, der nicht mal ansatzweise seinen Weg in die Schulbücher findet und auch sonst und vorallem angesichts der eigenen tragischen Geschichte nicht viel Platz im Bewusstsein der alten Welt einnimmt. Filme wie diese tun da ihre Pflicht und setzen ein künstlerisch definiertes Ausrufezeichen, machen aufmerksam auf etwas, dass passiert sein mag, das man hierzulande aber maximal zur Kenntnis nimmt als etwas, das genauso nicht hätte sein dürfen wie das Nazi-Regime. Hinzu kommt eine Familie, die, so scheint es, gerne unter sich bleiben würde und sein Publikum nur pflichtbewusst ins Innere blicken lässt.

Anfangs fällt Salles fast schon ungefragt mit der Tür ins traute Eigenheim und stiftet Verwirrung inmitten einer Großfamilie samt unzähliger Freunde und Bekannter, die wir alle nicht kennen. Dieses Bildnis des satten Wohlstands tangiert wenig, es wird gefeiert, und das nicht zu kurz. Der Mittagstisch biegt sich, es gibt Soufflé, dann geht es an den Strand, auch dort eine geschlossene Gesellschaft. Für immer hier lässt sich ordentlich Zeit, um sein Publikum mit dieser Familie bekanntzumachen. Statt Effektivität verliert sich Salles Film aber in einem langwierigen Anlauf. Schon klar, die intakte Gemeinschaft darzustellen, dafür benötigt es Zeit und erzählerischen Raum. Die Methode geht vorerst nach hinten los. Nach einer zähen halben Stunde redundanter Alltagsdarstellungen geht das Drama in den Absprung über – und setzt die oscarnominierte Fernanda Torres als erschütterte, aber stets erhobenen Hauptes lächelnde Matriarchin groß in Szene, umringt von ihren Töchtern und Söhnen. Langsam nähert man sich auch emotional dem ganzen Desaster, spürt die Bedrohung, empfindet Verlust und Sehnsucht nach einem geliebten Menschen, der fortan eine große Lücke bei allen Anwesenden hinterlassen wird.

Die Zeit heilt in Für immer hier niemals alle Wunden. Salles konzentriert sich dabei auf den Mikrokosmos, auf das Einzelschicksal und wechselt niemals die Perspektive. Nicht das Regime, das Konstrukt der Familie ist die eigentliche Politik, das eigentliche System, das funktionieren muss. Je stärker sich Salles fokussiert, umso besser wird der Film, bis nur noch Torres übrigbleibt, die die Flucht nach vorn wählt und den Entschluss fasst, sich für jene einzusetzen, die ähnlich gelitten haben wir ihr Ehemann. Dann aber folgt ein großer Zeitsprung – Für immer hier spart den Werdegang von Eunice Paiva ebenfalls aus wie das Dokumentarische hinter dem Psychodrama. Ob sich Salles hier nicht mit den Prioritäten etwas vertan hat, mag man als Frage in den Raum stellen. Klar ist: Gegen Ende sind die Gefühle groß, wächst die Einheit der Familie umso mehr. Das sind die geglückten Szenen eines melodramatischen Films, der nicht zu allem den nachfühlbaren Zugang gewährt. Und vorallem dann punktet, wenn man Parallelen zur eigenen Familiengeschichte entdeckt.

Für immer hier (2024)

Eureka (2023)

FRAGMENTE ÜBER DAS VERSCHWINDEN

7/10


eureka© 2023 Grandfilm


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, FRANKREICH, PORTUGAL, MEXIKO, DEUTSCHLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: LISANDRO ALONSO

CAST: VIGGO MORTENSEN, CHIARA MASTROIANNI, SADIE LAPOINTE, ADANILO R, JOSÉ MARIA YAZPIK, ALAINA CLIFFORD, VIILBJØRK MALLING AGGER, RAFI PITTS U. A.

