Roqia (2025)

DIE DÄMONOLOGIE DES KRIEGES

5/10


© 2025 19 Mulholland Drive


LAND / JAHR: ALGERIEN, FRANKREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: YANIS KOUSSIM

KAMERA: JEAN-MARIE DELORME

CAST: ALI NAMOUS, AKRAM DJEGHIM, MOSTEFA DJADJAM, HANAA MANSOUR U. A.

LÄNGE: 1 STD 29 MIN


Es gibt eine Menge Filme, die außerhalb ihrer Festivalblase und vielleicht außerhalb jener Länder, in denen sie gedreht wurden, so gut wie gar nicht existent sind. Kaum jemand, der nicht in den Medien darüber nachlesen kann, wird Filme wie diese am Schirm haben. Selten im Kino ausgestrahlt, verschwinden sie später, wenn überhaupt, auf Streamingplattformen oder es gibt sie in den letzten wohlsortierten Videotheken für Cineasten, sofern sich manche die Mühe machen, das Werk auf Datenträger zu brennen. Folgendem Film könnte ein ähnliches Schicksal blühen. Roqia, ein algerisches allegorisches Mysterydrama, mag sich zwar im Genre des paranormalen Horrorfilms verorten – ein breiteres Publikum, so mein Eindruck, wird das sehr persönliche Werk von Yanis Koussim aber dennoch nicht ansprechen. Weil zu bedeutungsschwer und introvertiert, fehlt zumindest mir der Zugang.

Was wissen wir über Algerien?

Bei Roqia – ein arabischer Begriff, der so viel wie Exorzismus bedeutet – kann man sich gerne auf ein Thema einlassen, das zumindest in Zentraleuropa (ausgenommen Frankreich, historisch bedingt) wohl kaum jemand auf dem Schirm gehabt hat, sofern hier nicht politische Bildung über Nordafrika die oberste Agenda im täglichen Dasein dargestellt hätte.

In diesem Fall endet die Kenntnis der blutigen Jahre in Algerien nicht damit, dass sich diese auf den Krieg der 50er und 60er Jahre beziehen, sondern auf ein viel jüngeres Datum verweisen: Auf den militärischen Putsch in den 90er Jahren, der Annullierung der Wahlen und einer finsteren, gewalttätigen Dekade der Destruktion. Regisseur Yanis Koussim hat dabei so persönliche wie schmerzliche Erinnerungen an verstörende Jugendjahre in einen deprimierenden Film gepackt, der wohl nicht den Modus vivendi für ein bizarr-schräges Festival wie das des Slash vorprogrammiert, sondern wohl eher die Ausnahme bildet. Roqia ist die einem semidokumentarischen Realismus verhaftete, fatale Erzählung von einem muslimischen Exorzisten und seinem Gehilfen, die beide wohl feststellen müssen, dass das Böse einem körperlosen Dämonen gleich sein Unwesen treibt, nach Jahrzehnten eines brüchigen Friedens. Um die Saat der Gewalt neu auszubringen.

Währet den Anfängen

Sich windende Körper, hässliches Grinsen und spärlich beleuchtete Handkamerafahrten sind Zutaten von gefühlt jedem Dämonengrusler, egal auf welchen lokalen Ursprung sie verweisen. Nur diesmal wettert kein katholischer Exorzist mit Kreuz, Weihwasser und Bibel gegen den teuflischen Unruhestifter, sondern ein Geistlicher des Islam, der lediglich mit dem Koran in die paranormale Schlacht zieht. Roqia schlägt dabei die Brücke zwischen dem Damals und dem Heute – Währet den Anfängen heisst es aus politischer Sicht auch hier, und ja, Youssims Film ist reine Allegorie, ist die Angst auf eine Wiederkehr schrecklicher Umstände. Deshalb teilt der Filmemacher seine Betrachtung auch auf zwei Zeitebenen auf – die eine findet kurz vor Ausbruch des Militärputsches in den Neunzigern statt, die andere spielt in der Gegenwart.

Mit diesen Überlegungen und zur Bannung kollektiver Traumata instrumentalisierten Versatzstücken des Horrors entwirft Youssim finstere Aus- und Rückblicke, die allzu introvertiert und unter Vorsicht, den Teufel nicht allzu deutlich an die Wand zu malen, wohl weniger aufrütteln, sondern eher behäbig einen Ausweg aus einer gewissen verplauderten Eigendynamik suchen. So richtig intensiv wird Roqia erst im erschütternd radikalen Finale, das beide Zeitebenen zusammenbringt – bis dahin lässt sich Youssim zu viel Zeit, um aus seiner Resignation zu erwachen.

Roqia (2025)

Nickel Boys (2024)

ICH, DER AFROAMERIKANER

6/10


© 2024 MGM / Amazon Prime


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: RAMELL ROSS

DREHBUCH: RAMELL ROSS, JOSLYN BARNES, NACH DEM ROMAN VON COLSON WHITEHEAD

CAST: ETHAN HERISSE, BRANDON WILSON, HAMISH LINKLATER, FRED HECHINGER, DAVEED DIGGS, AUNJANUE ELLIS-TAYLOR, ROBERT ABERDEEN, GRALEN BRYANT BANKS U. A.

LÄNGE: 2 STD 20 MIN


Über Regisseur und Autor RaMell Ross muss man wissen: Dieser Mann ruft aus einer Richtung, die dem Mainstream entschieden und mit achtbaren Windspitzen entgegenweht. Nominiert 2019 für den besten Dokumentarfilm-Oscar (Hale County, Tag für Tag) durfte er dieses Jahr nicht nur unter den Nominierten für den Besten Film mitmischen, sondern auch noch unter jenen für das beste adaptiere Drehbuch. Die Academy scheint also offen für Arthouse, das gerne bewährte Sehgewohnheiten sprengt und auch Neues erzählt – nicht immer nur den gleichen, feigen Studio-Schmarrn. Mit Nickel Boys, basierend auf dem Roman von Colson Whitehead, verhindern Diversity-Agenden vehement, dass jemals wieder die Oscars „so white“ werden. Diesmal hatte trotz des „Trumpiarchats“ alles seine politische Correctness – und es ist ja auch nicht so, dass RaMell Ross‘ Film wirklich nur deswegen nominiert wurde, um die Quoten zu erfüllen. Taucht man ein in die Welt der Nickel Boys, wird klar, wie progressiv Kino sein kann. Wie wenig es gefällig sein, wie sehr es immer noch ausprobieren will, auch wenn man sich zugegebenermaßen schwertut, den Stil des Filmes zu absorbieren.

Hier ist etwas Ungewöhnliches im Gange. Eine spezielle Weise, Geschichten zu erzählen, die man vielleicht aus den Werken eines Terrence Malick und ansatzweise von Alejandro Gonzáles Iñárritu kennt. Hier stiftet das Subjektive, Kontemplative, Erratische den Nährboden für einen ohnehin schon langwierigen, gesellschaftspolitischen Problemfilm, der sich dem US-amerikanischen Alltagsrassismus der 60er Jahre annimmt und ihn verknüpft mit der Geschichte einer Freundschaft inmitten einer Welt voller Ressentiments, Repressalien und Freiheitsverlust. Keine leichte Kost, dieses Werk. Erstens schon mal aufgrund seiner visuellen Sichtweise nicht, und zweitens, weil RaMell Ross seine Geschichte niemals auf die leichte Schulter nimmt. Man benötigt also Engagement, um von Nickel Boys unterhalten zu werden. Um ehrlich zu sein: selten lagen Innovation und Konservatismus zu eng beieinander. Der Quotient daraus ist sperriges Kino mit massenhaft Anspruch, verblüffender Optik und einer geweckten Neugierde für ein Experiment, das zu verstehen niemandem leicht fällt.

