Bird (2024)

GEFIEDERTE FREUNDE

8/10


© 2024 House Bird Limited


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA, FRANKREICH, DEUTSCHLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: ANDREA ARNOLD

CAST: NYKIYA ADAMS, FRANZ ROGOWSKI, BARRY KEOGHAN, JASON BUDA, JAMES NELSON-JOYCE, JASMINE JOBSON, FRANKIE BOX, RHYS YATES, JOANNE MATTHEWS U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Sie singen alle gemeinsam Coldplays Love Song Yellow nach, damit die vermaledeite Kröte endlich ihren halluzinogenen Schleim spuckt. Barry Keoghan als viel zu junger Vater Bug, verziert mit allerlei Tattoos aus Brehms Tierleben, Band Insekten und Gliederfüßer, hält das Amphib dicht vor seinem entblößten Oberkörper, ein anderer hält dem Tier eine Glasscheibe vor. Mit diesem animalischen Auswurf, so Bug, will er sich und seine Familie finanziell sanieren. Und im Übrigen seine kurz bevorstehende Hochzeit ausrichten. Dieser Figur eines völlig aus dem Leben geworfenen und allmählich wieder zurückfindenden Menschen gibt Keoghan (oscarnominiert für The Banshees of Inisherin, Saltburn) Leben, schenkt ihm Liebe und Echtheit. Obwohl der Mann vieles nicht auf die Reihe bekommt. Schon gar nicht die Erziehung seines Nachwuchses. Das sind Hunter (Jason Buda), der in die Fußstapfen seines kumpelhaften Vaters tritt und seiner Freundin ein Kind macht – und Bailey (Nykiya Adams), ein zwölfjähriges Mädchen, das sich ihrer sexuellen Identität noch nicht ganz bewusst ist oder aber diesen Geschlechterrollen bis dato keine Beachtung geschenkt hat, da es dafür wirklich keinerlei Zeit und Raum gab, um sich selbst zu definieren.

Bailey ist die zentrale Protagonistin des Films, Andrea Arnold folgt ihr auf Schritt und Tritt, ohne sie zu bedrängen, allerdings auch, ohne sie loszulassen. Dieser soziale Käfig aber, oft als abstrakte Gitterstruktur im Bild, ist wieder ein anderer: Bird schildert schließlich die niederschmetternde soziale Tristesse in der Hafenstadt Gravesend nahe London. Von allerlei Graffiti beschmierte Wände sind die Schmuckstücke dieser Gegend, wohl auch, weil mitunter so manche Weisheiten zu lesen sind, die das Leben bejahen und seine womöglich sozial benachteiligten Leser dazu auffordern, nicht aufzugeben. Immer wieder streut Arnold gesprayte Oneliner ins Bild, ob auf dem Fenster des Linienbusses, in Baileys Zimmer oder am Bahnhof der Stadt. Diese Worte schnappt das Mädchen immer wieder auf. Und noch etwas: Es sind die Vögel dieser Stadt, die ihm wohlgesonnen sind. Ob Möwe, Krähe oder anderes: Baileys ungerufene gefiederte Begleiter scheinen Hoffnungs- und Freiheitsträger zu sein – diese Metapher setzt Arnold nicht nur ins Verhältnis zu des Vaters Affinität für niedere Tiere, die seinen sozialen Status determinieren. Bailey will und kann mehr. Und da setzt das soziale Märchen ein, die Poesie sickert in diese entbehrungsreiche Verwahrlosung aus allerlei Defiziten, die längst das Jugendamt hätten alarmieren sollen. Diese Welt ist aber frei von Regeln, es ist der sich selbst überlassene Untergrund, den die gutsituierte Gesellschaft neben die Mülltonne stellt.

Da erscheint Franz Rogowski, einzigartiger Schauspielexport aus Deutschland, eine schillernde, nonkonforme Person, in all seinen Rollen, konstant ausgestattet mit einer charakterlichen Metaebene, von der man meinen könnte, sie sei nicht von dieser Welt. Hier ist er titelgebender Bird, ein heimatloser Vagabund ohne Zugehörigkeit. Entkoppelt, entrückt, melancholisch. Bailey gewinnt ihn als Freund, der seinen Vater sucht. Bald scheint es, Bird ist mehr als das. Bird hat eine Aufgabe, eine Bedeutung. Ist er vielleicht nur Illusion? Nicht nur für Bailey selbst, sondern auch für alle anderen, die Hoffnung suchen oder Grenzen brauchen?

Andrea Arnolds analoger Filmstil ist die richtige Klaviatur in einem metaphysischen Sozialdrama, das niemanden kalt- oder seinem Schicksal überlässt. Hier ist das Gute am Werk, menschliche Werte, Wärme und überhaupt: Die Geborgenheit. Wie Bailey ihren Weg durch all diese Widrigkeiten findet, an ihrer Seite der seltsame Vogelmensch, der stets auf den Dächern sitzt und über seinen Schützling wacht, mag an Wim Wenders Der Himmel über Berlin erinnern. Und anders als das Betroffenheitskino des Ken Loach zaubert Arnold eine urbane Ballade der Heimatsuchenden und Heimatlosen auf die Leinwand, die imstande sind, ihr Leben umzugestalten. Bailey bekommt vieles in die Hand gegeben, zwar nicht durch ihre Familie, aber durch sich selbst – und durch die Obhut höhere Mächte.

Bird (2024)

Disco Boy (2023)

TANZEN IM RHYTHMUS DES GEGNERS

5,5/10


discoboy© 2023 FILMS GRAND HUIT – DUGONG FILMS – PANACHE PRODUCTIONS ET LA COMPAGNIE


LAND / JAHR: FRANKREICH, POLEN, BELGIEN, ITALIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: GIACOMO ABBRUZZESE

CAST: FRANZ ROGOWSKI, MORR N’DIAYE, LAETITIA KY, LEON LUČEV, MATTEO OLIVETTI, ROBERT WIECKIEWICZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Bevor die Vorstellung beginnt, folgender Verweis: Epileptiker seien gewarnt vor starkem Stroboskoplicht während der Ausstrahlung des Films. Tatsächlich sind die Szenen, die dem titelgebenden Disco Boy in Aktion zeigen, äußerst dünn gesät – und die blinkenden Lichter, die das Auge malträtieren, glänzen durch schonende Abwesenheit. Denn Franz Rogowski hat als Weißrusse Aleksej mit Ausdruckstanz vor rhythmisch kreisendem Gefolge herzlich wenig am Hut. Diesen Traum träumt jemand ganz anderer. Beide werden im Laufe der Geschichte aufeinandertreffen, diese Begegnung wird Lebenswelten über den Haufen werfen. Am Ende werden sich die Fremden geborgen fühlen und die Geborgenen fremd, es ist ein assoziatives Spiel mit Träumen, Erscheinungen und Astralreisen. Wenn man es auf US-banalen Fantasyklamauk herunterbrechen würde, wäre der vergleich mit Freaky Friday als Arthouse-Kinoversion für vermeintlich Intellektuelle gar nicht mal so verkehrt.