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Ein Mädchen verschwindet. Genau genommen die Tochter des dänischen Landvermessers Gunnar, der im späten neunzehnten Jahrhundert in Argentinien weilt. Gespielt wird dieser verzweifelt suchende Mann, der sich in der argentinischen Raumzeit verliert, von „Aragorn“ Viggo Mortensen. Die Rede ist dabei aber vom Film Jauja von Lisandro Alonso, der 2014 ebenso auf der Viennale lief wie letztes Jahr das neueste Werk des Argentiniers: Eureka. Auch in diesem überlangen Werk, welches zwar anmutet wie ein Episodenfilm, es bei genauerer Betrachtung eigentlich nicht ist, gibt Mortensen jemanden, einen abgewrackten Revolverhelden mit schweißnasser Stirn, der seine Tochter sucht. Er durchquert dabei die Prärie und geht dabei über Leichen, das alles gefilmt in 4:3 und in Schwarzweiß. Die Mission des Mannes wird dabei von einem nordamerikanischen Indigenen beobachtet, der frühmorgens seine Trommel ertönen lässt und dabei auf die Welt blickt. So beginnt ein Film, der sich willig dazu entschlossen hat, sich selbst treiben und seine Geschichten zerfransen zu lassen, ohne dem narrativen Dogma nachzugeben, alles auserzählen zu müssen. Bei Eureka braucht man getrost auf gar nichts warten. Denn alles hat kein Ende, und falls doch, dann ist es das vorläufige des Verschwindens.

Es ist ja nicht nur Mortensens Filmtochter, die fehlt. Im gewichtigen Mittelteil des avantgardistischen Werks befinden wir uns im Pine Ridge Reservat in South Dakota während eines klirrend kalten Winters. Der trostlose Ort ist nur noch ein Schatten seiner Begrifflichkeit. Sozialen Missstand gibt es an allen Ecken und Enden, und schon wieder verschwinden Menschen wie zum Beispiel die kleine Mackenzie, die niemand gesehen haben will. Lisandro Alonso verfolgt dabei Lakota-Polizistin Debonna, die für Recht und Ordnung sorgt während der langen Winternacht und nicht nur von dieser sozialen Verwahrlosung, sondern auch von ihren Kollegen bitter enttäuscht ist. Ihre Nichte Sadie (faszinierend: Sadie Lapointe) arbeitet im Jugendheim, um den desorientierten Nachwuchs mit Sport und Spiel auf dem rechten Weg zu halten. Was mit diesen beiden Frauen passieren wird, bleibt offen. Auch sie verschwinden, auf ihre jeweils ganz eigene Art. Zuletzt findet sich Eureka im brasilianischen Dschungel der Siebzigerjahre wieder: Ein Goldwäscher, nach einer Bluttat geflohen von seinem Stamm, muss sich seiner Tat stellen. Auch er ist auf der Suche. Vielleicht nach Absolution, vielleicht nach einem sicheren Leben. Die Allegorie des Verschwindens macht auch hier nicht Halt, in dieser letzten Episode.

So seltsam das alles auch klingt: Eureka ist seltsamer. Wer die Filme des Thailänders Apichatpong Weerasethakul (u. a. Memoria) kennt, wird ungefähr erahnen können, was es zu bedeuten hat, wenn ich meine, dass Alonso in seinen verharrenden, teils unerträglich langen Einstellungen die Essenz des wahrgenommenen Moments, des Daseins, der Existenz einfach nur durch stoische Betrachtung intensiviert. Tatsächlich gelangt er dadurch in die Tiefe, und je länger man hinblickt, um so mehr verändert sich das Bild. Oder es blickt das Bild, frei nach Nietzsche, geradewegs zurück. Das Transzendente dringt in die entbehrungsreiche Wirklichkeit, der Aminismus der Indigenen spielt dabei eine wesentliche Rolle, denn Eureka ist schwer mysteriös. Wonach Alonso genau auf der Suche ist, das könnte vieles sein. Kulturelle Identität, Geschichte, Familie, Stammbaum. Eine sichere Zukunft? Schließlich wissen wir: Eureka, vermutlich von Archimedes ausgesprochen, kommt aus dem Griechischen und heisst so viel wie Ich hab’s gefunden. Letztlich aber bleiben alle diese Figuren im Film auf der Suche nach etwas Verschwundenem, das auf unerklärliche Weise plötzlich nicht mehr da ist oder da sein will.

Unbefriedigender Existenzialismus als zerfranstes Geduldsspiel, das sich seinem Fluss hingibt, egal, welche Bahnen er nimmt: Gefunden hat in Eureka niemand etwas. Doch vielleicht ist es die Lösung aller Probleme, in einem gewissen kapitulierenden Pragmatismus den Abgesang zuzulassen.