Der Afroamerikaner wird in Nickel Boys seine Opferrolle niemals los. Das größte Opfer gibt Ethan Herisse als gedemütigter, aber blitzgescheiter Schüler Elwood Curtis, der in der Gunst seines Lehrers steht und die damals ungeahnte Chance wahrnimmt, wirklich etwas zu bewegen. Und dann das: Bei einem Autostopp steigt er nichtsahnend in den gestohlenen Wagen eines Autodiebs. Und wie es das Schicksal so will, beendet das Blaulicht im Rückspiegel nicht nur die Mitfahrt, sondern auch die Chance auf jedwede rosige Zukunft. Elwood gerät in Gefangenschaft und wird an eine dubiose Erziehungsanstalt überstellt, die sogenannte Nickel Academy, die es tatsächlich zwar niemals gab, allerdings an die Dozier School of Boys angelehnt scheint, in welcher ähnliche Zustände geherrscht haben sollen wie im Film. Diese sind schließlich äußerst kriminell, Rassismus und Unterdrückung stehen an der Tagesordnung. Erträglicher wird der auf unbestimmte Dauer angesetzte Aufenthalt durch die Bekanntschaft mit dem Mithäftling Turner (Brandon Wilson). Zwischen beiden entsteht innige Freundschaft – und auch so etwas wie der Geist eines Aufbegehrens gegenüber weißer Gewalt.

Woran man sich niemals so richtig gewöhnen wird, ist die Perspektive des Films. Die Kamera selbst schlüpft in die Rolle des Protagonisten, gewisser Elwood Curtis ist also zumindest anfangs nie zu sehen. Diese First-Person- oder Ich-Methode, die man hauptsächlich aus Computerspielen kennt, sollen den Zuseher tiefer in den toxischen Kosmos eines strafenden, diskriminierenden Amerika eintauchen lassen, als wäre man selbst der Leidgeprüfte. Als gäbe es, so lange der Film läuft, keine Chance, Abstand zu gewinnen. Etwas später wechselt Kameramann Jomo Fray dann doch insofern den Blickwinkel, da er den von Turner einnimmt. Diese Methode entfacht einen suggestiven, bewegten Bildersturm, das nervöse Schlingern einer subjektiven Kamera sorgt für das beklemmende Gefühl der Einengung. Der Erzählung dabei aus Distanz zu folgen, fällt schwer. Ein Grund mehr, warum Nickel Boys so anstrengt. Dazu dieser fragmentierte Szenenwechsel, die kaum stringente Szenenfolge, diese narrativen Lücken dazwischen. Nickel Boys ist eine hart erarbeitete neue Erfahrung, kein Film, dem man bereitwillig folgt, der aber insofern fasziniert, da er Neues versucht. Gefallen muss es einem nicht. Ausschließlich dafür ist Kino ja auch nicht da.

Nickel Boys (2024)

Der Brutalist (2024)

DAS LEBEN IST EINE BAUSTELLE

5/10


© 2024 Universal Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA, UNGARN 2024

REGIE: BRADY CORBET

DREHBUCH: BRADY CORBET, MONA FASTVOLD

CAST: ADRIEN BRODY, GUY PEARCE, FELICITY JONES, JOE ALWYN, ISAACH DE BANKOLÉ, ALESSANDRO NIVOLA, RAFFEY CASSIDY, STACY MARTIN, EMMA LAIRD, MICHAEL EPP, JONATHAN HYDE U. A.

LÄNGE: 3 STD 35 MIN


Da stehe – oder besser gesagt sitze ich – im dunklen Kinosaal, und zwar so lange, dass mir der Allerwerteste schon schmerzt, vor einem Problem, das ich als Grundproblem bei der Betrachtung von Filmen erachte, die durch internationale Kritikerlorbeeren niemals auch nur anders betrachtet werden wollen als vollendet. Für zehn Oscars nominiert, begleiten Der Brutalist Pressestimmen, die wie folgt klingen: „Ein monumentales Meisterwerk von nahezu unendlicher Schönheit“, schreibt Christoph Petersen von filmstarts. „Der zehnfach nominierte Oscarfavorit ist jene Art von Film, wie es ihn nur alle paar Jahre im Kino gibt“, schreibt Jakob Bierbaumer im österreichischen Medienmagazin TV Media. „Ein Film voller Leidenschaft, der in seiner Kühnheit vertraute Sehgewohnheiten sprengt“, schreibt Ralf Blau in der aktuellen Ausgabe von cinema. Blau umschreibt den Film aber bereits schon etwas differenzierter und räumt ein, ihn sowohl minimalistisch als auch monumental zu erachten.

Bei solchen Lorbeeren wappnet man sich natürlich im Vorfeld, demnächst einem Kinoereignis beizuwohnen, das einem die Sprache verschlagen wird. Doch andererseits: Erreichen diese gezielt marketingtauglichen Lobhudeleien manchmal nicht genau das Gegenteil? Kann man denn glauben, was man liest? Macht dieser Review-Aktivismus Kinogeherinnen und Kinogeher, die diese Kunstform regelmäßig genießen und schon viel gesehen haben, nicht eigentlich skeptischer? Letzten Endes wäre Skepsis bei Sichtung eines minimalistischen Monumentalfilms wie Der Brutalist durchaus angebracht gewesen. Vielleicht, um nicht enttäuscht zu werden, wenn man im Vorhinein erwartet, künstlerisch und qualitativ, und das im positiven Sinn, geplättet zu werden. Filme wie Der Brutalist manipulieren und dekonstruieren die Erwartungshaltungen – die gibt es gerade hier in unterschiedlichsten Formen und Varianten. Letzten Endes ist Brady Corbets über einen langen Zeitraum erdachte und entwickelte Pseudo-Biographie genauso wie einer dieser brutalistischen Gebäude-Klötze, die der fiktive Flüchtling László Tóth bereits errichtet hat und errichtet haben wird: reduktionistisch, avantgardistisch, kühl und unnahbar. Tóth wird in Der Brutalist, der sich sonst allerdings vor historisch korrektem Hintergrund bewegt, in einer alternativen Realität zu einem weltweit angesehenen Zampano in Sachen Architektur. Das war er schon vor dem Krieg, und wird es wieder nach dem Krieg sein. Nur wo und wie, wird Corbet in diesem Film auf einer Länge von über dreieinhalb Stunden beantworten wollen. Ist diese Länge für diese Erzählung denn gerechtfertigt? Nein.

Während das letzte Dreistunden-Epos, nämlich Der Graf von Monte Christo, trotz seiner Laufzeit fast schon nicht mehr wusste, wohin mit seiner Handlung, erhält Brady Corbet, der bereits Natalie Portman in Vox Lux als schwer fassbare Operrolle inszenierte, für sein Werk genug Raum, um sich auszudehnen und seine psychosoziale Nachkriegsstudie aufzublasen. Das tut er auch, er kleckert dabei nicht, sondern klotzt im wahrsten Sinne des Wortes. Der Baugrund ist enorm, man blickt in alle Richtungen bis zum Horizont und noch weiter. Im Zentrum dieser Fläche soll das Einzelschicksal eines jüdischen Architektur-Genies errichtet werden, dass fast schon verloren wirkt und die Traumata des Konzentrationslagers, des Weltkriegs und der Flucht in sich trägt. Es werden diesem László Tóth ganz andere Betonblöcke in den Weg gelegt werden, nämlich jene des Neuanfangs, der Integration und der Selbstbehauptung. Was man dabei nicht vergessen darf: Es gibt auch noch Ehefrau Erzsébet und die rätselhafte, weil anfangs mutistische Nichte Zsófia, die Schwierigkeiten haben, auszureisen. Auf die beiden muss László jahrelang warten, währenddessen aber belohnt ihn das Schicksal in Gestalt eines wohlhabenden Unternehmers namens Harrison Lee van Buren, der seine Zeit braucht, um zu begreifen, welchen Nutzen der Jude für ihn haben kann – und diesen als Haus- und Hofarchitekt für ein Mega-Projekt nahe Philadelphia engagiert.