Mit dem Wechselspiel zwischen den Identitäten haben sich schon wunderbare Filmwerke machen lassen. Disco Boy gehört nicht zwingend dazu. Er nimmt seine Geschichte, obwohl humorbefreit, nicht ganz so ernst, wie er uns, seinem Publikum, weismachen will. Hinter dem Metaphysischen der Existenz liegt die banale Welt eines Zauberspiels, das mit im wahrsten Sinne des Wortes überaus augenscheinlicher Symbolik spielt.

Dieser Aleksej also schafft es über Polen bis nach Frankreich, dort treibt es ihn zuallererst ins Rekrutenbüro der Fremdenlegion. Dort, so sagt der Film, können selbst illegal Eingewanderte ihren Dienst in die gute Sache von Frankreichs Militärmacht stellen. Nach fünf Jahren des Überlebens winkt die französische Staatsbürgerschaft und ein wohlklingend frankophoner Name. Nur bis dahin heisst es ins saftige Gras des Dschungels beißen, wenn es zum Beispiel nach Nigeria geht, um französische Geschäftsmänner aus den Klauen der Rebellengruppe MEND (Movement of the Emancipation of Niger Delta) zu befreien. Aleksej macht seine Sache gut, alles sieht danach aus, als hätten wir es mit feuchtheißer Dschungelaction zu tun, doch der Schein trügt. Auf der anderen Seite steht schließlich Jomo (Korr N’Diae), Anführer der Gruppe und dessen Schwester Udoka (Laetitia Ky), die schon längst von hier fortwill. Beiden ist eigen, dass sie unterschiedlich gefärbte Augen haben, eines hell, das andere dunkel. Als Aleksej dann im Dickicht des nächtlichen Dschungels auf Jomo trifft, gibt’s für einen von beiden kein Morgen mehr. Was dann passiert, entzieht sich jeglicher Realität, wie so oft in diesem vom Geisterglauben und dem Transzendentem durchdrungenen Afrika, dass, auch schon wie in Omen, die Tore zu diversen Zwischenwelten offenhält.

Fremde in der Fremde, die in die Fremde gehen. Giaccomo Abbruzzese erzählt in seinem Spielfilmdebüt eine entrückte Fabel mit schönen, aber uninspirierten Bildern. Afrikanischer Kitsch trifft auf Expendables, ein selbstbewusster Stil will sich nicht so recht durcharbeiten durch all das fantastisch-reale Flirren. Es ist ein Effekt, den man ab und an in den Filmen von Werner Herzog entdeckt – sperrige Sequenzen mühen den Zuseher ab, obwohl der Plot per se gar keine Anstrengung erfordert. Prätentiös wäre das richtige Wort, Bescheidenheit in diesem astralen Konflikt entspricht nicht den Sehnsüchten der beiden Männer, um die es hier geht. Die Sehnsucht nach einem alternativen Lebensentwurf und die Möglichkeit, diesen auch zu praktizieren, treibt die Fremden alle um. Viel mehr weiß Abbruzzese dann nicht mehr zu berichten. Weit vor Mitte des Films wird klar, welche Richtung das metamorphe Schicksal einschlagen wird. Viel Mühe macht sich Disco Boy nicht, im Streben nach einer schmucken Fassade für sein Existenzdrama scheut der Film aber nie zurück. Die Möglichkeit, etwas tiefer in diesen Kosmos einzudringen, wird verweht, als hätte Disco Boy zwei eigene Türsteher, die unsereins nicht einlassen. Gerne hätte ich mehr von Udoka erfahren. Schöner wäre es gewesen, Rogowski und eben jene aparte Gestalt im Gewissenkonflikt aufeinandertreffen zu lassen. Das Simple jedoch obsiegt. Der Look, obgleich unnahbar, sitzt. Erfüllte Sehnsüchte fühlen sich anders an.

Disco Boy (2023)

Passages (2023)

MANN KANN NICHT ALLES HABEN

7/10


passages© 2023 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH 2023

REGIE: IRA SACHS

DREHBUCH: MAURICIO ZACHARIAS, ARLETTE LANGMANN, IRA SACHS

CAST: FRANZ ROGOWSKI, BEN WISHAW, ADÈLE EXARCHOPOULOS, ERWAN KEPOA FALÉ, CAROLINE CHANIOLLEAU, ARCADI RADEFF, THIBAUT CARTEROT, THÉO CHOLBI, OLIVIER RABOURDIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Da steht man nun an der Weggabelung, links die eine Tür, rechts die andere. Eine von beiden genießt den Vorzug, durch beide gleichzeitig lässt sich nicht treten. So ist das nun mal im Leben. Es nennt sich Entscheidung. Wenig förderlich fürs Allgemeinwohl und vor allem auch für einen selbst ist es, eine solche nicht fällen zu können. Der Verzicht der einen Möglichkeit bringt jedoch den Fokus auf die andere. Es entsteht Klarheit, es setzt Progression ein, im Zuge dessen auch Ruhe, Verantwortung und Verlässlichkeit – gerade dann, wenn es heißt, Beziehungen einzugehen oder nicht. Das Spektrum dabei ist breit gefächert – von der freien bis zur fixen. Von der lockeren Liaison bis zur Familiengründung. Menschen wie Tomas, der in Ira Sachs knackigem Beziehungsdrama in völliger Verwirrung alles will, nur nicht nichts, sind Gift für andere, die auf Vertrauen setzen. Leicht wäre zu vermuten, dass dieser Tomas – selbstironisch und mit viel Verständnis für seine Rolle dargeboten von Franz Rogowski, dem besten nuschelnden Schauspieler des deutschsprachigen Raums – das pathologische Portrait eines Borderliners skizziert, denn manche Verhaltensweisen sprechen dafür. Andere wiederum nicht. Irgendwo dazwischen scheint sich dieser Charakter zu befinden, und ein Teil davon unterliegt auch der Selbstsucht.

