Ein einfacher Unfall (2025)

SPRITZTOUR MIT DEM PEINIGER

6/10


© 2025 Mubi


ORIGINALTITEL: IT WAS JUST AN ACCIDENT

LAND / JAHR: IRAN, FRANKREICH, LUXEMBURG 2025

REGIE / DREHBUCH: JAFAR PANAHI

KAMERA: AMIN JAFARI

CAST: VAHID MOBASSERI, MARIAM AFSHARI, EBRAHIM AZIZI, HADIS PAKBATEN, MAJID PANAHI, MOHAMAD ALI ELYASMEHR U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


So geht Festivalstress: Gerade noch bei Richard Linklater in einem schwarzweißen Paris der Sechziger verweilend, finde ich mich nun im Iran der Gegenwart wieder. Es ist Nacht, eine Familie fährt mit dem Auto nach Hause, im Radio dudelt lokale Popmusik, der Vater ist genervt, die Mutter schwanger. Dann ein Holpern, irgendwas hat die Straße gequert, ein Hund womöglich, oder irgendein Tier. Alle sind von der Rolle, die kleine Tochter verstört, der Vater nimmt es hin, völlig unreflektiert. Die Mutter meint dazu nur: It was just an Accident.

Die Sache mit der Eigenverantwortung, mit dem Mitleid, mit Konsequenzen, die man selbst verschuldet – sie spiegelt sich in dieser Eingangssequenz mehr als deutlich wieder. Der einfache Unfall hat jedoch auch das Auto ramponiert und muss in die Werkstatt. Mechaniker Vahid schert der Motorschaden wenig, fährt ihm doch der Schreck in die Glieder, als er seinen ehemaligen Peiniger wiedererkennt – einen Mann mit Prothese, die beim Aufsetzen ein quietschendes Geräusch macht. Genau das ertönt in brennender Schrecklichkeit in den Ohren und im Geiste des völlig verstörten Mannes, der nun seine Chance gekommen sieht, um sich zu rächen. Die Krux an der Sache ist: Vahid weiß nicht, wie sein Peiniger ausgesehen hat, er kennt nur das Quietschen der Prothese. Bevor er den winselnden Mann, den er später kidnappt und töten will, lebendig begräbt, kommen ihm dann doch Zweifel. Er packt den Familienvater, der seine Unschuld beteuert, wieder in den Kofferraum seines geliehenen Vans und holt sich die Meinungen anderer Regimeopfer ein, die mit ihm gemeinsam damals in Gefangenschaft gerieten.

Was anfängt wie ein geradliniger Rachethriller, wird zur tragikomischen, konfliktreichen Autofahrt, während jener die Schar der rachedurstigen Mitreisenden immer größer wird. Die sind wiederum alle grundverschieden – manche neigen zur Cholerik, manche tun nur mit, weil sie der Bräutigam sind, andere zweifeln am Racheakt, andere wollen den Tod des Peinigers am besten gestern, auch wenn manche Morgen Hochzeit feiern und die Braut einen auf Uma Thurman aus Kill Bill Vol. 2 machen will, nur ohne Katana.

Die Stimme verloren?

Während ich aber diese Review hier schreibe, drängt sich in mir jene Frage auf, von der ich mich wundere, dass sie nicht schon während des Films aufgepoppt war: Wenn Vahid und Freunde schon das Quietschen der Prothese nicht vergessen können, wieso erinnern sie sich dann nicht an die Stimme dieses Mannes? Diese würde man als traumatisiertes Folteropfer wohl auch nicht so schnell vergessen. Oder wie war das noch gleich im Theaterstück von Ariel Dorfmann, Der Tod und das Mädchen, verfilmt von Roman Polanski 1994? Dort, in einem fiktiven Südamerika, erkannte Sigourney Weaver ihren Peiniger Ben Kingsley anhand der Stimme. Im Grunde ist auch dieses Kammerspiel deutlich mit Jafar Panahis desperater Tour de Force zu vergleichen, die aber diesen deutlichen Aspekt mit der Stimme außen vorlässt. Wie und warum auch immer – der aus dem Iran vertriebene Filmemacher, der nur unter äußerst schwierigen Bedingungen und höchst umständlich seine Filme verwirklichen kann, hat mit diesem Werk heuer die Goldene Palme gewonnen.

Die Trivialität eines Rachefilms

Vielleicht hat er diese wohl mehr aufgrund seiner Beharrlichkeit zugesprochen bekommen, mit der er das Medium Film als Sprachrohr dafür nutzt, um die Missstände in seinem Heimatland aufzuzeigen. Mit Ein einfacher Unfall macht er das Regime aber mehr oder weniger austauschbar, es geht diesmal auch nicht um Politik, Ressentiments gegenüber Andersdenkenden und den Nebenwirkungen eines diktatorischen Gottesstaats, sondern recht generell und, man mag es anderswo trivial bezeichnen, um Vergeltung. Panahi geht nicht näher ein auf politische Strukturen, sondern erörtert die Frage nach Rache an sich – ist sie legitim, ist sie überzogen, wird man dabei nicht selbst zu dem, den man fürchtet – oder bringt der Tod des Täters in natura auch den Tod des Täters im Kopf? Am Ende scheint Panahi die Frage zu beantworten und zieht dann auch menschliche Werte wie Gnade in Zweifel. So wird Ein einfacher Unfall zu einem ambivalenten Film, dem es immerhin gelingt, zwischendurch auch so etwas wie einen tragikomischen verbalen Schlagabtausch zu entfesseln, der zwar immer wieder als großes Theater funktioniert, dabei aber auch auf der Stelle tritt.