Der Brutalismus selbst mag ein Architekturstil sein, der ab 1950 mit mehreren Ausrufezeichen hintendran darum bemüht war, im Stechschritt Richtung Moderne alles Gestrige hinter sich zu lassen. Dieses Gestrige war schließlich hässlich genug, also auf zu neuen Ufern. Ob es ein Stil war, der breitenwirksam Gefallen gefunden hat? Wohl eher weniger. Dafür aber hat diese Andersartigkeit mit Sicherheit fasziniert, kann man bei solchen Konstrukten – ähnlich wie bei Unfällen – einfach nicht mehr wegsehen. Dieses Gestrige hat die von Adrien Brody meisterhaft gespielte Figur schon in Europa versucht, hinter sich zu lassen, jetzt schleppt er die Innovation im Doppelpack mit einem zerrütteten Altleben in die neue Welt – in eine Gesellschaft, die längst nicht mehr das Land unbegrenzter Möglichkeiten verkörpert und jüdische Immigranten wie diesen da maximal duldet, sofern sie von Nutzen sind. Dieses toxische Kräftemessen zwischen Neuanfang und etabliertem Establishment rückt Corbet in den Mittelpunkt, braucht dafür Platz und den künstlerischen Willen, sowohl das epische Erzählkino eines Sergio Leone (Es war einmal in Amerika) oder Bernardo Bertolucci (1900 – Gewalt, Macht, Leidenschaft) stilistisch aufzugreifen als auch mit den Methoden weitestgehend unabhängiger Autorenfilmer bewährte Erzählstrukturen aufzubrechen.

Beide Ansätze stehen sich im Weg. Monumental an Der Brutalist bleibt lediglich die Laufzeit, der Konflikt zwischen Brody und Guy Pearce, der meines Erachtens nach seiner diabolischen Rolle des übersättigten Machtmenschen nur schwer das nötige Charisma entlockt, ist so bruchstückhaft wie alle anderen szenischen Teile des Films. Anfangs gelingt Corbet noch ein dramaturgischer Aufbau, er bringt die Situation ins Rollen, die Thematik rund um Cousin Attila (Alessandro Nivola) gestaltet sich vielversprechend und deutlich interessanter, doch Nivola verschwindet von der Bildfläche viel zu früh, während Felicity Jones viel zu spät auf der Bildfläche erscheint – auch sie stets bemüht, ihrer Rolle Würde, Verletzlichkeit und Inbrunst zu verleihen. Das Timing des Erscheinens und Abtretens so manchen Charakters lässt immer wieder eine Leere zurück, die Brody auffüllen muss, daher wirken viele Szenen wie Bauelemente auf einem Grundstück, die schon mal da sind, aber noch nicht verarbeitet werden können. Dazwischen wortlastige Dialoge ohne driftigem Mehrwert, sie treiben den Film in die satte Überlänge, ohne Notwendigkeit.

Selbst epische Filme so wie wir sie kennen haben eine gewisse dramaturgische Topographie, doch Der Brutalist lässt diese tiefen Täler und reizvollen Höhepunkte vermissen. Auch will er alles Mögliche in sein Werk hineinpacken, darunter nicht unwesentlich Lászlós Drogensucht. So gesehen wird Der Brutalist immer mehr zum Drogendrama und schwächelt dabei als Künstlerdrama mit Migrationshintergrund. Schon klar, das eine kann nicht ohne dem anderen, doch unterm Strich möchte Der Brutalist sein Publikum nicht abholen, sondern will erarbeitet werden. Der Oscar-Favorit ist somit ein sperriges, klobiges Baustellenkino, unfertig und lückenhaft, ein hartes Stück Arbeit, kein einfaches Werk – und nein, das soll es auch gar nicht sein. Doch die Wahrscheinlichkeit, letztlich irgendwann nicht mehr an dieser „Oper im Dschungel“ mitkonstruieren zu wollen wie seinerzeit Fitzcarraldo, ist dementsprechend hoch. Dabei von „nahezu unendlicher Schönheit“ zu schwärmen – dafür fehlt mir die Sichtweise und auch die Vorstellungskraft. Der Brutalist ist manchesmal, und vorallem in der Wahl seines Scores, gewaltig und großformatig, lässt Adrien Brody vor Kraft nur so strotzen, gilt aber wahrlich nicht als schön, genauso wenig wie der Baustil selbst.

Der Brutalist (2024)

Dahomey (2024)

WENN ARTEFAKTE REDEN KÖNNTEN

5/10


Dahomey© 2024 Stadtkino FIlmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, SENEGAL, BENIN 2024

REGIE / DREHBUCH: MATI DIOP

CAST: GILDAS ADANNOU, HABIB AHANDESSI, JOSÉA GUEDJE U. A.

MIT DER STIMME VON: MAKENZY ORCEL

LÄNGE: 1 STD 8 MIN


In den Kinos und exklusiv auf dem Arthouse-Streamer MUBI läuft derzeit der Goldene Bär 2024: Dahomey. Eine transzendente, metaphysische Dokumentation oder etwas ähnliches, ein filmischer Hybrid, der sich keinesfalls traditionellen Erzählformen unterwirft, obwohl es ganz viel um Tradition geht. Und um Gegenstände, die diese Tradition, möge sie auch noch so althergebracht sein, verkörpern. Wohl wenigen wird Mati Diop womöglich etwas sagen. Jenen, welche die französisch-senegalesische Filmemacherin noch nicht kennen, sei ihr allegorischer Zombiefilm Atlantique schwer ans Herz gelegt. Ein immersives, ungewöhnliches Drama rund um Hoffnung, Flucht und Scheitern, berührender und fesselnder als das themenverwandte Ich Capitano, weil ihm vorallem eines gelingt: zu überraschen. Überraschungen sind im Kino wichtiger denn je. Viele Geschichten sind schon viele Male auf ähnliche Art erzählt worden. Betroffenheit da, Betroffenheit dort. Realismus ist bei Dingen, die die Welt bewegen, gar nicht mehr gefragt, denn den bekommt man ohnehin über das tägliche Fernsehen präsentiert. Das Kino kann gerne viel öfter in Metaebenen herumstreunen, herumschürfen, und das Drama der Menschheit als phantastische Märchen präsentieren, die aber immer noch aus weltlicher Materie gemacht sind.

Mati Diop hat mit ihrem neuen Film Dahomey – der Titel geht zurück auf die Bezeichnung eines Königreichs im heutigen Benin – schon so einiges gewonnen. Diesjährig auf der Viennale war das Werk krönender Abschluss eines innovativen Festivals. Inhaltlich geht’s dabei um Restitution und Wiedergutmachung. Und auch, ob sich das Verständnis von Geschichte im eigenen Land dadurch ändert, wenn verlorene Artefakte ihren Weg zurück in die Heimat finden. Betrachtet man diese Restitution an wertvollen Schnitzereien im richtigen Verhältnis, so sind 26 Exemplare von insgesamt 7000 gestohlenen Arbeiten geradezu lächerlich. Andererseits: 26 Stücke sind nicht nichts. Da sind mannsgroßge Statuen vergangener Könige dabei, wie jene der Monarchen Ghézo, Glélé oder Behanzin. Einen davon, König Ghézo, den John Boyega im Film The Woman King verkörpert, lässt Mati Diop zu Wort kommen. Ein tiefes, gurgelndes Grollen ist zu hören, erst nach ein einigen Sekunden lässt sich dieses abyssale Grummeln als eine uralte Stimme wahrnehmen, gesprochen vom haitianischen Schriftsteller Makenzy Orcel. Ghézo berichtet von einer fast hundert Jahre währenden Nacht, umschreibt sein Empfinden, umschreibt mit blumigen, hochtrabend poetischen Worten die Ankunft daheim. Meist ertönt diese Stimme als Hörspiel, da sonst nichts zu sehen ist außer vielleicht das dunkle Innere einer dieser Holzkisten, mit denen die Artefakte nach Cotonou transportiert werden, direkt in den Präsidentenpalast, um später ins Volkskundemuseum in Abomey umgesiedelt zu werden.