Eureka (2023)

Noche de Fuego

IM SCHATTEN DES KARTELLS

7/10


nochedefuego© 2021 Netflix


LAND / JAHR: MEXIKO, DEUTSCHLAND, BRASILIEN, SCHWEIZ, USA, KATAR 2020

BUCH / REGIE: TATIANA HUEZO

CAST: ANA CRISTINA ORDÓÑEZ GONZALES, MARYA MEMBREÑO, MAYRA BATALLA, NORMA PABLO U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Man muss nur genau hinhören. Darin wird die junge Ana trainiert. Sie hört die Kühe des Nachbarn auf freiem Feld, sie hört das Bellen des Hundes die Straße runter. Sollte sie das Motorengeräusch eines Vierradantriebs hören, muss sie sich verstecken. Denn die Schergen des Kartells sind hinter ihr her. Dabei hat sie die Bösen gar nicht provoziert, ganz im Gegenteil. Zu ihrem eigenen Schutz nimmt der LKW sie frühmorgens gar mit auf die Mohnfelder. Das Kartell ist hinter ihr her, weil sie ein Mädchen ist. Und Mädchen, insbesondere die hübschen, bringen im kranken Wirtschaftsverständnis der Verbrecherwelt Mexikos ordentlich Profit. So einen erschütterten Einblick erhält man mitunter auch im brasilianischen Sozialthriller 7 Gefangene. Da schnürt es einem die Kehle zu, das ist schwer mitanzusehen. Dabei ist das nicht mal notwendig, der Stein liegt schon im Magen, wenn plötzlich eine von Anas Freundinnen verschwindet. Ein Umstand, der schlimmer ist als der Tod. Unter diesem Schatten wächst Ana also auf, mit ihren besten Freundinnen, die untereinander versuchen, ihre Gedanken zu lesen. Ihr Leben sollte das unbekümmerte eines jungen Mädchens aus dem Dorf sein, wäre da nicht diese andauernde Bedrohung, unter der Anas Mutter leidet, da sie das Schutzgeld für ihre Familie nicht bezahlen kann. Der Vater schickt kein Geld mehr. Mohn ist der einzige Garant, doch selbst der bremst die Gier der Bewaffneten nicht, die so plötzlich kommen wie ein Tornado über die nordamerikanischen Ebenen.

Bereits beim diesjährigen Cannes-Festival in der Rubrik Un Certain Regard lobend erwähnt und auf der Viennale 2021 vertreten, ist diese etwas andere Coming-of-Age-Story der salvadorianischen Filmemacherin Tatiana Huezo das sensible, pietätvolle Tagebuch eines Alltags irgendwo im mexikanischen Hochland – in einem Dorf, wo die staatliche Exekutive fast nichts zu sagen hat und jene Kartelle, die sich gerade an die Macht gemeuchelt haben, alles. Noche de Fuego (oder auch A Prayer for the Stolen) lässt seine Protagonistinnen aus freien Stücken das empfinden, was sie wohl für eine gute Freundschaft empfinden würden, dabei gerät die Interaktion der drei zu einem authentischen, bezaubernden Miteinander, das unter ständiger Gefahr gelebt werden kann: Das erste Kokettieren mit einem Jungen, die erste Monatsblutung, der schulische Unterricht und der Twist mit der Mutter, die nicht will, dass Ana zu ihrer Weiblichkeit steht. Schminke ist verboten, das Haar muss kurz geschoren sein. Im Vergleich zur direkten Unterdrückung der Frau in Afghanistan ist diese indirekte Unterdrückung nicht weniger belastend. Da bangt man um jede Szene in Freiheit, da spürt man schon den aufkommenden Schrecken. Da stresst der Moment und macht Angst, wenn Ana in der Grube im Garten hyperventiliert, wenn die Menschenhändler kommen.

Noche de Fuego ist ein ruhiger, sanfter, aber auch ungemein erschreckender Film, der das Unmögliche verortet und mit Fürsorglichkeit und Mitgefühl für seine verletzlichen Figuren den Fokus vom nahen Osten auf Mittelamerika legt, wo das Menschenrecht genauso wenig zählt – weil es nicht eingefordert werden kann.