Vielleicht war es doch der „Kulturschock“ vom kreativen Esprit Frankreichs der Sechziger in den traumatisierten Iran, der mich davon abhielt, in Panahis Film zu finden. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre ich vielleicht begeistert gewesen. Da Filme aber im subjektiven Kontext der eigenen Befindlichkeit in ihrem Gefallen variieren, gilt hier jedoch das Resümee für einen um Verve bemühten Thriller mit Anleihen zur Groteske.

Ein einfacher Unfall (2025)

Black Tea (2024)

TRÖPFCHEN VON HEISSEM TEE

5/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, MAURETANIEN, LUXEMBURG, TAIWAN, ELFENBEINKÜSTE 2024

REGIE: ABDERRAHMANE SISSAKO

DREHBUCH: ABDERRAHMANE SISSAKO, KESSEN FATOUMATA TALL

KAMERA: AYMERICK PILARSKI

CAST: NINA MÉLO, CHANG HAN, WU KE-XI, MICHAEL CHANG, PEI-JEN YU, WEI HUANG, EMERY GAHURANYI, ISABELLE KABANO, MARIE ODO, FRANCK PYCARDHY U. A.

LÄNGE: 1 STD 51 MIN


Die Wurzeln der Heimat sind lang – und überbrücken dabei die Meere, um an anderen Kontinenten wieder neu auszutreiben. In der Fremde kann sich so manche Migrantin oder so mancher Migrant doch noch wie zuhause fühlen, wenn sie oder er auf Menschen selber Herkunft trifft. Es bilden sich Interessengruppen, Verbindungen, Vereine – alles mögliche. Man läuft sich über den Weg oder trifft sich gezielt an Orten, die ganz und gar der Community gehören. Auf diese Art und Weise versucht Aya (Nina Mélo), eine junge Afrikanerin von der Elfenbeinküste, die ihre eigene Hochzeit gecrasht hat, das neue Leben in der chinesischen Diaspora so tröstend wie möglich zu gestalten. Dazu gehört auch, eine Leidenschaft für die Kultur des Teetrinkens zu entwickeln – zwangsläufig, wie es scheint, denn ihre Arbeit in einem kleinen Spezialgeschäft für Teesorten erfordert auch die notwendige Liebe zu getrockneten Blättern und Blüten. Dabei fühlt sie sich zum Eigentümer dieses Geschäfts, einem Chinesen namens Cai, irgendwie hingezogen. Eine Beziehung, eine Leidenschaft, eine Liebe – das lässt sich alles nicht wirklich so benennen. Abderrahmane Sissako, der mit dem düster-tragischen Wüstendrama Timbuktu 2014 für Aufsehen in der Filmwelt gesorgt hat, lässt nicht nur seinen zentralen Charakter, eben Aya, in einer mehrdeutigen Gefühlswelt vor sich her sieden wie Teewasser kurz vor dem Aufkochen. Auch all die anderen Gestalten in dieser Einkaufsstraße in Guangzhou sind von einer Unschlüssigkeit eingenommen, die sie auf der Stelle treten lassen. Sissako hat dabei auch nicht vor, eine konkrete Handlung zu verfolgen, welche die vielen angerissenen Einzelschicksale und charakterlichen Skizzen miteinander irgendwann verknüpft. Viel tut sich nicht in Black Tea, und wenn, dann immer nur ein bisschen. So, als käme später noch mehr.

Schon ziemlich lange zieht der Tee

Der Stillstand erfolgt durch eine innere Zerrissenheit, die sich aus Fehlern in der Vergangenheit und einer Zukunft zusammensetzt, der sich manche aufgrund dieses unerledigten früheren Lebens nicht ganz hingeben wollen. Dieses neue Leben irgendwo anders oder mit irgend jemand anderem, es scheint wie eine Reinkarnation nach einem Tod, dessen vorangegangene Existenz niemals zum Abschluss kam. Black Tea ist eine stille, enorm entschleunigte Metapher auf Klärung, Loslassen und Neuanfang, nicht nur für Migranten, doch vor allem für jene, die ihr Schicksal auf mehrere Länder aufgeteilt wissen. Der Spagat zwischen diesen mag für manche schmerzlich sein.

In Filmform gerät der Exkurs zu einer kontemplativen (Über-)Belastungsprobe zum Thema Langsamkeit. Visuell weiß Sissako vor allem Nina Mélo formschön und geschmackvoll einzukleiden – manche Szenen erinnern dabei an Wong Kar Wais In the Mood for Love. Auch, wenn Chang Han als Tee-Experte Cai durch die Gasse irrt und mit der Vergangenem hadert. Interessant dabei das Spiel mit der Tiefenschärfe und kunstvoll vorgelagerten Unschärfen, vieles wirkt wie im Traum, und dann wieder auffallend nüchtern wie Alltagsszenen nun mal sind. Warum Sissako dabei seine Zeit mit zahlreichen Nebensträngen vergeudet, die für den Fortgang der Geschichte keinen Sinn ergeben, sondern nur eine Collage erschaffen, mag ein Rätsel bleiben. Auch jede Menge Andeutungen zu Rassismus, Vorurteilen und Einsamkeit ergeben zusammengenommen vieles, aber nichts Eindeutiges. Als Sammelsurium sämtlicher Eindrücke und beliebiger Beobachtungen, exquisit und geschmackvoll in Szene gesetzt wie so manche Teezeremonie, von der man glauben möchte, diese Schüttspielchen mit Wasser können nicht ganz ernstgemeint sein, hat Black Tea aber niemals den Mut, eines seiner Themen zu konkretisieren. Aya scheint da nur mittendrin zu sein in dieser Zerrissenheit, in dieser kleinteiligen Langeweile, die vieles und gleichzeitig nichts erzählt. Und von Liebe eigentlich gar nichts weiß.