Klar ist so eine Rückführung ein Bekräftigen des Nationalbewusstseins eines Landes, das wie fast jedes in Afrika unter europäischen Kolonialherren gelitten hat. Benin selbst wurde von den Franzosen unterworfen. Diese nahmen sich, was Ihnen gefiel. Eine Schande und eine Schuld natürlich, die, warum auch immer, nicht schon längst getilgt wurde. Doch auf Schätzen sitzt nicht nur ein Drache, sondern auch ein stolzes Volk wie das der Franzosen. Als Verbrechen sieht Mati Diop das Ganze eher weniger, vielmehr als das Nachwehen einer unglücklichen Vergangenheit. Zu einem ganz anderen, recht einfallslosen Stil gelangt ihr Film vorallem dann, wenn sie diesmal keine Statue, sondern die Studenten einer Uni zu Wort kommen lässt. Dort wird über das Damals und Heute diskutiert. Über Geschichte, kulturelle Identität und der Arroganz Europas. All das mag ja ganz interessant sein. Durch Ghézos Stimme auch ein bisschen metaphysisch. Doch diese etwas mehr als eine Stunde Film bleibt schal.

Dokumentieren kann natürlich bedeuten, Orte, Handlungen und Gespräche einfach nur abzufilmen. Im zeitgeistigen Dokfilm behält man sein Publikum informationstechnisch gerne im Ungewissen. Ein hoher Prozentsatz an Fakten darf sich der Zuseher proaktiv selbst organisieren, denn tut er das nicht, bleibt künstlerisches Halbwissen als Pseudodokumentation, die keine Wissensbasis schafft, nicht mal unter Verwendung von Archivmaterial, das zu verwenden gerade in Dahomey naheliegend gewesen wäre. Doch Mati Diop wählt, ähnlich wie Sarah Jessica Rinland in Monólogo Colectivo, die Form des subjektiven Essays, ohne einen Bildungsauftrag erfüllen zu wollen. Dies zu erreichen obliegt wohl eher dem konservativen Fernsehformat und nicht dem Kino. Im Kino fühlt sich der Dokumentarfilm keinen Aufgaben mehr verpflichtet, das Genre zerfasert und zerfranst Richtung assoziativer Collage mitsamt informativer Einsprengseln. Nahe kommt man der Thematik dabei kaum, die Diskussionsrunde der Studenten in der zweiten halben Stunde ist so prickelnd wie ein Vorlesung, deren Inhalt repetitiv wird. So bleibt Dahomey zwar ambitioniert, aber bruchstückhaft.

Dahomey (2024)

Here (2024)

RAUMZEIT IN EINEM ZEITRAUM

6,5/10


here© 2024 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: ROBERT ZEMECKIS

DREHBUCH: ERIC ROTH, ROBERT ZEMECKIS, NACH EINER GRAPHIC NOVEL VON RICHARD MCGUIRE

CAST: TOM HANKS, ROBIN WRIGHT, PAUL BETTANY, KELLY REILLY, MICHELLE DOCKERY, GWILYM LEE, DAVID FYNN, OPHELIA LOVIBOND, NICHOLAS PINNOCK, NIKKI AMUKA-BIRD U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Der DeLorean, ausgestattet mit dem Flux-Kompensator, steht in diesem Film hier nicht in der Einfahrt zur Garage neben dem Haus. Das Haus selbst bietet auch kein Portal auf andere temporäre Ebenen. Und Rod Taylor sitzt ebenfalls nicht in seinem mit Samt ausgekleideten Steampunk-Vehikel, um in die Vergangenheit oder weit in die Zukunft zu reisen. Robert Zemeckis schafft es dennoch, die vierte Dimension zu durchbrechen, das gelingt ihm ganz ohne Science-Fiction, Gewittern am Himmel oder der abenteuerlichen Erzählung eines gewissen Mannes, der auf einer Parkbank sitzt und Pralinen verteilt. Von Forrest Gump zu Here ist es im Grunde ein kurzer Weg, beide verbindet nicht nur Alan Silvestris unverkennbarer Score, sondern auch die Hauptdarsteller: Robin Wright und Tom Hanks. Seit den Neunzigern stehen sie erstmals wieder gemeinsam vor der Kamera, und dank innovativer Technik sehen sie jünger aus als im Oscar-Hit um einen Tausendsassa von schlichtem Gemüt, der findet, das nur der dumm ist, der Dummes tut.

Diesmal ist von der epischen Breite eines ganzen Lebens nicht allzu viel zu sehen, da Zemeckis so gut wie niemals die vier Wände eines um die Jahrhundertwende erbauten Hauses verlässt – genauer gesagt die vier Wände eines Wohnzimmers, das sich, in einer zeitlosen Stasis befindend, aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einen eigenen Reim macht. Wenn Mauern, wenn Räume reden könnten, was wäre dann? Was empfängt die Aura eines Ortes an Vergänglichkeit, Werden und Vergehen? Der Begriff Kammerspiel bekommt in Here eine neue Bedeutung und bewegt sich lediglich in der vierten Dimension fort. Die Kamera bleibt starr und blickt, wie ein an Ort und Stelle gebanntes Gespenst, auf auf Familien, Freunde, auf Fortschritt, Kreativität, Liebe, Trauer und Zuversicht. Vorallem auch auf reichlich Humanismus. Denn wohin Zemeckis uns führt, ist ein Ort frei von Gewalt.

Im Zentrum stehen dabei Robin Wright und Tom Hanks. Mit ausgereiftem De-Aging schaffen die beiden einen Präzedenzfall für so manches Franchise, das seine Stars von früher vermisst. Auch Paul Bettany darf sich einem digital vollendeten Alterungsprozess unterwerfen, alle drei sind gemeinsam mit Kelly Reilly die Kernfamilie des Films, flankiert von anderen wohnhaften Parteien aus dem Damals und aus der Zukunft – sie alle sind jedoch nur kleine Anekdoten, vernachlässigbare Miniaturen in sattem Interieur, dass den Zeitgeist widerspiegelt. Mit Tom Hanks erleben wir den amerikanischen Kitsch einer Familie, Hoch und Tiefs erlebend in üppig ausgestatteter Einrichtung, als würden wir ins das Zimmer eines Puppenhauses blicken. So puppenhausartig auch all die Figuren, all diese Menschen, die so seltsam fern wirken, die alles erleben, was eine Familie, die rechtschaffen lebt, eben aushalten, genießen und betrauern muss.