Noche de Fuego

7 Gefangene

MIT FAUSTRECHT ZUM TRAUMJOB

8/10


7Gefangene© 2021Aline Arruda/Netflix


LAND / JAHR: BRASILIEN 2021

REGIE: ALEXANDRE MORATTO

CAST: CHRISTIAN MALHEIROS, RODRIGO SANTORO, JOSIAS DUARTE, VITOR JULIAN, LUCAS ORANMIAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Wie seht ihr das? Arbeiten, um zu leben? Oder leben, um zu arbeiten? Ich wähle ersteres, obwohl der hier verwendete Begriff von Leben in unseren Breiten ganz anders aufzufassen ist als zum Beispiel in Afrika oder Südamerika. Dort ist egal, wie man es angeht, es kommt immer aufs dasselbe raus. Nehmen wir mal Brasilien unter Bolsonaro. Dort ist Arbeit eine Gewalt, die über Leben und Tod entscheidet. Vom Leben selbst, von einem guten Leben wie wir es kennen, ist keine Spur zu sehen. Einen solchen ernüchternden Blick auf die Sklaverei des 21. Jahrhunderts und ihre perfiden Mechanismen gewährt sozialpolitisch interessierten Zusehern die heuer wohl größte Überraschung auf Netflix: 7 Gefangene von Alexandre Moratto, der seine Premiere bei den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig feierte.

Der südamerikanische Film schafft es auf Netflix immer wieder, wahre Perlen zwischen dem üblichen Einheitsbrei zu verstecken. Man muss die Augen nur offenhalten, dann gibt’s Erlebnisse jenseits des Mainstreams wie Nobody Knows I’m Here oder Tragic Jungle, die auch jede Menge Lokal- und Zeitkolorit mitbringen. 7 Gefangene, ein schonungsloser Sozialthriller, sieht sich auf Augenhöhe mit den nicht weniger düsteren Dramen City of God oder Tropa de Elite, nur bewegt sich Morattos Film in einem Dunstkreis, der auch in Europa zu finden sein kann, dem menschenrechtlichen Radar aber weitgehend verborgen bleibt. In solche, von Leuteschindern ausstreckten Fänge gerät der kluge und motivierte Mateus, als er mit drei Freunden nach Sao Paolo reist, um dort auf einem Schrottplatz seine Arbeit zu beginnen. Dort lässt sich gutes Geld verdienen – meint er. Bis allen langsam sickert, dass Betriebschef Luca (intensiv und ambivalent dargeboten von Rodrigo Santoro) nichts anders im Sinn hat als seine Gefangenen zur Akkordarbeit zu zwingen, ohne auch nur ein Real dafür springen zu lassen. Aufbegehren bringt alles nichts, denn die, die das Sagen haben, sind obendrein bewaffnet. Was bleibt einem wie Mateus also anderes übrig, als eine ganz andere Taktik anzuwenden, um in einer brutalen Welt wie dieser dennoch erfolgreich zu sein.

Ramin Bahrani, der mit dem ebenfalls auf Netflix erschienenen Der weiße Tiger eine ähnliche, aber parabelhaftere Geschichte erzählt, hat – niemanden wundert’s – 7 Gefangene mitproduziert. Es ist ein Film, der von Anfang an harte gesellschaftliche oder moralische Kontraste vermeidet. In diesem Brasilien, zwischen glänzenden Hochhausfassaden, Korruption und Tequila, herrscht wirtschaftliche Anarchie. The Purge für den Arbeitsmarkt: Menschenhandel, Missbrauch, Gewalt und der Sieg des Gewiefteren, der sich auf den Schultern der anderen aus der Stagnation kämpft und das moralische Bewusstsein auf das Machbare reduziert. Dieses Streben gestaltet sich als Kampf in einer Arena jenseits von Kollektivvertrag und sozialem Arbeitsrecht. Hier sagt an, wer den Dreh raushat. Die eigene Moral funkt hier dazwischen und zeigt sich so lange entrüstet, bis die Sympathie für den Gewinner diesen zur Identifikationsfigur macht, auch wenn die Welt mit unseren Idealen nicht mehr zu retten ist. Alternativen gibt es aber dennoch – und die stellt Moratto, ohne sie zu beurteilen, auf packende und atemlose Weise zur Auswahl.