Black Tea (2024)

Reflection in a Dead Diamond (2025)

DER MUSTERAGENT UND SEINE NEMESIS

5,5/10


© 2025 Kozak Films


ORIGINALTITEL: REFLET DANS UN DIAMANT MORT

LAND / JAHR: BELGIEN, LUXEMBURG, ITALIEN, FRANKREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: HÉLÈNE CATTET, BRUNO FORZANI

CAST: FABIO TESTI, YANNICK RENIER, KOEN DE BOUW, MARIA DE MEDEIROS, THI MAI NGUYEN, CÉLINE CAMARA, KEZIA QUENTAL, SYLVIA CAMARDA U. A.

LÄNGE: 1 STD 27 MIN


Agenten sterben einsam? Letztendlich legen sie sich mit all ihren Widersachern ins Grab, ganz besonders mit jenen, die Zeit ihres Lebens so viel Größenwahn verspürt haben, um sich die ganze Welt unter den Nagel zu reißen, ob mit oder ohne weißer Katze am Schoß, am liebsten aber mit Vorliebe für kuriose Todesarten und völlig unverständlichem Zögern, wenn es darum ging, den Superspion von der Landkarte zu tilgen. Diese Naturgesetze funktionieren nur im Kino, von diesen Naturgesetzen sind die Filmemacher Hélène Cattet und Bruno Forzani so sehr entzückt, dass sie Lust dazu hatten, eine Collage anzufertigen, die all diese Stilmuster miteinander vereinen soll. In homogener Koexistenz lassen sich diese Puzzleteile aber nicht verorten. Vielmehr könnte sich diese Anordnung mit einer prall gefüllten Piñata vergleichen lassen, die auf einer grob skizzierten Storyline ihren Inhalt entlädt. Die zufällige Verteilung der Versatzstücke gibt in Reflection in a Dead Diamond den Rhythmus vor. Als sechster und letzter Beitrag im Rahmen meiner Exkursion in die fantastische Filmwelten des Slash 1/2-Festivals ist dieser experimentelle Avantgardefilm wohl weniger Vorreiter für Neues, sondern wehmütiger Zitatenschatz, der die visuelle und vor allem kinematographische Sprache wie totes Latein neu erlernen und erklingen lassen will.

Zurück sind die Sechzigerjahre, der grobkörnige Analogfilm, die ebenfalls analogen Bildmontagen und psychedelisch irrlichternden Sequenzen surrealer Vorspänne, welche längst ein Markenzeichen sind für das Franchise rund um James Bond, oft unterlegt mit dem Best Of stimmgewaltiger Soul-Diven, während die Schattenrisse nackter Frauenkörper mit den maskulinen Formen diverser Schießgeräte verschmelzen. Der Erfolg rund um James Bond ließ ganze Subgenres aus dem Boden wachsen wie großzügig gedüngter Bambus. Neben dem britischen Serienerfolg Cobra, übernehmen Sie (als Grundlage für den Stunt-Wahnsinn von Tom Cruise) wucherte vor allem im europäischen Festlandkino, vorwiegend Italien und Frankreich, billig produzierte Massenware als glamouröse Eurospy-Agentenfilme in gern besuchte Spätvorstellungen. Aus dem Pulk der Machwerke stechen die familienfreundlichen parodistischen Fantomas-Komödien mit Louis de Funès hervor, die das Geheimagenten-Milieu so weit überhöhten, bis nichts davon noch realitätsbezogen blieb. Und dennoch ist das Ganze nicht dem Genre des Fantastischen zuzuordnen. Agenten und Spione gibt es tatsächlich, interessant wird es aber erst, wenn das Unmögliche als kaum zu bezwingbare Nemesis Masken trägt, an mehreren Orten gleichzeitig auftaucht, Geld wie Heu hat, High-Tech neu erfindet und nebenher die Weltverschwörung hostet. Marvel- und DC-Comics waren dabei seit jeher Inspiration.

Reflection in a Dead Diamond ist fraglos ein bunter, auf das Publikum niederregnender Bilderreigen: erratisch, fragmentarisch, zersplittert. Es gibt Zeit- und Traumdimensionen, Realität und Fiktion, einen dem guten alten 007 nachempfundenen männlichen Stereotyp mit der Lizenz zum Töten, in jungen Jahren ein Schönling, im Alter ein geiler Specht. Es gibt die knallharte Superagentin, die nicht von dieser Welt zu sein scheint, und nie wird ganz klar, ob sie ihrem männlichen, vergleichsweise biederen Kollegen den Rang ablaufen will oder die Gegenseite verkörpert, die der Agent nicht müde wird zu bekämpfen.

Am Anfang einer nur grob skizzierten Geschichte gibt Altstar Fabio Testi, der in so pikanten Machwerken wie Sklaven der Hölle und Orgie des Todes mitgewirkt hat und auch in Klassikern wie Nachtblende neben Romy Schneider zu finden ist, den Spion a. D., der seinen einsamen Lebensabend irgendwo an der Cote d‘Azur verbringt und die Zeit damit verbringt, die Zimmernachbarin des Hotels lustvoll zu betrachten. Diese jedoch verschwindet recht bald, und John – so nennt sich Testis Figur – wittert bald schon eine offene Rechnung, die aus seinen vergangenen Dienstzeiten in die Jetztzeit segelt. Mit ihr rückt eine Femme Fatale an die Front, die den Helden über Jahre an seinem Verstand zweifeln hat lassen.