Es wäre Biedermannkino mit Taschentuchalarm ob der wehmütigen Vergänglichkeit von allem, gäbe es hier nicht die experimentelle Komponente, die kühne Überlegung, die Bilder eines Films wie Here zu zerschnipseln und übereinanderzulegen, die Zeit auszuhebeln und immer mal wieder ein Fenster zu öffnen, ein lineares Geviert im Bild und auf der Leinwand, durch welches der Zuseher hindurchsteigt in eine andere Ebene. Das Experiment gelingt. Erstaunlich, wie konsequent Zemeckis an seiner Prämisse dranbleibt. Die sentimentale Lieblichkeit der Bilder und Panels, das hausbackene, ich will nicht sagen pseudophilosophische, aber bemüht lebensweise Exempel mehrerer Familienleben verfängt sich zum Glück richtig heillos in einer avantgardistischen Vision des Geschichtenerzählens, um als denkwürdiges Unikum über Raum und Zeit das eigenen Hier und Jetzt mal nicht mit eigenen Augen neu zu betrachten, sondern mit den abstrakten Sensoren eines Ortes, an welchem man lange gelebt hat. Ein Hoch auf die eigenen vier Wände. Und den Boden unter den Füßen.

Here (2024)

Mater Superior (2022)

EIN HAUCH VON MODER

4/10


mothersuperior© 2022 Splendid Film


ORIGINALTITEL: MOTHER SUPERIOR

LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2022

REGIE / DREHBUCH: MARIE ALICE WOLFSZAHN

CAST: ISABELLA HÄNDLER, INGE MAUX, JOCHEN NICKEL, TIM WERTHS, FLORIAN TRÖBINGER, TOMMY GFÖLLER, PATRICIA AULITZKY, DIANA REUCHLIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 11 MIN


Marie Alice Wolfszahn. Diesen Namen muss man sich merken, es geht gar nicht anders. Im Gedächtnis bleibt dieser aber weniger aufgrund dessen, was nämliche österreichische Filmemacherin so inszeniert hat, sondern vielmehr aufgrund des phonetischen Klangs an sich. Wolfszahn hat einen gänzlich unter dem Radar heimischer Kinoauswertungen laufenden, gediegenen Herrenhaus-Grusel inszeniert, der zumindest die Ehre erfahren durfte, im Rahmen des Slash Filmfestival 2022 auf der großen Leinwand gezeigt zu werden. Schauplatz ist ein dem Zahn der Zeit ausgeliefertes, schmuckes Anwesen im Gebiet um den Semmering, das ist für Nichtkenner der österreichischen Landkarte im Süden des Bundeslandes Niederösterreich. Wir schreiben das Jahr 1975, der Weltkrieg mitsamt seines Nazi-Regimes liegt auch schon 30 Jahre in der Vergangenheit, und dennoch ist dieses alte Gemäuer namens Rosenkreuz inmitten von Grün und fernab jeglicher anderen Infrastruktur von einer reaktionären Aura umgeben, als wäre es ein Tor in eine traumatische Zeit. Abschrecken lässt sich die junge Krankenpflegerin Sigrun davon nicht, die von nun an bei Baronin Heidenreich nach dem Rechten sehen wird. Ebenfalls in den Diensten der Alten befindlich ist der verschrobene, lakonische Hauswart Otto (brummig: Jochen Nickel). Als ungleiches Trio geistern sie von nun an rund 70 Minuten durch eine seltsame Welt aus verfallenen, geradezu postapokalyptisch anmutenden Räumen, kafkaesker Archive und Okkultem, das in seiner praktischen Umsetzung unfreiwillig komisch wirkt. Baronin Heidenreich war mal Aufseherin in einem dieser faschistoiden Geburtshäuser, die man auch Lebensborn-Heime nannte. Klein Sigrun dürfte damals genau dort zur Welt gekommen sein, von ihren Eltern weiß sie so gut wie gar nichts. Ihre Anstellung ist demnach nicht sozial motiviert, sondern hat genau diesen Hintergedanken – nämlich, der alten Nazi-Dame jene Geheimnisse zu entlocken, die ihre Existenz betreffen.

Was in diesem Gothic-Mysterium dann sonst so passiert, ist vermutlich so sperrig wie all die windschiefen Türen in diesem historistischen Bau, die nicht mehr in ihren Türstock passen und von einer zugigen Halle in die andere führen. Immer wieder mal erscheint die in Brautmoden gehüllte, titelgebende Mater Superior, auf Deutsch Mutter Oberin, niemals ist ganz klar, wer damit gemeint ist und welchen Mehrwert diese personifizierte Allegorie denn eigentlich hat. Inge Maux gibt sich ganz neureich, vorgestrig österreichisch und hat jede Menge dunkle Vergangenheit zu verbergen, doch mit dieser setzt sich Wolfszahn nur flüchtig auseinander. Keine Ahnung, was Inge Maux hier treibt, welche Funktion dieser Otto eigentlich hat und was das für ein Kult ist, den beide praktizieren.

Mater Superior kolportiert bedeutungsschwere Schauerromantik, die eine Spurensuche illustriert, die dank der historischen Komponente genug Tiefgang mitbringen hätte sollen. Die Praxis macht der Theorie aber einen Strich durch die Rechnung. Alle drei Figuren, sowohl Inge Maux als auch Isabella Händler und Jochen Nickel füllen zwar ihre Rollen aus, doch diese sind zu dürftig skizziert, um einer direkten Konfrontation untereinander standzuhalten. So sind die Biographien der beiden weiblichen Filmfiguren mehr als vage und irgendwie seperat, es fehlt der Bezug oder die Relevanz oder auch nur ein driftiger Grund, um motiviert genug zu sein, die Indizien zusammenzuzählen.

Schöne Bilder allein retten Mater Superior auch nicht vor seiner heillosen Konfusion, vor seiner unzusammenhängenden Erzählweise und gar vor einer völligen Verwirrung am Ende des elegischen Lost Places-Horrors, dessen Twist auf keiner erkennbaren Vorahnung beruht. Es ist, als hätte die Geschichte vergessen, auf seine Conclusio hinzuarbeiten. Was bleibt, sind Stuck, Staub und ein Hauch von Moder.

Mater Superior (2022)

Maria Montessori (2023)

DAS KIND BEIM NAMEN NENNEN

6/10


montessori© 2024 Filmladen Filmverleih


ORIGINALTITEL: LA NOUVELLE FEMME

LAND / JAHR: FRANKREICH, ITALIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: LÉA TODOROV

CAST: JASMINE TRINCA, LEÏLA BEKHTI, RAFFAELLE SONNEVILLE-CABY, RAFFAELE ESPOSITO, LAURA BORELLI, NANCY HUSTON, AGATHE BONITZER, SÉBASTIEN POUDEROUX U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Die Frau von morgen, angelehnt an den Originaltitel, wäre wohl treffender gewesen für einen Film, der die Mutter der modernen Pädagogik in den Mittelpunkt stellt. Stattdessen nennt der deutschsprachige Verleih das Kind gleich beim Namen: Maria Montessori. Ihren Leitsatz kennen gefühlt wohl alle Elternteile dieser Welt: Hilf mir, es selbst zu tun. In diesem Zitat steckt schon der ganze Mechanismus, das ganze Herzstück einer Methode des ehrgeizigen Selbsterlernens. Sie wird zum Abenteuer Entwicklung, bestehend aus kleinen Erfolgserlebnissen, die sehr viel mit kognitiver Wahrnehmung und sensorischer Integrationsfähigkeit zu tun haben. Mit Maria Montessori gehen aber auch jene Assoziationen einher, die mit einer gewissen militanten Missionspädagogik zu tun haben – mit einer Richtung, die alles Profane oder gar Kommerzielle vehement ausschließt und deren Verfechter wie Jesusjünger ein Dogma vertreten, das in seinem Purismus einer spaßbefreiten Konfession dient, die sich für besser hält als all die anderen, die ihren Kindern Barbie, Lego oder Transformers-Figuren schenken.