Dieser umtriebige Mann also, haltlos dahintreibend im Strom seiner Bedürfnisse, ist homosexuell (bislang wohlgemerkt) und lebt in einer Ehe mit dem Engländer Martin. Beide sind Künstler, der eine Regisseur, der andere Kunstdrucker. Als Tomas neuer Film seine Takes durchhat und die Crew zum Abtanzen in die Disco geht, trifft der energische Regisseur auf die junge Agathe (Adéle Exarchopoulos) – mit ihr macht dieser sein Workout am Tanzparkett und später auch daheim in ihrem Appartement, während Martin, wohl eher ein Langweiler und viel mehr Hausmann, sich zu gegebener Zeit abseilt. Dieses Abenteuer allerdings wird das Leben aller drei Menschen umkrempeln. Tomas entdeckt seine Heterosexualität, Martin einen anderen Mann, Agathe die Möglichkeit, eine Familie zu gründen. Es hätte prinzipiell jede und jeder seinen Weg gefunden, würde Rogowskis Figur nicht alles gleichzeitig wollen – seinen Ehemann, Agathe und vielleicht sogar Nachwuchs. Doch so funktioniert Vertrauen nicht, Beziehungen schon gar nicht. Denn nur auf das eigene Gefühl zu hören zeugt von impulsivem Egoismus.

Gewürzt mit leidenschaftlichen, wenig zimperlichen Sexszenen, in denen Rogowski ordentlich aufdreht, kredenzt uns Autorenfilmer Ira Sachs (u. a. Married Life, Frankie) eine dysfunktionale Dreiecksgeschichte, deren Rechnung nicht aufgehen kann. Das Ideal der Abhängigkeiten schildert immer noch Tom Tykwer in seinem scharfsinnigen Liebesreigen Drei. Auch so kann es gehen, doch das dort ist fast schon ein evolutionärer Zufall. In Passages ist der Idealfall vielleicht nur in den Filmen von Tomas zu finden, im realen Leben führt der Fluch der Unentschlossenheit in die Hölle der Einsamkeit – genau dorthin, wo Rogowskis Getriebener niemals hinwill. Weit weg von sentimentalem Lebensverdruss und poetischem Weltschmerz bleiben Sachs‘ Betrachtungen aber dennoch – und das ist gut so. Als Amerikaner, der französisches Kino probiert, geht dieser deutlich hemdsärmeliger an die Sache ran. Hält seine Sozialminiuatur an straff gespannten Zügeln, hat seine Szenen bestens getimt und akkurat geschnitten. Gerade durch diese entrümpelte Erzählweise bahnt sich die Ironie des Schicksals durch die Dimension der Selbstverwirklichung; niemand leidet mehr, als er müsste, und zieht alsbald in pragmatischer Vernunft die Konsequenzen. Das aber tötet nicht die Leidenschaft in einem unterhaltsamen, offenherzigen Film, der große Gefühle nur effizient nutzt und die Qual des Egomanen fast schon als Worst Case-Lehrstück definiert.

Passages (2023)

Freaks Out (2021)

MANEGE FREI FÜR DIE VERFOLGTEN

7/10


freaksout© 2022 Metropolitan Film Export


LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN 2021

REGIE: GABRIELE MAINETTI

DREHBUCH; NICOLA CUAGLIANONE, GABRIELE MAINETTI

CAST: AURORA GIOVINAZZO, FRANZ ROGOWSKI, CLAUDIO SANTAMARIA, PIETRO CASTELLITTO, GIANCARLO MARTINI, GIORGIO TIRABASSI, MAX MAZZOTTA, SEBASTIAN HÜLK, ANNA TENTA U. A.

LÄNGE: 2 STD 21 MIN


Wer weiß, was die vermaledeiten Nazis noch so alles getrieben haben, von dem wir nichts wissen. Was, wenn sie tatsächlich versucht haben, mithilfe paranormaler Phänomene, die dann folglich nicht mehr als solche deklariert, sondern wissenschaftlich eingestuft und nutzbar gemacht wurden, das Schicksal der Welt zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Nicht auszudenken, wenn es ihnen gelungen wäre. Für dieses Szenario hat das Kino schon so einiges über die Leinwand flimmern lassen. Bekanntestes Beispiel: Die Bundeslade aus Jäger des verlorenen Schatzes. In Mike Mignolas Hellboy haben im Okkulten versierte Nazi-Größen das Tor zu einer Dimension geöffnet, aus welcher ein kauziger, roter Teufel entschlüpfte. Und was ist mit der Geheimorganisation Hydra aus dem Marvel-Universum? Red Skull und seine Armee aus Supersoldaten, die alle so zugeschlagen hätten wie Captain America?

Es gibt so einiges an showtauglichen Albträumen, mit welchen nicht nur das Kino, sondern auch das Fernsehen die Niederträchtigkeit der Faschisten noch zusätzlich angereichert hat. Mit Freaks Out setzt der Italiener Gabriele Mainetti zwar nicht noch eins drauf, fügt aber den Psychopathen des dritten Reiches noch einen abgründig-charismatischen Wirrkopf hinzu: Man möchte es nicht glauben, es ist Franz Rogowski. Liebkind des deutschen Independent-Kinos und, wie man sieht, offen für jedes Genre. Warum nicht auch für einen phantastischen Streifen wie diesen, der 2021 bei den Filmfestspielen von Venedig seine Premiere feierte.

Rogowski gibt einen völlig verpeilten Sonderling, der aufgrund seiner zwölf statt zehn Finger aus der Armee ausgeschlossen wurde. Nicht so sein Bruder, der dort ein hohes Tier wurde. Was macht ein „Freak“ wie dieser nun in einer Diktatur, die das Andersartige für vogelfrei erklärt, wegsperrt oder vergast? Durch den gegebenen familiären Einfluss darf Franz als zylindertragender Direktor seine Lust an der Exzentrik zumindest im Rahmen eines von ihm ins Leben gerufenen Zirkusses ausleben, der in Rom Halt macht und der jedoch im eigentlichen Sinne als Kulisse für ein sehr ehrgeiziges Projekt herhalten muss, in welchem der wie Hanussen mit dem Übersinnlichen begabte Wirrkopf die Lösung für all die Probleme sieht, die das Deutsche Reich im letzten Kriegsjahr so umtreibt. Franz will eine Gruppe aus Superhelden zusammenstellen. Und ja, es gibt sie. Sie erscheinen gar in seinen zukunftsweisenden Visionen, die sogar vom Selbstmord Hitlers berichten und noch viel weiter gehen. Diese mit außergewöhnlichen Fähigkeiten begabten Leute sind allerdings eine Theatertruppe für sich, die eigentlich nur die Flucht aus Europa im Sinn haben. Es ist dies ein Wolfsmensch, eine Art Magneto, ein Insektenbeschwörer, ein schrulliger Gandalf und eine Feuerteufelin, die ihre Gabe eigentlich nur als Bürde sieht.