Wirklich spannend ist Reflection in a Dead Diamond nicht. Das ist auch nicht die Absicht des Films, der lieber gerne retrospektive Installation als sonst was wäre. Quentin Tarantino hätte diese in schwarzem Lack und Leder gezwängten Schöne, deren Gesicht niemals das echte ist, wohl gerne in einem seiner Filme wiedergefunden – Katana-schwingend und mit abstrusen Schlitzwerkzeugen ausgestattet, lässt sie ihre Gegner bluten – womit wir beim Giallo wären, den Cattet und Forzani auch noch liebgewonnen haben. Vor lauter Glitzer, Glamour und dem satten, überbelichteten Funkeln titelgebender Diamanten, die nicht alle unbedingt echt sein müssen, lässt sich die schrumpfige Geschichte nur noch schwer ausmachen. Die Attraktion der überhöhten Stilbilder mag als Kuriosität verblüffen, für die Dauer eines Spielfilms aber irgendwann nicht reichen, da das Gefühl, letztlich nur filmischen Tand zu betrachten, einen leeren Magen hinterlässt.

Reflection in a Dead Diamond (2025)

Rebel – In den Fängen des Terrors (2022)

ABENTEUER DSCHIHAD

6,5/10


Rebel© 2022 Busch Media Group

LAND / JAHR: BELGIEN, LUXEMBURG, FRANKREICH 2022

REGIE: ADIL EL ARBI & BILALL FALLAH

DREHBUCH: ADIL EL ARBI & BILALL FALLAH, KEVIN MEUL, JAN VAN DYCK

CAST: ABOUBAKR BENSAIHI, LUBNA AZABAL, AMIR EL ARBI, TARA ABBOUD, YOUNES BOUAB, KAMAL MOUMMAD, FOUAD HAJJI, NASSIM RACHI U. A.

LÄNGE: 2 STD 19 MIN


Im Zuge gewaltiger Umbrüche und kriegerischer Aktivitäten im Nahen Osten ist nun auch das passiert: Syrien ist frei, frei von der Folterdiktatur eines Assad, der nun in Russland bei Busenfreund Putin Zuflucht sucht. Die Rebellen müssen nun zu einer gewissen Ordnung übergehen, die ein Staat benötigt, um zu funktionieren. Das Vorhaben wäre nicht möglich, hätten die bösen Buben des Islamischen Staats noch Gebietsansprüche zu vermelden.

Die Situation war in Syrien mal anders, und bildet auch den politischen Hintergrund eines engagierten Actionthrillers, der aber nicht nur Wüstensand aufstauben und bärtige Finsterlinge herumballern lassen will, sondern versucht, einen mehr oder weniger glaubwürdigen Einblick in den Alltag von Dschihadisten zu gewähren, die keinen Widerspruch darin sehen, westliche Errungenschaften dafür zu nutzen, dem verhassten Westen, und nicht nur dem, die Hölle heiß zu machen. Rebel – In den Fängen des Terrors beschreibt den IS als ein hierarchisch geprägtes, militantes Gebilde, in dem nicht wenige dazu gezwungen werden, dieses Spiel des Terrors mitzuspielen. Einer davon ist der in Belgien lebende Rapper und Social Media-Star Kamal (Aboubakr Bensaihi), der sich gezwungen sieht, zum Wohle der Allgemeinheit den Kriegsopfern in Syrien Beistand zu leisten. Also reist er, bewundert vom jüngeren Bruder Nassim, an den Ort des Geschehens – und wird, ehe er sich versieht, vom Islamischen Staat zwangsrekrutiert. Durch seine Fähigkeiten im Umgang mit dem Medium Film findet sich Kamal als begleitender Reporter bei terroristischen Einsätzen wieder. Was er nicht weiß: Sein Bruder bewundert ihn und hat ebenso vor, sich der Terrormiliz anzuschließen, wird er doch von sogenannten „Bekannten“ Kamals, die mit den Warlords in Syrien in Verbindung stehen, entsprechend manipuliert. Letztlich obliegt es der Mutter selbst, ihre beiden Söhne aus der Vorhölle herauszuholen. Doch die Lage spitzt sich zu, und für Kamal gibt es bald kein Zurück mehr.

Die erschütternde Chronik einer Familie, die in die Brüche geht, bleibt ein Hintergrundrauschen. Das Drama mag an die Nieren gehen, hätten die Belgier Adil El Arbi und Bilall Fallah darauf verzichtet, Kriegsreportern gleich vorzugsweise am Schlachtfeld mitzumischen, um die spektakulären Spitzen eines Heiligen Krieges einzufangen. Bei den beiden weiß man schließlich, woher der Wind weht. Auf ihre Kappe gehen die letzten beiden Sequels des Bad Boys-Franchise: Launige Actionkomödien im aalglatten Hollywood-Stil und auf befriedigende und unterhaltsame Weise schwarzweißgemalt. Dieser Wind aus dem Actionfilm-Genre weht auch zu Rebel hinüber, einem gekonnt plakativen Spektakel voller Thrill, Kriegsgeheul und militärisch-hierarchischer Problemagenda. Als überraschende Intermezzi, die das Geschehen von der harten Realität abstrahieren sollen, dienen Show- und Tanzeinlagen, die vielleicht auf den ersten Blick irritieren, im Nachhinein aber durchaus ins Gesamtbild passen.