In Wahrheit aber ist dieser pädagogische Extremismus, der eine ganze Ideenwelt in Mitleidenschaft zieht, nur eine am Rande auftretende Unannehmlichkeit. Maria Montessori hat mit ihrer Sicht auf das formbare und entwicklungsdurstige Kind ganze Arbeit geleistet. In Léa Todorovs Film steht aber nicht ihr Werdegang vom Kindbett bis zur Beisetzung im Mittelpunkt, sondern, und das ist bei Filmbiographien immer ein willkommenes System, um Langeweile und der ausufernden Monotonie eines wahrheitsgetreuen Nachrufs zu entgehen, jener Wendepunkt in Maria Montessoris Leben, der wohl entscheidend dafür gewesen sein mag, dass sich der Name der italienischen Ärztin in aller Welt als beliebte erzieherische Richtung etablieren wird.

Zu tun hat dieser Entschluss, sich endgültig dem System Familie zu entsagen und ins lehrkundige Gefecht zu stürzen, mit Montessoris eigenem Filius, einem kleinen Jungen namens Mario. Der hat das Pech, nicht die Frucht einer beschlossenen Ehe zu sein, was damals, um die Jahrhundertwende, wohl bedeutet hat, zum „Baby non grata“ zu werden. Weder kann Montessori (Jasmine Trinca, Das Zimmer meines Sohnes) ihr Kind zu sich nehmen, weil die Eltern es verbieten, noch kann sich der leibliche Vater Guiseppe Montesano mit dem Knaben in der Gesellschaft blicken lassen. Eine Last, die Montessori mit sich herumschleppen muss. Doch es ist nicht sie allein, die mit dem Nachwuchs so ihre auferlegten Probleme hat. Zur selben Zeit lagert Lili d’Alengy (Leïla Bekhti), eine französische Varietekünstlerin, ihre eigene bislang verschmähte, weil geistig beeinträchtigte Tochter Tina in Montessoris Bildungseinrichtung aus, mit der Hoffnung, sie endgültig loszuwerden. So stehen sich zwei Frauen gegenüber – die eine, die ihr Kind gerne bei sich haben möchte, es aber nicht kann. Die andere, die ihr Kind bei sich haben könnte, es aber nicht will. Im Laufe der Handlung kommen sich beide näher, ihre Schicksale verbinden sich, Prioritäten und Prinzipien werden hinterfragt und über Bord geworfen. Die Stellung der Frau im sozialen Gefüge ist dabei nicht nur ein gern miteinbezogenes Attribut, sondern verdrängt gar die vom Publikum erwarteten Auseinandersetzungen mit der pädagogischen Materie.

Léa Todorov schafft hier ein durchaus kompaktes, auf wahren Begebenheiten beruhendes, geschmackvolles Melodram mit vor allem beeindruckenden Leistungen der hier gecasteten und offensichtlich tatsächlich gehandicapten jungen Menschen, die mit einem Selbstverständnis und einer Natürlichkeit einen Film bereichern, der sehr dazu neigt, sich einer erzählerischen Historienromantik hinzugeben. Diese dem Medium des Volkskinos geschuldete Vereinfachung von Moral und Integrität und dem ethischen Willen, das richtige zu tun, mag die tatsächlichen Ereignisse idealisieren. Wir wissen längst: Wissenschaft und Privatleben mögen sich gerne ausschließen, denn was tun Koryphäen nicht alles dafür, ihr geistiges Gut zu hegen und zu pflegen. Opfer werden auch in Maria Montessori gebracht, doch der Beweggrund schmeichelt.

Aufschlussreich und kompakt inszeniert ist das französisch-italienische Geschichtsdrama aber auf alle Fälle. Und auch wenn hier die gewisse Zündung fehlt, diese Lust an der kritischen Betrachtung, bleibt doch eine gewisse Atmosphäre zurück, die auf gefälligem und oft konventionellem Wege ein Gefühl dafür vermittelt, wie es gewesen sein könnte, als sich die Pädagogik und mit ihr einhergehend die Stellung der Frau neu definiert hat. Montessori war so gesehen Avantgarde. Der Film selbst ist es nicht.

Maria Montessori (2023)

Bob Marley: One Love (2024)

REGGAE ALS KATALYSATOR DER ZUVERSICHT

6/10


bobmarley© 2024 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: REINALDO MARCUS GREEN

DREHBUCH: REINALDO MARCUS GREEN, TERENCE WINTER, FRANK E. FLOWERS & ZACH BAYLIN

CAST: KINGSLEY BEN-ADIR, LASHANA LYNCH, JAMES NORTON, ANTHONY WELSH, ASTON BARRETT JR., TOSIN COLE, HECTOR DONALD LEWIS, DAVID MARVIN KERR JR., STEFAN WADE, SEVANA, NAOMI COWAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Ich hätte schwören können, über Reggae-Gott Bob Marley gäbe es bereits ein Biopic, doch der Eindruck täuschte mich. Was mir so vorkam wie Marley, war womöglich Miles Davis oder James Brown – jedenfalls wundert es mich doch ein bisschen, dass Bob Marley: One Love zum allerersten Mal den Rastafari aus Jamaika auf die große Leinwand bringt. Rastafari – wer sind diese Leute überhaupt? Man kennt Dreadlocks, die gestrickten Mützen in den Nationalfarben Jamaikas, man kennt Haile Selassie, den äthiopischen Monarchen, man kennt den Löwen als Symbol und jede Menge Cannabis, das natürlich geraucht werden muss. Doch was genau hinter dieser Glaubensrichtung steht, spart Reinaldo Marcus Green, seines Zeichens Regisseur von King Richard, insofern aus, da er sein Publikum dazu motiviert, sich selbst auf Recherche zu begeben. Macht aber nichts, wozu gibt es Wikipedia, denn dort lässt sich herausfinden, dass dieser Haile Selassie als prophezeiter schwarzer Kaiser die Reinkarnation des Messias darstellt und die Befreiung Afrikas und all seine Kinder, die über den Erdball verstreut sind, bringen wird. Jah heisst deren Gott, und Bob Marley wird des Öfteren zu ihm beten und ihm huldigen, auch in seinen Liedern.

Rastafari sind friedliebend, vorwiegend gechillt und äußerst rhythmisch veranlagt. Nicht umsonst ist Reggae deren Musik, und dieser Reggae, der schafft es, auch all jene mitzureißen, die noch nie auf Jamaika waren und einen Joint geraucht haben. Reggae, das ist wie guter Stoff in Musikform, da fällt der Stress ab, da entspannt sich der ganze Körper, da bewegt man sich mit dem Flow der prägnanten Klänge, der Trommeln und der Gitarren. Es ist, als wäre man irgendwo am Strand am Meer und könnte die Seele baumeln lassen. Man bräuchte nur die Augen zu schließen und da ist er: Bob Marley, wild gestikulierend und dabei hüpfend wie ein Häschen, seine unverkennbare, einmalige Stimme ins Mikro jaulend und der dabei positiv, beschwichtigend und die Wogen glättend in die Zukunft blickt. Every little thing gonna be alright. Oh ja, so fühlt es sich an, wenn man Marley hört. Mit den Songs, angefangen von No Woman No Cry bis zu seinem Hit-Album Exodus, ist Reinaldo Greens Film ein Best of des Feelgood.