Mutanten mit derartigen Fähigkeiten sind nicht neu. Bei den X-Men gibt es sie alle. Auch bei Hellboy zählen einige Außenseiter, die ihre Andersartigkeit mit nichts verbergen können, zu den Experten des B.U.A.P. Mainettis märchenhafter Kriegs- und Zirkusfilm allerdings lässt die Idee eines alle unter einen Hut bringenden Vereins außen vor. In diesem von Gott verlassenen Italien während des Krieges tummeln sich verlorene Seelen auf den Straßen herum, die wie aus einer tragikomischen Filmballade Federico Fellinis über die Hügel Italiens vagabundieren, auf der Suche nach dem großen Glück. Tatsächlich erinnert so manche Szene an bittersüße Filmmomente des großen Cinecittà-Visionärs – insbesondere das deutlich expositionierte Einzelschicksal des Flammenmädchens Matilde hat erzählerische Kraft und Ausdauer. Ihr Weg zur Selbstbestimmung ist der eine rote Faden des Films, der andere ist Franz Rogowskis leidenschaftlich verkörperte Figur des Antagonisten. Zwei Ausgestoßene, die unterschiedlicher nicht sein können. Die versuchen, sich den Respekt des Normalen zu verdienen, um Teil des großen Ganzen, und vor allem: nicht allein zu sein.

Mit viel Aufwand, enormer Ausstattung und im letzten Drittel ordentlichen Gefechten zwischen Nazis und den italienischen Partisanen gelingt hier ein opulentes Spektakel zwischen bizarrer Sensationsshow wie in Guillermo del Toros Nightmare Alley, dem Dreckigen Dutzend und einem regimekritischen Ur-Pinocchio. Dieser ganze Mix passt so gut zusammen wie die Zutaten für ein wissenschaftliches Experiment, dessen Resultat sein Publikum zum Staunen bringen soll. Für die große Leinwand wäre das fantasievolle und dramatische Abenteuer viel eher geeignet gewesen als so manches, das den Zuschlag fürs Kino letztendlich erhält. Freaks Out ist nur im weitesten Sinne als Superheldenkino zu verstehen und entfernt es sich vom oft geprobten Idealismus begabter Gutmenschen. Letzten Endes will sich hier niemand irgendeinem Credo verschreiben müssen oder von anderen instrumentalisiert werden – diese Bescheidenheit, diese Lust an der Selbstbestimmung, gibt dem blutig-melancholischen Abenteuer seinen Esprit.

Freaks Out (2021)

Luzifer

BERGPREDIGT FÜR DEN HAUSGEBRAUCH

5/10


luzifer© 2022 Indeed Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2021

BUCH / REGIE: PETER BRUNNER

PRODUKTION: ULRICH SEIDL

CAST: SUSANNE JENSEN, FRANZ ROGOWSKI, MONIKA HINTERHUBER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Die Berge Tirols. Was kann erbaulicher, was herrlicher sein für jemanden, der die Natur, die Hochalmen und das ganze drumherum liebt, fernab von Rush Hour und der Hektik einer 24-Stunden-Availability? Inmitten dieser Idylle: eine Hütte jenseits der Baumgrenze. Dort lässt sich zur Besinnung kommen. Seltsam wird’s aber erst, wenn klar wird, wer dort wohnt. Eine Mutter mit ihrem Sohn. Der wiederum ist ein gestandener Mann mit einem Händchen für Greifvögel aller Art. Die Mutter selbst: womöglich eine Ex-Junkie und einem religiösen Fanatismus unterworfen, der inmitten der montanen Urgewalten gerne auch mal das selbst errichtete Credo mit archaischen Komponenten ergänzt. Die Mutter, Maria, hält ihren Sohn, der womöglich aufgrund von Hospitalismus geistig degeneriert zu sein scheint, unter totaler Kontrolle. Seine Welt ist die der geordneten Abfolge bizarrer Rituale, die von Selbstgeisselung über Reinigungsbädern bis hin zur Waschung der eigenen Mutter reicht. Was Ulrich Seidl also nicht „im Keller“ gefunden hat (hat er doch schließlich diesen Film produziert), findet dieser schließlich auf den Bergen. Aber keine Sorge: die bizarren Wege, die Regisseur und Drehbuchautor Peter Brunner seine beiden verpeilten Gestalten gehen lässt, verkommen zumindest anfangs nicht zum Selbstzweck.

Die Geschichte erinnert in ihren Grundzügen an Robert Eggers Kolonial- und Mysterydrama The Witch: Eine Familie lebt im sozialen Abseits ihre religiöse Strenge aus, inmitten einer ambivalenten Natur. Dabei geschehen Dinge, übernatürlicher oder realer Natur, die das komplette Weltbild derer durcheinanderbringen. Waren es bei The Witch die Umtriebe einer Hexe, sind es in Luzifer so ziemlich profane und niederträchtige Methoden eines Bauunternehmens, die Alm, auf welcher sich die Hütte der beiden befindet, auf ein Skigebiet umzukrempeln. Will heißen: Landvermesser treiben ihr Unwesen und scannen mit ihren Drohnen das gesamte Gebiet. Die Drohnen selbst sind zumindest für Sohnemann Johannes ein metaphysisches Ereignis. Denn nachdem die Gemeinde im Tal vergeblich versucht, Mutter Maria davon zu überzeugen, ihr Stück Heimat zu verkaufen, scheint der Teufel seinen Bockfuß in die Tür zu stellen. „Wo ist der Teufel?“ fragt Susanne Jensen in leisem, unheilvollem Flüsterton immer wieder und bedient die Parameter okkulten Horrors. Vielleicht wohnt der Antichrist gar in dieser seltsamen Höhle an der Felswand, wo es so aussieht, als würden die roten, surrenden Flugkörper ihren Ursprung haben. Die beiden müssen also tun, was getan werden muss: Sich vom Teufel befreien, zu Gott beten und dem Verderben die Stirn bieten, das wie ein Fluch immer mehr Tribute fordert.

Felix Mitterer hat in seinen Stücken oftmals Glaube und Heimat als bitteres Narrativ mit moralischen Funken grandios verarbeitet. Luzifer tut ähnliches, bleibt aber eine Einbahnstraße, ein Niedergang in eine Richtung, und zwar bergab. Zum Verhängnis werden – wie in The Witch oder auch Schlafes Bruder – der eigene Wahn, die eigene Angst und daraus entstehende Handlungen im Affekt, die so kurios wie befremdlich wirken und einer völligen Überforderung geschuldet sind. Dabei geht Brunners Film vor allem gegen Ende in die Vollen, wenn unabkehrbare Umstände Franz Rogowski auf eine verschwurbelte Logik besinnen lassen, die er dann auch akribisch in die Tat umsetzt. Bis dahin dominiert Susanne Jensen das Geschehen. Das ehemalige Missbrauchsopfer, nunmehr Autorin, Künstlerin und evangelische Pastorin, die sich mit ihrem Schicksal notgedrungen auseinandersetzen muss, gerät in Brunners Film zum unberechenbaren Unikum: Kahlgeschoren, ausgezehrt und am ganzen Körper tätowiert, findet Jensen die Erfüllung scheinbar darin, sich geißelnd, betend und vorzugsweise nackt zu präsentieren. Luzifer könnte für sie eine Art filmische Katharsis gewesen sein, ein Auffangbecken zur Verknüpfung realer Traumata mit den fiktiven Komponenten eines Bergdramas, den der Aspekt des ökosozialen Außenseiterdramas nur peripher interessiert, im Gegensatz zu Ronny Trockers Bauern-Requiem Die Einsiedler mit Ingrid Burckhardt. Das Nuscheln von Jensen und Rogowski trägt auch nicht dazu bei, den Eskapaden der beiden gerne folgen zu wollen – viel mehr scheint ihre Sprache fast wie ein fremder Dialekt die Abgeschiedenheit kaum zu durchdringen und das Interesse am Zuseher abzulehnen.