Alles fühlt sich an, als wäre Jack Ryan nicht weit weg, denn vorrangig dient das Abenteuer, und hat es eine auch noch so grimmige Prämisse, zur spannungsreichen Unterhaltung. Filme wie diese haben, sofern sie sich in ihrem Werteverständnis klar positionieren, durchaus ihre Berechtigung. Rebel – In den Fängen des Terrors ist ein perfekt komponierter Kriegsfilm und leidenschaftliches Popcornkino mit effekthartem Blick auf die Weltpolitik und ihre fatalen Wucherungen. Dabei stürzt es sich tief in die deutlich zur Schau getragenen Empfindungen seiner Protagonisten.

Rebel – In den Fängen des Terrors (2022)

All We Imagine as Light (2024)

DIE HEILENDE KRAFT DER ILLUSION

9/10


allweimagineaslight© 2024 Polyfilm


LAND / JAHR: INDIEN, FRANKREICH, NIEDERLANDE, LUXEMBURG 2024

REGIE / DREHBUCH: PAYAL KAPADIA

CAST: KANI KUSRUTI, DIVYA PRABHA, CHHAYA KADAM, HRIDHU HAROON, AZEES NEDUMANGAD U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Imagine all the people… livin‘ life in peace. John Lennon hat sich Anfang der Siebziger Jahre eine Welt vorgestellt, frei von Gewalt und prädestiniert für ein friedliches Miteinander. Sein zeitloser Song verkörpert die Illusion einer Menschheit, die gelernt hat, aufeinander zu achten und miteinander umzugehen. Lennons Imagine symbolisiert den Imperativ des Humanismus, der dann sichtbar wird, wenn viele von uns, geballt an einem Ort, ein individuelles Schicksal bestreiten. Imagine wird zum Leitbegriff auch in einem Film, der womöglich schon jetzt als einer der schönsten und besten des Jahres angesehen werden kann. Womöglich wäre er unter den besten drei bereits im letzten Jahr zu finden gewesen, hätte ich All We Imagine as Light bei der letztjährigen Viennale gesichtet. Nun aber führt dieses Meisterwerk, und das prognostiziere ich jetzt schon, sehr wahrscheinlich die besten des Jahres 2025 an. Denn sieht man sich Payal Kapadias Spielfilmdebüt an, wird man feststellen müssen, dass große Filmkunst nicht unbedingt das Ergebnis langjähriger Erfahrung sein muss, sondern schon von vornherein ein talentiertes Verständnis mit sich bringen kann, Farben, Bilder, Klang und Schauspiel auf eine Weise miteinander zu kombinieren, die nicht üblichen Stilen entspricht, sondern völlig losgelöst von dieser Mainstream-Machart des Bollywood-Kinos einen Subkontinent präsentiert, der mit einer Lebensphilosophie klarkommt, die die westliche Welt womöglich als Selbstbetrug wahrnimmt. Hier, in Indien, ist die Kunst, aus seinen Illusionen Kraft zu tanken, eine Methode, um auch in bescheidensten Verhältnissen und in der Unmöglichkeit, eigene Lebenswünsche in die Realität umzusetzen, zu sich selbst zu finden.

Hätte John Lennon jene Bilder gesehen, die Kameramann Rabanir Das unter Kapadias Regie von der Millionenmetropole Mumbai eingefangen hat, er wäre begeistert gewesen. Er hätte gesehen und festgestellt, dass es doch möglich wäre, dicht gedrängt und fern jeglicher Privilegien, eine achtende Gesellschaft des Miteinander zu führen. In diesem Mumbai flirren die Lichter, strömen Menschen in alle Himmelsrichtungen, suchen Schutz vor dem täglich wiederkehrenden Regen, zollen sich dabei Respekt, feiern und essen miteinander. Lieben sich, hoffen und leben den Moment. Dieses Indien ist kein Dritte Welt-Betroffenheits-Indien. Es stochert nicht im Missstand oder Morast eines völlig überfordernden Landes herum. Es zeigt Mumbai als eine Stadt der Illusionen. Das aber in keiner ernüchternden Resignation, sondern als Tugend.

In diesem Licht, dass sich wahrnehmen lässt, oszillieren die Träume und Wünsche von Prabha und Anu, zwei Krankenschwestern in einem Spital in ebendieser Stadt. Beide teilen sich eine Wohnung, beiden haben die Illusion eines erfüllten Lebens. Prabha, durch eine arrangierte Hochzeit vermählt, weiß ihren Ehemann in Deutschland, doch dieser lässt nicht mehr von sich hören. Anu hingegen, deutlich jünger, liebt einen malayischen Muslim – eine Liaison, die Anus Eltern nie erlauben würden. Doch sie tut, was sie für richtig hält. Wenn man so will, gibt es da noch eine dritte: die Witwe Parvaty, die, schon deutlich älter, ihren Mann bereits zu Grabe getragen hat und nun delogiert wird, da es für die gemeinsame Wohnung keine Belege gibt. Sie ist bereit dafür, ihre Illusion der Realität weichen zu lassen und begibt sich zurück in ihr Heimatdorf. Prabha und Anu begleiten sie ans Meer, raus aus der Stadt, die in diesem Film eine Hommage erlebt wie sonst nur New York unter der Regie Woody Allens, versetzt mit urbanen Klavierklängen, die an George Gershwin erinnern. Auch akustisch lädt der Film dazu ein, ihn mit allen Sinnen wahrzunehmen.