7 Gefangene

Beckett

GRIECHENLAND SEHEN… UND STERBEN

7/10


beckett© 2021 Netflix


LAND / JAHR: ITALIEN, BRASILIEN, GRIECHENLAND, USA 2021

BUCH / REGIE: FERDINANDO CITO FILOMARINO, NACH DEM ROMAN VON DENNIS ALLAN

CAST: JOHN DAVID WASHINGTON, ALICIA VIKANDER, BOYD HOLBROOK, VICKY KRIEPS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Becketts gibt es viele. Samuel Beckett, der Schriftsteller. Tobias Beckett aus dem Star Wars-Universum. Thomas Becket (nur mit einem t), der ehemalige Erzbischof von Canterbury, verewigt in Jean Anouilhs Klassiker Becket oder die Ehre Gottes. Von Gott scheint in dieser vorliegenden Netflix-Premiere ein ganz neuer, taufrischer Beckett allerdings so ziemlich verlassen zu sein. Denn der ist schlicht und ergreifend zur falschen Zeit am falschen Ort, wobei die Koordinaten gar nicht mal so schlecht gesetzt sind. Schauplatz ist nämlich Griechenland, nicht erst seit STS der Inbegriff von Urlaub und Ausstieg aus der Norm. Wo man gut und gerne mal irgendwann dortbleiben würde, um die Füße in den weißen Sand zu stecken, vorzugsweise mit einer Flasche Rotwein in der Hand (an meine Leser, die den Austropop-Klassiker nicht kennen – Sorry an dieser Stelle). Dieser Beckett, gespielt von John David Washington, ist jedoch weit davon entfernt, sich an den Strand zu setzen. Rund um Athen ist dieser nämlich mit seiner Flamme April (Alicia Vikander) per Auto unterwegs, um in der kühleren Nebensaison eben genau das zu machen, wofür die Griechen nebst Wiege der Antike bekannt sind: Urlaub. Der findet alsbald eine tragische Wendung, als Beckett beim Sekundenschlaf in eine Hauswand kracht. Die Freundin segnet das Zeitliche, Beckett schält sich aus den Trümmern, ruft um Hilfe, sieht Personen im Haus, die eigentlich gar nicht da sein dürften. Als er dies später zu Protokoll gibt, beginnt eigentlich erst der wirkliche Horror – obwohl man meinen könnte, ein Unfall mit Todesfolge bietet schon genug davon. Nein – Beckett soll nämlich, gejagt von Unbekannten, ebenfalls ins Gras beißen. Also ist er auf der Flucht – für den Rest des Films.

Klingt simpel – ist es prinzipiell auch. Ein Mann auf der Flucht ist ein wiederholtes Szenario, birgt aber scheinbar unerschöpfliches Potenzial und endlose Details, mit denen man den eigentlichem Plot ausschmücken kann. Dem Italiener Ferdinando Cito Filomarino waren die Möglichkeiten anscheinend bewusst. Entsprechend rastlos setzt er seinen Star aus Tenet und BlacKkKlansman in Szene, der schließlich auch weiß, dass er als Gehetzter alles geben muss: Blut, Schweiß und Tränen. Und die absolute Erschöpfung. Das macht er dann auch. Er blutet, schwitzt und weint, stets am Rande der Verzweiflung. So desperat haben wir den toughen Amerikaner noch nie gesehen. Und wieder bestätigt sich, was sich bereits bei Tenet offenbart hat: John David Washington wäre der ideale James Bond. Nicht nur, weil er im Anzug und Krawatte das Bild von einem kompetenten Professionisten abgibt, sondern weil er – ob als Flüchtender, Jagender oder Improvisator – einen langen Atem hat. Den braucht man im Geheimdienst ihrer Majestät. Und da sind allerhand Blessuren inbegriffen. Auch die bekommt Washington reichlich. Dennoch schiebt er sich mehr schlecht als recht durch den Karst und durch das Chaos einer von politischen Unruhen heimgesuchten, griechischen Hauptstadt.

Beckett ist ein energischer Europa-Thriller im Stile von Mörderischer Vorsprung mit Sidney Poitier oder den Bourne-Filmen von Paul Greengrass. Die von Mitteleuropäern heißgeliebte Schatzkiste an Inseln und Kultur zeigt uns allerdings bewusst die kalte Schulter. Im Land der Sommersonne ist es stets grau, kalt und voller Wolken. Athen ein Moloch baufälliger Häuser, als wäre man in der dritten Welt. Auch das ist Griechenland, ungefähr so ungeschönt wie in Alexis Sorbas. Da konnte Anthony Quinn zumindest die Stehaufmännchen-Mentalität kreativer heimischer Überlebenskünstler im weltvergessenen Sirtaki-Tanz honorieren. In Beckett tanzt kein Grieche, sondern wettert und protestiert. Der mit der Überlebenskunst ist diesmal ein Amerikaner, der irgendwann mal vom MI6 Post bekommen könnte.

Beckett

Jungle Cruise

ALLES IM FLUSS

6/10


junglecruise© 2021 The Walt Disney Company


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: JAUME COLLET-SERRA

CAST: EMILY BLUNT, DWAYNE JOHNSON, JESSE PLEMONS, JACK WHITEHALL, ÉDGAR RAMIREZ, PAUL GIAMATTI U. A. 