Bereichernd und erhellend ist Luzifer nicht, dafür aber so faszinierend wie ein reißerisches Bergdrama, in welchem die Art und Weise des Unglücks die Blicke bannen. Ein kryptischer, oft hässlicher Trip in zwei verkümmerte Geister, die gerne eins wären mit der Natur, sich vor fast allem aber fürchten müssen.

Luzifer

Große Freiheit

NÄHE UNTER MÄNNERN

7/10


grossefreiheit© 2021 Filmladen


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2021

REGIE: SEBASTIAN MEISE

BUCH: SEBASTIAN MEISE, THOMAS REIDER

CAST: FRANZ ROGOWSKI, GEORG FRIEDRICH, THOMAS PRENN, ANTON VON LUCKE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Im Präkambrium sexueller Freiheit war die Vorstellung von Regenbogenparaden, Schwulenbars oder Gay-Communities die absurde Zukunftsvision einer moralisch verwahrlosten Gesellschaft. Homosexualität – ja, die gab es immer. Sie entweder als Krankheit zu behandeln oder eben zu unterdrücken – die einzigen Möglichkeiten, damit klarzukommen. Und ja: Homosexualität mag zwar eine biologische Anomalie sein, doch die Natur ist voll solcher nonlinearen Richtungswechsel, die zum Konzept gehören und somit auch nicht widernatürlich sind. Das zu akzeptieren, fällt einer christlich geprägten Gesellschaft schwer, die Sitte und Kultur auf dem Segen der Päpste aufgebaut hat. Nicht, dass der Prozess bereits ein durchgestandener ist. Es mag zwar alles besser geworden sein – den schiefen Blick gibt es aber immer noch, trotz des Predigens einer modernen Toleranzgesellschaft. Die war Ende der Sechziger noch nicht mal geboren, denn Paragraph 175 – sexuelle Strafhandlungen unter Männern – war eben noch nicht abgeschafft. Einer wie Hans Hoffmann (Franz Rogowski) landet dadurch immer wieder im Knast, erstmals sogar schon nach Ende des Krieges, und zwar raus aus dem KZ und rein in die Zuchtanstalt. Dabei teilt er sich mit dem Wiener Viktor, der Schwule zutiefst ablehnt, eine Zelle. Anfangs stellt sich das Zusammenleben als schwierig heraus, später aber entsteht sowas wie eine indirekte Freundschaft zwischen den beiden, welche die Liebschaften Hoffmanns überdauert.

Es ist, als wäre Sebastian Meises hochgelobter dritter Spielfilm die Gay-Version von Frank Darabonts Die Verurteilten – nur ohne der spannungsgeladenen Komponente eines Ausbruchs. Denn das ist Große Freiheit gar nicht, viel eher sind es die zwischenmenschlichen Intimitäten, die dem großen Gefängnisklassiker aus den Neunzigern ähneln. Und die gehen entschieden in eine Richtung, für die das starke Geschlecht niemals so wirklich Worte finden kann. Für Sebastian Meise gibt es keinerlei Berührungsängste in Sachen Zärtlichkeiten zwischen Männern. Ein Umstand, den ein männliches, heterosexuelles Publikum vielleicht durchaus peinlich berühren kann. Durch die gleichgeschlechtliche Liebe gibt es die Verteilung von Rollen nicht mehr: Der Mann wird zum beschützenden Partner, zumindest einer der beiden ruht als zweitweise schwächeres Geschlecht in den Armen des anderen. Das ist etwas, das unserer Kultur fremd vorkommt. Umso intensiver und ehrlicher nähert sich Meise diesem Umstand, um Vertrauen zu schaffen. Ein Kaliber wie Rogowski, der allerdings verbal schwer zu verstehen ist, hat damit genauso wenig Probleme wie Österreichs genialer Dialektredner Georg Friedrich – und keiner von beiden stiehlt dem anderen die Show. Zwischendurch und auch nur temporär schürt einer wie Thomas Prenn auf authentische Weise das sexuelle Verlangen eines Mannes für einen Mann. Neben Timothée Chalamet (Call Me by Your Name) wird auch Prenn zum klassischen Jüngling, welcher der Nähe unter Männern im sozialen Fegefeuer eines Gefängnisses so etwas zeitlos Schönes wie Romantik schenkt.

Derweil befindet sich Große Freiheit auf der Shortlist für den Auslandsoscar. Ob dieser offene Umgang mit einer etwas anderen sexuellen Freiheit wie dieser tatsächlich auch abseits von Cannes ausreichend Stimmen erhält? Mich jedenfalls hat das Schwulen- und Freundschaftsdrama einerseits an den heterosexuellen Rand gedrängt, andererseits aber sorgt die Tatsache, dass die neue Zärtlichkeit zwischen Männern auch ganz anderer Art sein kann, für ein Umdenken in einer Welt harter Kerle.

Große Freiheit

Ein verborgenes Leben

HIER STEHE ICH, ICH KANN NICHT ANDERS

8/10

 

RG-29_06575.NEF© 2019 Pandora

 

LAND: USA, DEUTSCHLAND 2019

REGIE: TERRENCE MALICK

CAST: AUGUST DIEHL, VALERIE PACHNER, TOBIAS MORETTI, KARL MARKOVICS, BRUNO GANZ, JOHANNES KRISCH, MATTHIAS SCHOENAERTS, ALEXANDER FEHLING, FRANZ ROGOWSKI U. A. 