Kapadia mischt die dokumentarischen Stimmen von Mumbais Bewohner unter ihr traumverlorenes, tropisches Monsun-Erlebnis. Sie findet Szenen von einer Aussagekraft, die ohne Worte auskommt und die Tiefe der Empfindungen ihrer beobachteten Individuen zeigt. Womöglich inspiriert von den metaphysischen Welten des Thailänders Apichatpong Weerasethakul (u. a. Cemetery of Splendour) lässt sich All We Imagine as Light zu einer impressionistischen, magischen Odyssee in die Wunschwelten von Prabha und Anu bewegen – wer Tempo und Stakkato sucht, ist bei We All Imagine as Light fehl am Platz. Hier dominiert die Entschleunigung, die Kontemplation eines feministischen Psychodramas, das in ernüchternder Traurigkeit versinken könnte, allerdings den Weg innerer Befreiung wählt. Weit jenseits eines sentimentalen Rührstücks ist der Film voll kraftvoller Zuversicht, die sich in diesem Imagine wiederfindet – als schillernde, bunte Oase einer Taverne am Strand im gegenwärtigen Moment, der zeitlos erscheint.

All We Imagine as Light (2024)

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

SKLAVENTREIBEN IN BUKAREST

5,5/10


erwartenichtzuviel© 2023 Mubi


LAND / JAHR: RUMÄNIEN, KROATIEN, FRANKREICH, LUXEMBURG 2023

REGIE / DREHBUCH: RADU JUDE

CAST: ILINCA MANOLACHE, NINA HOSS, KATIA PASCARIU, SOFIA NICOLAESCU, UWE BOLL, LÁSZLÓ MISKE, OVIDIU PÎRSAN, DORINA LAZAR, ALEX M. DASCALU U. A.

LÄNGE: 2 STD 43 MIN


Immer wieder ruft die Europäische Union bei ihr an, Beethovens Ode an die Freude tönt als elektronische Quietschtonleiter aus dem Smartphone von Angela, die als völlig übermüdete Produktionsassistentin und eierlegende Wollmilchsau eines österreichischen „Schlampenvereins“ von Pontius zu Pilatus fährt, um ihre Tagesagenda zu erledigen. Um kurz vor sieben aus dem Bett zu steigen, klingt zwar nicht nach gottlos früh, doch Angela kommt wie Landvermesser K. aus Kafkas Das Schloss nicht zur Ruhe. Obszöne Akkordarbeit bringt sie dazu, in ähnlich obszöner Weise auf Social-Media alles und jeden in den Dreck zu ziehen, vorwiegend in vulgärem Gossenton und von Fellatio bis zum Cunnilingus sexuelle Verdorbenheit nicht nur den neuen britischen König angedeihen lässt, sondern auch diverse Mütter, Väter und sowieso der ganze Rest. Als rumänischer Borat mit Gesichtsfilter macht sie ihrer wütenden Ohnmacht freien Lauf. Hätte sie dieses Ventil nicht, wäre sie womöglich längst Amok gelaufen.

Stattdessen beweist sie zumindest so viel Zähigkeit und Durchhaltevermögen, um die Opfer diverser Arbeitsunfälle abzuklappern und diese für einen Werbefilm als Testimonials für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz zu gewinnen. Dass dabei unbezahlte Überstunden, Übermüdung, mangelnde Infrastruktur und Missstände in der Arbeitssicherheit im eigentlichen dafür schuld sind, dass manche von denen nicht mehr aufrecht stehen können, ist ein Umstand, den der westeuropäische Konzern unter den Teppich kehren will. Schnell wird klar: Radu Jude kritisiert in seinem neuen, massiv überlangen Streifen Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt jene Mitgliedstaaten der EU, die genug Einfluss, Macht und Geld besitzen, um den ehemaligen Ostblock nach Strich und Faden auf den Kopf zu scheißen.

Das Outsourcing in Billigländer ist leistbar und ungefährlich, für jene, die anschaffen, denn Kontrolle gibt es keine, Beschwerdestellen ebenso wenig und die Lust an der Ausbeutung einfach zu groß, um sich ihr nicht hinzugeben. Das ist harter Stoff, wenn Radu Jude auch gewillt gewesen wäre, nicht nur Ilinca Manolache als Mädchen für Alles beim Autofahren zuzusehen, während sie Kaugummi kaut und die Welt beschimpft. Der Tag im Leben dieser Angela, die eine Seelenverwandte aus den Achtzigern zu haben scheint, die ebenfalls Angela heisst und auf naiver Retro-Schiene in ihrem Taxi herumkurvt, um konservative Sexisten zu kutschieren, ist fast schon als Roadmovie zu verfolgen, während die Kamera unbeirrt und in grobkörnigem Schwarzweiß dem rechten Profil der Ausgepowerten folgt. Viel passiert nicht dabei, selbst die Schimpftiraden sind lediglich ein trivialer Ausdruck für allerlei Missstände, die es überall auf der Welt genauso gibt, die nicht unbedingt typisch rumänisch sind, sondern alle Länder betreffen, die vom Kapitalkolonialismus unterwandert und kaputtgemacht worden sind. Sudabeh Mortezai lässt in ihrem Film Europa Ähnliches an die Oberfläche sickern. Konventioneller zwar, doch weniger ausufernd.