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Damals, am Amazonas – das war was. Ausgehend von Manaus, ging es vor einigen Jahren im Rahmen einer Fototour zu den rosa Flussdelphinen, die auch im Abenteuer Jungle Cruise aus dem Wasser hechten. Ein unvergessliches Erlebnis. Was man auch nicht vergisst, ist die sagenhafte Hitze, kombiniert mit extremer Luftfeuchtigkeit. Der Schweiß tritt aus allen Poren, schon bei der kleinsten Bewegung. Und ja, auch Emily Blunt und Konsorten müssen ab und an darunter leiden. Dwayne Johnson nicht so, der ist das gewöhnt, betreibt er doch schon seit geraumer Zeit Sightseeing mit Touristen. Doch diesmal soll alles ganz anders kommen, denn die Figur von Emily Blunt – ein gewisser weiblicher Indiana Jones in khakifarbenen „Buxen“ – ist auf der Suche nach einer extrem seltenen Blüte, die jede nur erdenkliche Krankheit, so sagt man, heilen kann (womöglich auch Covid-19). Sie ist aber nicht die einzige, der diese Entdeckung gelingen will. Auch ein Deutscher namens Prinz Joachim ist mit seinem U-Boot alsbald in Brasilien eingetroffen, um dem knorrigen Schifflein von Captain Frank hinterherzujagen.

Klingt tatsächlich nach Steven Spielbergs abenteuerliche Eskapaden mit Harrison Ford. War‘s dort die Bundeslade, der heilige Gral oder die Kristallschädel der Aliens, ist es diesmal der Benefit einer bescheidenen Natur, die glatt den Medicine Man auf den Plan gerufen hätte. Jungle Cruise schippert im gleichen Fahrwasser wie Indiana Jones, erreicht aber keineswegs die kultgewordene Klasse des schlapphuttragenden Archäologen. Da braucht es schon ganz andere Autoren, die sich nicht unbedingt auf eine legendäre Attraktion aus Disneyland beziehen müssen. Gut, dieses narrative Schicksal hatte Pirates of the Carribean ebenso zu verarbeiten, doch das Script war da deutlich besser – zumindest, was den ersten Teil anbelangt. Wir wissen, wohin das in den Sequels geführt hat. Jungle Cruise hinkt plotmäßig schon mit seinem Einstand hinterher. Da kann Dwayne Johnson noch so der knuffige Hüne sein und Emily Blunt noch so der Rolle von Catherine Hepburn aus African Queen nacheifern – beiden sieht man an, dass ihnen nicht viel freies Spiel bleibt. Sie sind Teil einer durchgetakteten Großproduktion, die artig ihre marketingrelevanten Hausaufgaben gemacht hat und nichts dem Zufall überlassen will.

Ich höre die Verantwortlichen für dieses Projekt bei Disney förmlich reden. Wie sie Bezug nehmen auf das Fluch der Karibik-Franchise, welches, von vorne bis hinten nachanalysiert, gerne als Schablone dienen darf für einen ganz anderen Publikums- und Besucherliebling – nämlich für die Kreuzfahrt durch den Dschungel. Und dabei passiert, was Filme wie diese so austauschbar macht: sie sind nach gewissen, immer gleichen Erfolgsformeln inszeniert, sind punktgenau auf Statistiken abgeschmeckt und fühlen sich in ihrer Kalkulation enorm sicher. Was dabei rauskommt, ist vorhersehbar. Was dabei entsteht, sind szenische Attraktionen, die eher holprig miteinander verknüpft sind. Es lässt sich sowohl Jack Sparrow als auch Humphrey Bogart in Dwayne Johnsons Figur wiedererkennen, es lassen sich gar einige wiederkehrende Motive aus der Karibik-Reihe entdecken, die etwas deplatziert wirken, aber was sich nicht entdecken lässt, ist ein Gefühl für Spontanität. Der Fluch des Amazonas sieht ja recht pittoresk aus, doch gleichermaßen wenig inspirierend. Manchmal ist es auch zu viel CGI, insbesondere das penetrante Geblühe am Rande des Dschungels. Das mag zwar für verwöhnte Park-Abenteurer eine gefällige Wildnis sein, doch kommt ihr der Ehrgeiz abhanden, rau, gefährlich und unberechenbar zu sein.

Der Durchbruch gelingt Jungle Cruise als atemberaubendes Sommer-Event nicht so wirklich. Für eine Schifferlfahrt durchs Disney-Bilderbuch mit grundlegend sympathischen Schauspielern kann man aber getrost mit an Bord gehen. Allerdings mit dem Gefühl, dass alles nur Programm ist.