 

Ich kann mich noch gut erinnern, als Terrence Malick nach 20jähriger Schaffenspause 1998 mit Der schmale Grat für Aufsehen gesorgt hat. Gefühlt alle namhaften Stars sind damals Schlange gestanden, um bei Malicks Film eine Rolle zu ergattern. Die Lobeshymnen für sein Kriegsdrama waren aber nicht nur seinem Comeback zu verdanken. Für Malick-Nichtkenner hielt Der schmale Grat einiges an neuen und nicht totgelaufenen Sichtweisen fürs Kino parat und konnte – zumindest mich jedenfalls – mit seinem philosophischen Diskurs überzeugen. Der schmale Grat zähle ich zu den besten Kriegsfilmen, weil so deutlich wird, wie der Mensch in einem für ihn geschaffenen Paradies ein Miteinander mit Füßen tritt. 

So manche Filme später dann, nach einigen seifigen Ausrutschern ins Kino und die Goldene Palme für The Tree of Life: die Rückkehr zu einer Qualität, für die Malick  zu Recht seinen Platz in der Filmgeschichte hat: Mit Ein verborgenes Leben hat sich der Künstler der Lebens- und Leidensgeschichte des Hitlerschwur-Verweigerers Franz Jägerstätter angenommen – und eine so visuell wie erzählerisch überwältigende Studie über die Essenz des Widerstands gegen eine ungerechte Gewalt kreiert. Das anders Interessante dabei: Malick besetzt für seinen Film bis auf wenige Ausnahmen durchwegs deutschsprachige, lokale Schauspielgrößen, die vielleicht jenseits des Sprachraums wenig Bekanntheit haben. Als Hauptprotagonist steht ihm August Diehl zur Verfügung, ihm zur Seite Valerie Pachner. In den Nebenrollen zumindest hierzulande illustre Namen wie Johannes Krisch, Karl Markovics oder Tobias Moretti. Bei Terrence Malick mitzuspielen dürfte für sie wohl ein wahrgewordener Traum gewesen sein. Dementsprechend legen sie sich auch ins Zeug – und bilden ein Ensemble, das Malicks Gedankengänge und sein Vorhaben, einen etwas anderen Heimatfilm zu erzählen, tatkräftig unterstützen.

Kinematographisch gesehen ist Ein verborgenes Leben ein Meisterwerk. Mit der weitläufigen Kulisse des zentraleuropäischen Alpenlandes, mit all seinen Almen, Bauernhöfen und dergleichen schafft der Regisseur ein exklusives, nicht oft gesehenes Ambiente einer zwar gemäldehaft stilisierten, aber intensiv naturverbundenen Lebensweise zwischen mühseliger Landwirtschaft und entrücktem Kindertraum von einer Insel der Seligen am Land. Wie er das einfängt, mit seinen typischen Weitwinkelaufnahmen, die er nahe ans Geschehen rückt und seinem scheinbar intuitiven Schnitt der Szenen, die das Wesentliche geradezu herausschälen, ist von akkurater Raffinesse. In dieser so fremden wie vertrauten Welt sind Bürgermeister, Müller, Dorfpfarrer oder die Töchter Jägerstätters wie Reflexionen eines zerbrochenen Spiegels, erhaschte Fragmente einer Erinnerung eines bereits Hingerichteten und der Endlichkeit erhaben. Das ist fast schon messianisch. Für diese Interpretation spricht auch die Szene mit NS-Richter Bruno Ganz, der wie Pontius Pilatus den Andersdenkenden fragend auf die Probe stellt.

Wobei ich zugeben muss, dass mir die Entscheidung des selig gesprochenen Landwirts, offenen Auges in den Tod zu gehen, und zwar für ein Lippenbekenntnis, das in keinster Weise das Herz berührt, schwer fällt nachzuempfinden. Die eigene Familie im Stich lassen? Für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Jägerstätter ist kein Prediger, vielmehr ein stiller, unbeirrbarer Leider, der sich für die Klarsicht auf Recht und Unrecht opfert. Auf lange Sicht und der Zeit geschuldet ein denkwürdiges Manifest des Schweigens. Zu Lebzeiten womöglich verbohrter Egoismus. Gerade diese Ambivalenz macht das Ganze noch interessanter.

Terrence Malick hat eine langsame (aber nie langweilige), hypnotische Meditation entworfen. Eine Bilderflut, auf die man sich einlassen wird. Die viel Sitzfleisch erfordert, und die gar nicht darauf aus ist, Jägerstätters radikalen Entschluss zu verstehen. Die aber fesselt, berührt und nachdenklich stimmt.

Ein verborgenes Leben

Undine

VERGISS NICHT WER DU BIST

7/10

 

undine© 2020 Piffl Medien

 

LAND: DEUTSCHLAND 2020

REGIE: CHRISTIAN PETZOLD

CAST: PAULA BEER, FRANZ ROGOWSKI, JACOB MATSCHENZ, MARYAM ZAREE U. A. 

 

Berlin, eine Stadt der steten Veränderung. Wenn man Christian Petzolds neuem Film beiwohnt, hat man zusätzlich auch eine Führung in Sachen urbaner Entwicklung gebucht. Interessant, woher der Name Berlin eigentlich kommt. Er bedeutet so viel wie „eine trockene Stelle inmitten eines Sumpfes“. Sonst aber verliert sich der Ursprung Berlins im geschichtlichen Dunkel, mitsamt seinen Mythen. Wim Wenders wusste die europäische Stadt der Engel von geflügelten Elementarwesen bewacht, unsterbliche Kreaturen, die im Himmel über Berlin dem umtriebigen Menschengeschlecht mit aktiver Schadensbegrenzung beizuwohnen hatten. Schutzengel nennen sie manche. Bruno Ganz würde das vielleicht anders sehen, aber egal. Berlin hat noch andere Mythen, laut Christian Petzold. Sein Blick hinter den Vorhang der trockenen Realität fällt auf jene halbgöttlichen Elementarwesen, du gut und gerne als Wassergeister oder Nixen bezeichnet werden. Eine davon nennt sich Undine. Erstmals erwähnt wird diese in einer Sage aus dem Geschlecht der Stauffenberger aus dem 14ten Jahrhundert. Undine könnte unsterblich sein, aber so genau weiß man das nicht. Undine jedenfalls bekommt nur dann eine Seele, wenn sie lieben kann. Soviel zur Legende. Paula Beer ist dieser Legende verwandter als ihr lieb ist. Oder ist alles nur reiner Zufall? Warum aber droht sie ihrem Partner, der gerade drauf und dran ist, bei der gemeinsamen Tasse Kaffee Schluss zu machen, mit dem Tod? Etwas heftig. In Anbetracht dessen, dass ein Wassergeist dem liebenden Verräter gegenübersitzt, durchaus nachvollziehbar. Doch es muss gar nicht viel Zeit verstreichen, da wird Undine neu geboren, im algigen Wasser eines zerborstenen Aquariums, ihr zur Seite Franz Rogowski, der erstmal gar nicht weiß wie ihm geschieht. Und sich Hals über Kopf in Undine verliebt.