Früher war alles besser, so scheint uns Radu Jude sagen zu wollen, früher war Bukarest noch das Märchen einer Taxi Driver-Romanze, frei von Feminismus und sonstigem woken Zeugs, überladen mit billigem Schlagerscore und irritierend nostalgisch. Dass Radu seine Sequenzen dann plötzlich ausbremst, als wäre der Vorführapparat defekt, gäbe es noch analoge Filmspulen, mag verwundern und sich auch im Kontext zum restlichen Film zumindest für mich nicht erklären. Die abrupte Schnitttechnik ist Radus Stil, das disharmonische Timing seiner Szenen ganz bewusst angewandt. Wenn dieser dann der gefährlichsten Straße Rumäniens seinen Respekt zollt und sein Publikum aus dem Flow reißt, ist auch das eine bewusste Disharmonie, die allerdings nirgendwo offensichtlich hinführen soll. Am Ende lässt Jude die Kamera in einer gefühlt ewigen Plansequenz laufen, Dialoge der Schauspieler aus dem Off sind das bisschen Salz in der Suppe, während alles andere handzahm bleibt, wenig Biss hat, einfach nicht ans Eingemachte gehen will, wie bei seinem Vorgänger Bad Luck Banging or Loony Porn. Als garstige Satire auf die Scheinheiligkeit rumänischer Biedermänner- und frauen kann die wild fabulierende und nicht weniger avantgardistische Groteske überzeugen – der Sarkasmus zur Arbeitslage der Nation hingegen kokettiert kaum mit Kuriositäten und bringt lediglich Widersprüche aufs Tapet, die im Kapitalismus nicht nur in Rumänien gang und gäbe sind.

Warum so kleinlaut, Radu Jude? Dass sich Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt mehr zum Experiment als zum treffsicheren Statement mausert, tut der Faszination für völlig unorthodoxes Anarcho-Kino, das keinem Regelwerk mehr folgt, keinen Abbruch. Trotz der satten Laufzeit von über 160 Minuten sind Radus Tagesbetrachtungen zwar schwachbrüstig, aber niemals langweilig. Vielleicht, weil das Überrumpeln von Sehgewohnheiten in diesem Werk letztlich alles ist. Der Rest nur Allerwelts-Ambition.

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

Murer – Anatomie eines Prozesses (2018)

ALS WÄRE DAS ALLES NIE GEWESEN

7/10


murer© 2018 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, LUXEMBURG 2018

REGIE / DREHBUCH: CHRISTIAN FROSCH

CAST: KARL FISCHER, KARL MARKOVICS, ALEXANDER E. FENNON, URSULA OFNER, RAINER WÖSS, GERHARD LIEBMANN, KLAUS ROTT, SUSI STACH, MENDY CAHAN, MATHIAS FORBERG, ROLAND JAEGER, MELITA JURIŠIĆ, INGE MAUX, HEINZ TRIXNER, CHRISTOPH KRUTZLER, FRANZ BUCHRIESER, ERNI MANGOLD U. A.

LÄNGE: 2 STD 17 MIN


Im Freisprechen sind die Österreicher Weltmeister, insbesondere im Freisprechen ehemaliger NS-Verbrecher, die sich nach Kriegsende auffällig leise verhalten und ihr biederes Gemeinwohlleben wieder aufgenommen haben. Das geht dann so weit, dass sie als integrer Teil der Gesellschaft unentbehrlich werden. Menschen wie diese, die während des Hitler-Regimes die Freiheit hatten, straflos über anderes, vermeintlich minderwertiges Leben zu richten, sind perfide genug, um so zu tun, als wäre nichts gewesen. Die verlederhoste Trachten-Gemütlichkeit, von der selbst Elfriede Jelinek schon geschrieben hat, beschert dem gern als Opfer unbequemer Zeiten angesehenen Provinz-Spießer die wahre Glückseligkeit. Einer wie Franz Murer, der ist ein Halbgott des Österreichtums, ein geselliger, bisschen kauziger Großgrundbesitzer mit Einfluss auf die Gemeindepolitik, umgeben von rechten Freunden und freundlichen Rechten. Der, so sagt er, sich niemals etwas zuschulden kommen ließ. Schließlich war Murer immer woanders, nur nicht dort, wo Verbrechen passiert sind.

Manche nannten ihn den Schlächter von Wilna. So ein namentlicher Appendix, der kommt nicht von irgendwoher und auch nicht aus dem Nichts. Als Fleischhauer wird er wohl nicht in die Geschichte eingegangen sein, denn schließlich war Murer Oberaufseher des litauischen Juden-Ghettos, und als Machtperson vor allem einer, dessen lockerer Finger am Abzug gar Frauen und Kindern das Leben gekostet hat. Ein Mann wie er hat Schaden und Schmerz verursacht, dass es ärger nicht hätte gehen können. Ein Mann wie er ist in den Sechzigern zum angesehenen Bürger geworden, wie viele andere auch in diesem schönen Land. Mit Simon Wiesenthal hat dann aber keiner gerechnet. Und so hat es dieser nach seinem Bravourstück mit Adolf Eichmann auch schließlich geschafft, diesen Franz Murer vor Gericht zu bringen.

Da sitzt der feiste Mittfünfziger mit kaltem Blick und wehleidiger Mine als einer, der nicht glauben kann, was ihm vorgeworfen wird. Ein Gesicht wie dieses, wenn es denn mordet, vergisst wohl niemand von denen, die dabeigewesen waren. Da ist es nicht wichtig, ob die Uniform grün oder schwarz oder dunkelbraun oder hellbraun gewesen war. Was zählt, ist das Konterfei, die ausdruckslose Mine, die Unerbittlichkeit willkürlichen Machtgebrauchs. Die Verteidigung sieht das anders, sie baut ihre Gegenargumentation auf Details wie diese auf. Und vermutet gar eine Verschwörung gegen den Angeklagten, der eine Lobby hinter sich weiß, die bis in die damalige österreichische Regierung reicht. Der Populismus war damals schon en vogue, und so gerät unter der Regie des Filmemachers Christian Frosch die Chronik eines Prozesses zur Leistungsschau autoritär Gesinnter, die als bereitwillige Mitläufer den Nazis eifrig zugearbeitet hätten – oder haben. Denn in den Sechzigern ist das Grauen in Europa bereits schon – oder erst – zwanzig Jahre her. Mord verjährt nie, und eine Anklage will gut vorbereitet sein. In einem Grazer Gerichtssaal wird der Zuseher Zeuge eines bereits im Vorfeld äußerst rechtslastigen Verfahrens, zu dem jüdische Zeugen, die im Ghetto von Wilna auf Murer stießen, geladen und angehört werden. Der Ausgang dieses Prozesses steht in den Annalen der österreichischen Gegenwartsgeschichte: Freispruch in allen Anklagepunkten.