Dabei erweckt ihn Kingsley Ben-Adir tatsächlich zum Leben. Unter der Rasta-Mähne und dem Dreitagebart, mit den richtigen Moves und dem ganzen, womöglich akribisch abgeguckten Gehabe, vermag Adir zu überzeugen. An der Darstellung des VIPs gibt es nichts zu meckern, allerdings gibt es auch keinerlei Versuche, den Künstler umzuinterpretieren. Adir ist Bob Marley – dieser wäre glücklich darüber. Er wäre auch glücklich darüber, wie sorgfältig trapiert seine Hits einer nach dem anderen in diesem Biopic verteilt sind, als hätten wir ein One-Performer-Musical wie Rocketman, das die Kassen dank zahlreicher Evergreens, ausschließlich gesungen von Taron Egerton als Elton John, klingen lassen konnte. Bob Marley: One Love hätte etwas ähnliches werden können, ein Bob Marley-Musical, in welchem der Skipper höchstselbst anhand seiner Nummern über sein Leben sinniert. Da der Glamour eines Elton John einer eingerauchten, wohlwollenden Erdung weichen muss, ist die Form eines Musikfilms wie dieser immer noch am geeignetsten, verknüpft mit biographischen Eckpunkten, die rund um das legendäre Friedenskonzert 1978 in Jamaika angesiedelt sind.

Lässt sich da eine verdichtete Chronik eines Ruhms im Abendrot spinnen? Seltsamerweise wäre Bob Marley: One Love, hätte es all die wunderbaren Lieder nicht, die der mit 36 Jahren an Krebs verstorbene Künstler als ewiges Vermächtnis hinterlassen hat, eine müde Angelegenheit. Weniger straff, dafür etwas unentschlossen, geben szenische Einsprengseln manches aus der Jugend Marleys preis, manches beschäftigt sich wiederum mit der Entstehung des Albums Exodus und manches mit Jamaikas wüster Politik. Doch all diese Facetten wollen sich nur schwer bis gar nicht miteinander verbinden. Das dramaturgische Grundgerüst fällt auseinander, hat aber immer noch Ben-Adir in petto, der stets aufs Neue unbedingt zeigen muss, wie verblüffend gut er das Vorbild imitieren kann. Jedes Mal aufs Neue hängt man an seinen Lippen, wenn er so klingt, wie er klingen soll. Wenn er singt, was er singen soll und wir hören wollen. Die Musik ist letztlich der eigentliche Superkleber in diesem Film, der das Stückwerk notgedrungen zusammenhalten muss. Das ist kein Fehler, dafür gibt’s schließlich jede Menge Benefit: Die gechillten Rhythmen zeitlosen Reggae-Sounds, den richtigen Ohrenschmaus als Antidepressiva.

Bob Marley: One Love (2024)

Napoleon (2023)

EUROPA IM SCHATTEN DES ZWEISPITZ

8/10


Napoleon© 2023 Apple TV+


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: RIDLEY SCOTT

DREHBUCH: DAVID SCARPA

CAST: JOAQUIN PHOENIX, VANESSA KIRBY, TAHAR RAHIM, LUDIVINE SAGNIER, IAN MCNEICE, RUPERT EVERETT, BEN MILES, PAUL RHYS, ERIN AINSWORTH, SAM TROUGHTON, JANNIS NIEWÖHNER U. A.

LÄNGE: 2 STD 38 MIN


Würde man eine weltweite Umfrage starten mit dem Ziel, herauszufinden, welche Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte wohl am geläufigsten sind, dann wäre neben Adolf Hitler, Julius Cäsar und vielleicht noch Kleopatra natürlich Napoleon mit dabei. Vielleicht auch deswegen, weil dieser Merkmale an sich trägt, die unverwechselbar sind: kleine, gedrungene Statur, fransiges Haar, darüber stets ein Zweispitz, den er vermutlich nur zum Schlafen abgelegt hat. Die rechte Hand steckt dabei im Gewand, eine klassische Geste. Der in Korsika geborene Feldherr wird zum Lehrmeister vieler kommender Strategen, es ist eine Mischung aus Bauernschläue, Scharfsinn und jovialer Bärbeißigkeit, die ihn mit allen übrigen Regenten des europäischen Kontinents zum Handshake verhalf und auch gegen diese antreten ließ. Dieser Wicht mit Wirkung, dieser politische Glückspilz, der sich selbst zum Kaiser von Frankreich krönen ließ, darf nun, unter der Regie von Ridley Scott, nochmal in bester Risiko-Manier von West nach Ost über Europa fegen. Und ehrlich: Wer sonst hätte sein Wirken noch verfilmen können? Vielleicht Stanley Kubrick. Dieser hatte schließlich schon Sämtliches an Material zusammengetragen, und es wäre auch nach Eyes Wide Shut vermutlich sein nächstes Projekt gewesen. Hätte er wohl Joaquin Phoenix in der engeren Auswahl gehabt? Könnte sein.

Der Oscarpreisträger – diesmal nicht so abgemagert wie als Joker, sondern als untersetzter, dreister Tausendsassa – trägt von Anfang bis zum Ende die Miene eines hasardierenden Pragmatikers (sofern dies überhaupt zusammengeht). Ridley Scott veredelt ihn mit seinem Zweispitz, wo es nur geht. Es sind die Schattenrisse, es sind die Blicke hinter seinem Rücken nach vorn, wenn er bei der Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz oder letzten Endes bei Waterloo die Szene betritt und sich aus seinem Unterstand schält, meist in grauem Mantel. Er braucht nur die Hand zu heben, schon donnern die Kanonen. Irgendwann reicht ein kaum merkbares Nicken – und die Armee versteht.

Um eine ganze europäische Epoche unter einen Filzhut zu bekommen, dazu braucht es Zeit. Viel Zeit. Denn es ist ja nicht nichts, was hier alles geschieht, seit Marie Antoinette ihren Kopf verloren hat. Allerhand spielt sich da ab, Staatsstreiche und Tumulte, Umstürze und jede Menge Schlachten. Das alles will seinen Platz in einem Film fürs Auge finden. Und soll gleichermaßen dazu bewegen, dem dadurch erwachten Interesse an Geschichte später ganz von selbst nachzugehen. Es wäre verlorene Liebesmüh gewesen, hätte Scott den Film in ganzer Länge ins Kino gebracht. Kolportiert ist diese mit über vier Stunden – um die Säle zu füllen, sind es nun zweieinhalb, und selbst da hat man schon das Gefühl, angesichts der Fülle weltbewegender Eckdaten alles schon konsumiert zu haben. Hat sich Scott da nicht etwas übernommen? Wäre eine Miniserie nicht besser gewesen? Nein. Denn Napoleon gehört auf die große Leinwand. Niemand anderer kann Schlachten so dermaßen mitreißend inszenieren wie er. Bei niemandem sonst wird Geschichte zum massentauglichen Großevent. Mit der Darstellung der Schlacht bei Austerlitz sprengt Scott wieder mal alles bisher Dagewesene. So und nicht anders muss das gewesen sein, denkt man sich – vermengt mit allerlei Pathos, historischer Verklärung und als lebendig gewordenenes Ölgemälde.

Diesen zweieinhalb Stunden merkt man an, dass sie geschnitten sind. Doch was soll man sonst tun, außer zu kürzen. Zwischen der Herrschaft als Konsul und der Krönung zum Kaiser fehlt schon mal so einiges, und auch die Schlacht bei Waterloo lässt einige Fakten außen vor. Vielleicht finden wir diese dann später auf Apple+. Mit ziemlicher Sicherheit gehen die biographischen Aspekte  Napoleons dadurch um einiges tiefer. Denn mit Phoenix‘ Darstellung des Machtmenschen kann, muss man aber nicht zufrieden sein.