Undine ist meine erste Erfahrung mit Christian Petzold. Aus diversen Rezensionen weiß ich aber: der Mann ist kein Freund des Neo-, sondern vielmehr des Magischen Realismus, denn die meisten seiner Filme wandeln an der Grenze zwischen nüchternem Alltag und transzendenter Metaphysik, die sich ungefragt in der uns vertrauten Dimension positioniert. Paula Beer wirkt wie ein an den Strand gespültes Wesen, weniger naiv als Daryl Hannah aus der thematisch verwandten Mythenkomödie Splash, dafür aber umso sehnsüchtiger und verwirrter, weil sie weiß: da war doch was! Undine ist in Petzolds Film in einer klar definierten Realität angekommen, scheint als magische Exilantin ihren Ursprung fast vergessen zu haben. Wie viele davon in Berlins urbanem Kosmos würden sich wohl an ihre eigene Magie erinnern, wenn die Liebe ihr Wissen ob ihrer Herkunft triggert?

Petzold erklärt die Hauptstadt Deutschlands wie Wim Wenders zu einem Erbe des Sagenhaften. Viel davon ist nicht mehr geblieben, alles hat sich verändert. Und doch, blickt man genauer hin, findet das Paranormale seinen Weg durch bauliche Maßnahmen, die diese andere Identität vergessen machen wollen. Rogowski verfällt diesem Zauber, für Paula Beer ist diese Abhängigkeit Bedingung, um unter den Menschen weilen zu können. Undine gelingt diese Interpretation der mittelalterlichen Sage mit entspannter Nüchternheit jenseits folkloristischen Pomps. Seine Figuren sind narrative Gestalten, nur für die Geschichte zum Leben erweckt. Erscheinungen, die nach Ende des Films verschwinden. Und das ist gut so. Ihre Reduktion auf die strikte Gegenwart eines modernen Märchens hat alleine schon etwas Entrücktes. Petzolds Bilder haben niemals einen Selbstzweck, sind nur Module für seine Erzählung. Wenn sich Rogowski beim Tauchen dem König des Sees gegenübersieht oder der Taucher in Undines Hand zur verschenkten Seele wird, ist das verträumte Schwermut ohne Leerlauf. Ein schöner, konzentrierter Film, der vielleicht zu viel Zeit mit Berliner Stadtgeschichte vertrödelt, sonst aber den Mythos in seiner Essenz auf den Punkt bringt.

Undine

Schwarze Milch

SO WEIT UNSERE FREIHEIT REICHT

8/10

 

schwarzemilch© 2020 Alpenrepublik

 

LAND: MONGOLEI, DEUTSCHLAND 2020

REGIE: UISENMA BORCHU

CAST: UISENMA BORCHU, GUNSMAA TSOGZOL, TERBISH TEMBEREL, BORCHU BAWAA, FRANZ ROGOWSKI U. A.

 

Man muss genau hinsehen, um in Zeiten wie diesen den richtigen Film im richtigen Kino zu finden. Derzeit haben die großen Ketten alle geschlossen – sie warten auf grünes Licht aus den USA. Wenige kleinere Kinos haben geöffnet – und die können jetzt den größten Nutzen daraus ziehen. Indem sie Filme zeigen, die sonst vielleicht nur Nischen bedienen und untergehen würden angesichts großer Konkurrenz. Es ist gut, genau hinzusehen, denn dann fallen Filme ins Auge so wie dieser hier – Schwarze Milch. Ein mongolisch-deutscher Streifen, diesjährig bei der Berlinale erstmals aufgeführt. Und ein Werk, das man eigentlich nicht verpassen sollte.

Dabei ist die Geschichte von Wessi, die nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland zu ihrer Schwester in die Wüste Gobi zurückkehrt, recht überschaubar, in ihren Grundzügen geradezu simpel. Was Uisenma Borchu, die sich die Rolle der einen Schwester selbst an den Leib geschrieben hat, aus dieser Erzählung einer familiären Begegnung gemacht hat, wird zu einem intensiven, in seiner archaischen Kraft sich stetig steigernden Wunder eines Lebenswandels. Dabei findet Borchu eine unmittelbare, distanzlose Bildsprache. Die Kamera nähert sich den beiden Frauen auf neugierige, vertrauliche, manchmal gar indiskrete Art. Sie offenbaren ihre Sehnsüchte, ihre Ängste, ihre Diskrepanzen zueinander. Dann wieder die unendlich scheinende Weite der Sanddünen, den Reiter in der Ferne. Das Fehlen von Schutz und Nähe, die Scham kulturell bedingter Blöße. Hier, in den Weiten der Mongolei, scheint alles beim Alten geblieben zu sein. Jurten stehen im Nirgendwo, die Bewohner der Steppe sind immer noch Nomaden, durchaus reich an allem was sie benötigen. Im Tross der Umherziehenden jede Menge Ziegen, Pferde. Gastfreundschaft für jeden und zahlreiche gute Omen. Ganz wichtig: das Patriarchat. Modern ist vielleicht das Motorrad zwischen den Teppichwänden der Zelte, das Klingeln des Mobiltelefons. Sonst aber pfeift der Wind, wird gemolken was die Zitze von Pferd und Ziege hergibt, wird geschlachtet, wenn Nahrung knapp wird. Wessi kann sich an all diese Riten des Tages kaum mehr erinnern. Zu fern ist ihr das alles. Fern ist ihr allerdings auch ihr Leben in Deutschland, nicht weniger dominiert von einem Machtmenschen, der vorgibt, was zu tun ist. Wessi sucht Selbstbestimmung, Hofft, diese in ihren Wurzeln zu finden. Eine neue oder wiedergefundene Identität. Mithilfe ihrer Schwester sollte das machbar sein. Doch die Welt der mongolischen Nomaden ist erstarrt im Willen der Männer. Egal ob diesen der träge Ehemann, der gewaltbereite Eindringling oder der zeremonienbewusste Stiefvater artikulieren. Als Frau ist man alleine zu schwach. Gemeinsam vielleicht aber stark genug.