Jungle Cruise

Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra

VOM VERRATEN DER VERRÄTER

7/10


iltraditore© 2020 Pandora Filmverleih


LAND: ITALIEN, FRANKREICH, DEUTSCHLAND, BRASILIEN 2019

REGIE: MARCO BELLOCCHIO

CAST: PIERFRANCESCO FAVINO, MARIA FERNANDA CÃNDIDO, FABRIZIO FERRACANE, LUIGI LO CASCIO, FAUSTO RUSSO ALESI U. A. 

LÄNGE: 2 STD 33 MIN


Anfangs scheint es noch so, als wäre die italienische True Story rund um Mafioso Tommaso Buscetta so eine ähnlich tragende, romantisierte Gewaltoper wie Francis Ford Coppolas natürlich meisterliche Trilogie rund um die Familie Corleone. Wir finden uns plötzlich an der sizilianischen Küste wieder, am Tage der heiligen Rosalia am 4. September 1980. Die Familien der Cosa Nostra kommen zusammen, um sich zu verbrüdern, zu plaudern und zu feiern. Beziehungen werden vertieft und neue gesponnen. Es scheint, als wäre die Mafia sowas wie ein gesitteter Adel, dabei war sie zu den damaligen Zeiten längst von einer gewissen Tollwut befallen, die in blinder Machtgier und Raserei ganze Sippen bis auf den letzten Blutstropfen über die gewetzte Klinge springen ließ. Tommaso Buscetta hat sowas schon geahnt – und sich aus dem Staub gemacht Richtung Südamerika. Dorthin, wo regelmäßig allerlei Verbrecher auswandern, in der Hoffnung, unter falschem Namen nicht mehr gefunden zu werden. Dieser Buscetta war noch dazu aus dem Gefängnis von Turin geflohen – also Gründe gibt es mehrere, um zwangsläufig zu privatisieren. Doch der Arm der Justiz ist lang. Er reicht auch bis nach Rio – und macht den Schurken dingfest. Der aber will vor seiner Vergangenheit nicht mehr davonlaufen. Ein Ehrenmann, wie er selbst einer zu sein glaubt, muss für seine Taten gradestehen. Also packt er aus. Als Kronzeuge gegen all die Schurken, die längst nicht mehr dem „noblen“ Codex des mafiösen Geheimbundes Folge leisten.

Bis auf die glamouröse Feier Anfang des zweieinhalbstündigen Films hat die sizilianische Mafia hier nichts mehr vom imperialen Schimmer, den sie in Filmen und Romanen immer wieder gerne aufpoliert bekommt. Die Mafia ist hier ein fast schon zerlumpter Haufen herumballernder Figuren ohne Moral, nicht viel mehr als Meuchelmörder. Irgendwo auf der Spitze dieser von Buscetti erläuterten Pyramide sitzt der Kommandant und hält das Zepter in der Hand. Während der sogenannten Maxi-Prozesse gegen gefühlt alle Mitglieder des Kartells werden viele davon auch verurteilt. Wie und wodurch – das spart Regisseur Marco Bellocchio so ziemlich aus, denn Zeuge Buscetta allein kann es nicht gewesen sein. Verurteilen kann man nur jene, die unter akkuraten Beweisen einknicken. Also muss es noch jede Menge Belastendes gegeben haben. Nur was? Das hätte ich gerne noch gewusst. Aber dann wäre der Film um die doppelte Spielzeit länger geworden. Il Traditore – Als Kornzeuge gegen die Cosa Nostra ist daher in erster Linie kein Film über die Mafiaprozesse, sondern ein biographisches Justizdrama um den Charmebolzen Buscetta, der sich zur Wahrheit durchringt und mit den Sünden seiner Vergangenheit reinen Tisch machen will. Perfrancesco Favino verleiht seiner historischen Figur etwas unnahbar Charismatisches, gleichermaßen aber auch etwas abstoßend Chauvinistisches und Patriarchalisches, wie das Klischee eines Mafioso eben. Zwischen den Rissen dieser errichteten Zitadelle aus Selbstgefälligkeit und Zugeständnis blitzt eine von Furcht und Erschöpfung wie gelähmte Seele, die von Alpträumen geplagt wird.