Warum Bonaparte tut, was er getan hat, bleibt ein Rätsel. Klar ist: Joséphine ist seine große Liebe, es drängt ihn nach einem Thronfolger, es zieht ihn höchstpersönlich immer wieder aufs Schlachtfeld. Wie er tickt, was er denkt – das alles bleibt popkulturelle Ikone, er selbst sein eigenes Merchandising. Phoenix, natürlich Meister seines Fachs, kann diesem gigantischen Ego, dieser Weltfigur, kaum Herr werden. Er begnügt sich mit einer konstanten Performance, die wenig Regung zeigt, sich kaum entwickelt, das Exil in St. Helena ähnlich hinnimmt wie den Befehl der französischen Regierung anno 1793, die Hafenstadt Toulon zu erobern. Im Vergleich dazu ist Vanessa Kirby die emotionale Kraft in diesem Film, wenn sonst nichts allzu Zwischenmenschliches bleibt, da die Eckpfeiler der Politik alles dominieren. Umso mehr nutzt Scott das private Glück und Elend eines Zweiergespanns, was manchmal zu sehr das Gleichgewicht zwischen Geschichtsgewitter und üppiger Romanze kippen lässtt.

Napoleon ist keine akkurate Chronik der Ereignisse. Vieles ist bekannt, vieles aber auch auf Entertainment gebürstet. Nichts anderes hat Ridley Scott jemals gemacht. Man siehe nur 1492, Königreich der Himmel oder Exodus. Seine Leidenschaft ist es, bewegte Bilderbücher zu kreieren, Schlachten nachzustellen, vergangene Zeiten in verschwenderischer Ausstattung und ohne Scheu vor Massenszenen zum Leben zu erwecken. Im Kino ist es so, als wäre man mittendrin, statt nur dabei. Es sind epische Momente, die man lange nicht vergisst. Sie erzeugen Gänsehaut und Respekt vor Legenden, die längst ihre realen Personen hinter sich gelassen haben. Wie es wirklich war, liest man besser nach. Beide gemeinsam aber, Film und Recherche, werden zum Erlebnis Geschichte.

Napoleon (2023)

Der Schatten von Caravaggio (2022)

HUREN UND HEILIGE

6,5/10


caravaggio© 2023 Filmladen Filmverleih / Luisa Carcavale


LAND / JAHR: ITALIEN / FRANKREICH 2022

REGIE: MICHELE PLACIDO

DREHBUCH: SANDRO PETRAGLIA, MICHELE PLACIDO, FIDEL SIGNORILE

CAST: RICCARDO SCAMARCIO, LOUIS GARREL, ISABELLE HUPPERT, MICAELA RAMAZZOTTI, LOLITA CHAMMAH, MICHELE PLACIDO, VINICIO MARCHIONI, GIANFRANCO GALLO, MONI OVADIA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Kunstgeschichte im Kino zu genießen kann zur immersiven Erfahrung werden. Was Filmemacher dabei gerne versuchen, ist, den Stil des zu beschreibenden Virtuosen in die Optik ihres Werkes einzubringen. Meister dieser Vorgehensweise ist zweifelsohne Peter Greenaway – Szenen seines exzentrischen Kunstfilms A Zed and Two Noughts muten an, als hätte Jan Vermeer höchstpersönlich seine Sicht auf die Welt auf die Leinwand gepinselt. Indirektes Licht aus unsichtbaren Fenstern oder nicht näher definierten Lichtquellen beleuchten historisches Interieur und im niederländischen Barock zu verortende Personen, stehend auf Schwarzweiß gemusterten Schachbrettböden. Für so viel Akkuratesse braucht es einen fast schon obsessiven Willen zur manieristischen Nachahmung. Des Weiteren beeindruckt sein Rembrandt-Krimi Nightwatching mit Set-Tableaus, die so manches Werk des Avantgardisten eins zu eins nachstellen.

Ein ähnliches Gemälde-Lookalike wagt Michele Placido, vorrangig bekannt als Hauptdarsteller der 80er-Fernsehserie Allein gegen die Mafia, in seiner teils wüsten und hemdsärmeligen Genius-Biographie Der Schatten von Caravaggio. Der Entstehung des Gemäldes Tod Mariä, welches als Teil der ständigen Sammlung im Pariser Louvre zu bewundern ist, schenkt Placido enorm viel Aufmerksamkeit – im Grunde beherrscht diese Erarbeitung des Meisterwerks den ganzen Film, denn die in rotem Leinen gehüllte Tote mag zwar titelgebend die Mutter Jesu Christi sein, als Modell gestanden soll dem Meister eine längst bekannte Prostituierte sein, die irgendwann später den Weg in den Tiber wählt und deren Leichnam von Caravaggio und seiner Entourage geborgen werden wird.

Diesen Versuch, oder besser gesagt, dieses aus der Sicht der Kirche zweifelsohne ketzerische Wagnis, die Ärmsten der Armen und sozial Ausgestoßenen in den Rang von Heiligen zu erheben, ihnen also einer Apotheose auszusetzen, die jedwede Hierarchie zusammenbrechen lässt, gleicht einer gesellschaftspolitischen Revolution. Caravaggio, eigentlich Michelangelo Merisi, ist als bärbeißiger Berserker seiner Zeit weit voraus. Das lässt sich allein schon am Stil seiner Bilder erkennen, die den viel späteren Expressionismus vorwegnehmen, die, so wie Rembrandt, einem kanonischen Ideal entsagen und Gesichter von der Straße, vom Bettler über den Säufer bis zum leichten Mädchen, für die Ewigkeit auf die Leinwand brachten. So wie Merisis Leben von Gewalt, Konflikten und letztlich des eigenen unnatürlichen Todes geprägt war, so spiegeln sich diese Umtriebe in seinen Bildern wider. Dort fließt das Blut, dort stürzt Saulus vom Pferd, dort kreischt das Haupt der Medusa ihren letzten Unmut ob ihrer Niederlage in die Gesichter der Betrachtenden. Caravaggio ist düster und ungefällig – die Kirche hat sein Kreuz mit ihm zu tragen. Und nicht nur die: Des Mordes beschuldigt, muss der Maler in Neapel im Hause Colonna Asyl suchen.

In gemäldehafter Optik erkämpft sich Riccardo Scamarcio (zuletzt gesehen in Kenneth Branaghs A Haunting in Venice) seine durch die kirchliche Obrigkeit andauernd bedrängte Freiheit – eitler Gegenpol ist Louis Garrel als Inquisitor des Papstes, der dem Künstler wie ein Schatten folgt, um diesen der Kirche auszuliefern. Bestehend aus diversen Rückblenden, die Caravaggios Werdegang beschreiben und seine Motivation für seine Arbeit erklären, legt Michele Placido letztlich ein unzimperliches Puzzle zusammen, das in betörend-schwülstiger Optik vor brutalen Spitzen und angedeuteten Orgien nicht Halt macht. Mitunter ist seine Aufarbeitung der Geschehnisse durch den scheinbar recht willkürlichen Wechsel zwischen den Zeitebenen sowie all der Schauplätze eine recht zerfahrene Angelegenheit. Wie ein Skizzenblatt im Wind geistert sein biographischer Thriller umher, schwer einzufangen, aber doch wert, ihm nachzujagen. Diese impulsive Fahrigkeit sorgt im späten Mittelteil für Ermüdung. Kann sein, dass der Film so einige Längen hat, die nochmal und nochmal Caravaggios Mentalität thematisieren wollen – dazwischen so einige kunstgeschichtliche Aha-Erlebnisse, die Kenner seines Oeuvres zum erhellten Flüsterer im dunklen Kinosaal werden lassen.

Eine exorbitant gelungenes Künstlerepos ist Der Schatten von Caravaggio nicht geworden, dafür aber macht dieser Blick auf die schmutzig-düstere Seite des Frühbarock Lust, so bald wie möglich wieder ins Museum zu gehen. An seinen Bildern haftet von nun an und zumindest für eine Zeit lang ordentlich Background, bevor die gefüllten Lücken in Sachen Themenbildung wieder aufgehen.

Der Schatten von Caravaggio (2022)