Schwarze Milch – nach Paul Celans Gedicht Todesfuge bringt sie den Tod. Allerdings ist die Bezeichnung natürlich auch ein Oxymoron, ein sich widersprüchlicher Begriff. Klar zuzuordnen lässt sich die Bedeutung nicht gerade, eventuell hat sie eine eigene lokal verortete Symbolik, die sich mir nicht erschließt. Doch das macht nichts, klar ist, das Schwarze Milch nichts sonderlich Gutes bedeutet. Dass es vielleicht einer Verweigerung als Mutterfigur, einer Auflehnung gleichkommt. Und irgendwann später passiert es tatsächlich, in diesem uralten Kosmos aus Gebräuchen und Aberglauben. Die beiden Frauen werden zu zweifelnden Ikonen, umstürzlerisch und leidensfähig, weil sie brechen, was nicht gebogen werden kann. Borchus Film ist so authentisch wie möglich, in ihm ruht eine originäre Kraft, die gleichsam wunderschön, gleichsam lehrreich, aber auch unerbittlich sein kann. Die in OmU übersetzte Sprache der Mongolen ist eine ganz eigene, fremdklingende Metaebene in Hörbildern. Dem Schlachten der Ziegen lässt sich kaum zusehen, es sind dokumentarische Szenen eines Alltags, die Borchu für ihren Film verwendet und die ihm dieses echte, spürbare Etwas geben. Anfangs mag man nicht so recht wissen, wohin Wessi sich treiben lässt. Was sie möchte, weshalb sie zurückkehrt. Fast lässt sich vermuten, die Filmemachern selbst hat sich in ihrer Arbeit ähnlich treiben lassen, hinein in ein wiederentdecktes Land. Was sich dabei herauskristallisiert, sind überraschend ähnliche Sehnsüchte, sowohl im Westen also auch im Osten. Allen voran die Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Freiheit.

Schwarze Milch

In den Gängen

DIE SEHNSUCHT DES GABELSTAPLERS

6,5/10

 

indengaengen© 2018 Zorro Film

 

LAND: DEUTSCHLAND 2018

REGIE: THOMAS STUBER

CAST: FRANZ ROGOWSKI, SANDRA HÜLLER, PETER KURTH, ANDREAS LEUPOLD, MICHAEL SPECHT U. A.

 

Stanley Kubrick hat in seinem Meisterwerk 2001- Odyssee im Weltraum den Tanz der Raumschiffe mit den Klängen des Donauwalzers hinterlegt: eine, wenn nicht DIE Sternstunde des Kinos schlechthin. Regisseur Thomas Stuber, dem Kubrick´s Film wohl auch gefallen haben muss, hat den Menschen in seinem Fortschrittseifer vom Himmel geholt und den ganzen technisch-utopischen Reigen auf eine alltägliche Morgendämmerung im Supermarkt zurechtgestutzt. Was aber, wider Erwarten, eine poetische Eleganz entwickelt, die man so völlig unattraktiven Großhallen mit all ihren Regalen und sterilen Gängen nicht zugetraut hätte. Zuerst das Angehen der Lichter, fotografische Blicke in die Regalfluchten. Und dann kommen sie angerollt – die Putzmaschinen und Gabelstapler. Und vollführen ein Ritual, das wohl jedem Supermarktbediensteten die Tränen der Rührung und Begeisterung in die Augen treibt. Denn die wohl eher stets monotone, nüchterne Arbeit im Supermarkt wird durch das Intro von Stuber´s Normalverbraucher-Drama zu etwas ganz Besonderem, direkt Sakralem – zu einer verklärenden Liturgie eines sonst konformen Jobprofils. Fast erwartet man, dass Regalräumer und Lagerarbeiter auf Rollschuhen in geprobten Figuren durch die Gänge gleiten. Doch bevor das Schöne am Praktischen von anerkennender Aufmerksamkeit zur Parodie kippt, endet auch der Zauber des beginnenden Alltags, kurz bevor die Pforten öffnen – und der einkaufende Bürger als austauschbare Variable seine eigenen vier Wände mit Lebensmitteln versorgt.

Dieses Intro, das ist der größte inszenatorische Wurf in diesem zaghaften Kaleidoskop aus blauen Arbeitsmänteln, Getränkekisten, Automatenkaffee und Südseetapeten, die im Pausenraum den unerreichbaren Plan B für Mindestlohnbezieher symbolisieren. In den Gängen könnte furchtbar trist sein – ist es aber nur zum Teil. Die Schönheit des Ereignislosen, der Zauber des Raureifs auf den Äckern und das unbeschriebene Blatt des morgendlichen Himmels bekommt eine Aura des Unentdeckten, Spannenden. Als hätte Dokufilmer Nikolaus Geyrhalter, der eine Vorliebe für das Majestätische des Schlichten hat, ein Drehbuch von Ulrich Seidl verfilmt, selbst ein Unerschütterlicher, wenn es darum geht, ins Innerste gesellschaftlicher Milieus zu blicken. Doch so abstoßend wie Hundstage oder Import/Export ist In den Gängen keineswegs. Stets mit einer Menge Sympathie und fast schon fürsorglicher Liebe zu seinen genügsamen Figuren setzt Stuber eine unprätentiöse Romanze in Gang, welche sehnsüchtige Zugeständnisse in den Details versteckt, die im Überangebot einer Konsumgesellschaft verschwinden. Sie zu suchen, macht sich der Plot von In den Gängen zur Aufgabe. Und dennoch – wirklich glücklich macht das Drama über resignativ-disziplinierte Alltagsexistenzen eben trotzdem nicht.

Franz Rogowski als Ex-Häftling, der in seiner Arbeit als Staplerfahrer vorübergehend Erfüllung und neuen Halt im Leben findet, bleibt – verloren in den unendlich scheinenden Weiten des Großhandelsortiments – eine unnahbare, extrem introvertierte Gestalt, fast schon kafkaesk. Und wenn der gewissenhafte Helfer dann zu Wort kommt, ist er ob seines Sprachfehlers kaum zu verstehen. Sandra Hüller, dem Publikum gut bekannt als Tochter Peter Simonischek´s in Toni Erdmann, ist das sensible Aschenputtel in all den repetitiven Handgriffen, die das tägliche Werk von Angebot und Verkauf am Laufen halten. Und der, von dem man glaubt, die Dinge am Besten im Griff zu haben – nämlich Peter Kurth (Babylon Berlin) als Bruno – wird alle Anwesenden eines Besseren belehren. Drei Schicksale also, die jeweils als Kapitel den Film dritteln. Mal mehr, mal weniger lebensmutig. Und während man zusieht, wie mühsam sich das Leben dieser Angestellten weiterbewegt, wünscht man ihnen auch privat so etwas wie einen Gabelstapler, der das eigene kiloschwere „Pinkerl“ aus Frust, Flucht und schwankender Zuversicht leichter tragen und ertragen lässt. Doch dieses Gerät, das fährt nur in den Gängen hin und her, hebt und senkt sich. Und klingt dabei manchmal so wie das Rauschen des Meeres, das so unendlich fern ist. Dieses Abfinden der Umstände, dieses Strecken nach der Decke, mag ernüchternd kampflos sein, wenn es um Träume geht. Doch den Umständen einen Lebenswert abzugewinnen, ist die Kunst der kleinen Leute, die mit dieser Liebeserklärung zutiefst respektiert werden.

In den Gängen