Il Traditore ist trotz seiner Überlänge ein in seinen Szenen klug selektiertes, straffes Biopic, bei dem man allerdings leicht die vielen Namen, Familien und Beziehungen durcheinanderbringt, was aber den kathartischen Grundton des Films und die zentralen Figuren nicht vernebelt. Die Mafia selbst wird hier trotz ihres weitreichenden Netzes und ihrer scheinbar unerschütterlichen, zeitlosen Struktur zu einem bröckelnden, obsoleten Konstrukt, das angreifbar wird und sich aushebeln lässt. Das kann man als Entrümpelung eines Mythos verstehen, der sich, verfolgt man die Fakten, längst überholt hat. Oder mittlerweile zu etwas ganz anderem geworden ist.

Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra

Bacurau

DAS DORF DER UNBEUGSAMEN

6,5/10

 

bacurau© 2019 MUBI

 

LAND: BRASILIEN, FRANKREICH 2019

REGIE: KLEBER MENDONÇA FILHO

CAST: SÔNIA BRAGA, UDO KIER, BARBARA COLEN, THOMAS AQUINO, SILVERO PEREIRA, THARDELLY LIMA U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN 

 

Brasilien, ein wunderbares Land. An landschaftlicher Vielfalt, Biodiversität und Lokalesprit kaum zu überbieten. So beeindruckend Brasilien aber auch ist, an gleichviel schwierigen Problemen muss das Land herumkauen. Da ist erstmal dieser Präsident, der das Land, dem er verpflichtet ist, an den Meistbietenden verhökert, keine Rücksicht auf Ethnien nimmt und die grüne Lunge unseres Planeten roden lässt. Da gibt es jede Menge Korruption, reaktionäres Gedankengut direkt aus der Chefetage und sonstige zweifelhafte Vorgehen, den riesengroßen Staat gefügig zu machen. Wie so etwas funktionieren kann – und gleichsam doch nicht – das zeigt ein südamerikanischer Killer-Western mit hohem Bodycount, der in offenen Wunden bohrt und mit jeder Menge Sarkasmus das gesellschaftspolitische Versagen eines gewählten Establishments vorführt.

Dabei erinnert Bacurau streckenweise stark an den diesjährigen Skandalfilm The Hunt von Craig Zobel. Gleichermaßen aber ist Bacurau ein Werk, das ähnlich huldigend die Genres mixt und mit genau jener Art von Gewaltdarstellung arbeitet, wie Quentin Tarantino es tut. Ein dramatisches Märchen, das zwischen kauzigem Trash und explizit eingeforderter Gerechtigkeit Probleme auf ungestraft radikale und wohlwollend naive Art der Vergangenheit angehören lässt. War das nicht schon bei Inglourious Basterds so? Oder bei Once Upon a Time … in Hollywood? Bacurau ist genauso – es gibt den Verlieren zumindest im Kino die Möglichkeit, ordentlich zurückzuschlagen.

Bacurau gibt es nicht wirklich. Gleichzeitig allerdings schon. Ein nachtaktiver heimischer Vogel wird so bezeichnet. Das Dorf selbst allerdings, diese kleine Gemeinde mit lokalem Museum als einzige Touristenattraktion, ist alles anderer als das. Die paar Gestalten müssen sich nämlich schon länger mit dem Provinzbürgermeister herumschlagen, der den Leuten den Wasserhahn zudreht. Eine Bande Rebellen wettert dagegen. Zur selben Zeit aber geschehen seltsame Anschläge in der Gegend, was folgt sind brutale Morde an ganzen Familien. Könnte sein, dass eine Gruppe Ausländer hier sportlich aktiv geworden ist und nur so zum Spaß die Bewohner des Dorfes auslöschen will. Könnte sein, dass der Mann mit dem stahlblauen Blick, Udo Kier, dahintersteckt. Doch wie auch immer – Bacurau lässt sich nicht einschüchtern. Und rüstet sich zum kollektiven Widerstand.

Im Werk des auch im privaten Leben politisch aktiven Regisseurs Kleber Mendonça Filho geht´s deutlich gesellschaftskritischer zu als in The Hunt. Die Kritik richtet sich hier auch mehr auf das politische Establishment, das versucht, seine Bürger ruhig zu stellen und einzulullen, während die kleine Apokalypse hereinbrechen kann. Trotz all der Gewalt und des Blutes und auch der hemmungslosen Rache der unbescholtenen Einwohner hat Bacurau etwas Stolzes und Befreiendes. Ein eigensinniger, mit folkloristischem Gitarrensound untermalter Shootout, der eine simple, aber aufrichtig wütende Geschichte erzählt, stellvertretend für ein ganzes Land.

Bacurau