Für die Rekonstruktion der Ereignisse konnte Frosch eine ganze Menge bekannter Gesichter gewinnen – Karl Fischer gibt das leutselige, scheinbar harmlose Monster im gedeckt grünen Jagdschloss-Look, bei den Zeugenaussagen spielt seine Mimik alle Stücke, während er versucht, nicht der zu sein, für den ihn viele halten. Karl Markovics darf in die Rolle Simon Wiesenthals schlüpfen. Klaus Rott, Susi Stach oder Gerhard Liebmann (grandios in Eismayer) sind drei der acht Geschworenen, Inge Maux zum Beispiel wütet als gedemütigte Jüdin gegen den schierpas erstaunten Murer, der im Heischen nach Mitleid ertrinkt. Dank dieses Ensembles führt Christian Frosch trotz seines nüchternen Inszenierungsstils die eigentliche Ambition hinter Murer – Anatomie eines Prozesses an ihr Ziel: Den authentischen Entwurf eines latent antisemitischen Dunstes, der durch den Gerichtssaal zieht. Zunehmend wird es unbequem, den Aussagen zu folgen, doch weniger wegen der Gräuel, von denen berichtet wird, als vielmehr von der grassierenden Verlachung von Tragödien. Statt Zeugen anzuhören, werden diese verhöhnt, erlittenes Unglück beschwichtigt. Wenn die Exekutivorgane der Justiz beim Freispruch des Schuldigen aus der Befürwortung dessen kein Hehl mehr machen, weiß man, was es geschlagen hat. Murer ist eine fröstelnd machende Bestandsaufnahme eines braun unterwandernden Österreich. Der Advokat des Teufels mag zwar am Ende geläutert sein – die Realität holt jede Fiktion dennoch ein und erzeugt vor einer unbequemen Klangkulisse einen Kloß im Hals, der einhergeht mit der Gewissheit, dass längst noch nicht alles gut ist.

Murer – Anatomie eines Prozesses (2018)

Corsage

DIE KAISERIN EMPFIEHLT SICH

8/10


sisi© 2022 Alamode Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, LUXEMBURG, DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2022

BUCH / REGIE: MARIE KREUTZER

CAST: VICKY KRIEPS, FLORIAN TEICHTMEISTER, KATHARINA LORENZ, COLIN MORGAN, JEANNE WERNER, ALMA HASUN, MANUEL RUBEY, AARON FRIESZ, FINNEGAN OLDFIELD U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Eine Kaiserin gehört zum Kaiser! Das hat schon Vilma Degischer in Ernst Marischkas schmuckem Monarchie-Triptychon Sissi – Die junge Kaiserin von sich gegeben. Doch wo sie recht hatte, hatte sie recht. Elisabeth von Österreich-Ungarn war der angehimmelte und auf recht bürokratische Weise geliebte Sonnenschein im Abendrot der Kaiserzeit, in welcher der Verputz bereits von den Wänden bröckelt und man vorausschauend bereits das Mobiliar zumindest in den Gängen bereits für den Winter der Republik aufgetürmt hat. So zumindest in Marie Kreutzers Cannes-prämierter Nabelschau auf einen Mythos, der als breit aufgefächerte Legendengestalt gleich einer Pop-Ikone nicht nur auf Souvenirs aller Art für jeden noch so kleinen Haushalt verewigt, sondern von vorne bis hinten biographisch analysiert, verstanden und nochmals neu verstanden wurde. Deren tägliche Agenda durch Aufzeichnungen ihrer Zofen dargelegt und sowohl als straff organisierte Superheldin genauso interpretiert wird wie als in den goldenen Käfig des Hofzeremoniells gesperrte Rebellin, die bis auf das Königreich Ungarn und Töchterchen Valerie so irgendwie überhaupt nichts interessiert hat, was mit gelebtem Imperialismus zu tun hat. Sisi (nicht Sissi, klingt aber besser) gibt’s als Romy Schneider-Hassobjekt genauso wie als Musical, TV-Serie und Animationsparodie Marke Bully Herbig. Sisi ist längst losgelöst von nur einer historischen Figur. Ein Mythos, von dem man kennt, was andere überliefert haben. Platz genug also, sich von allen möglichen Seiten einer im öffentlichen Interesse niemals für Müdigkeit sorgenden Gestalt zu nähern. Die Freiheit liegt dabei im Auge der Künstler und Filmemacher, die natürlich ihren ganz persönlichen Zugang haben, und die sich selbst womöglich nicht auferlegen müssen, gleich alles, was zu diesem Thema aufliegt, gelesen haben zu müssen.

Dabei entstehen Filme wie Pablo Larrains Spencer über Prinzessin Diana, eine „Leidensgenossin“ Elisabeths. Gefangen im monarchistischen Diktat, verkommen zur Fassade, innerlich aber so bockig wie ein Bulle kurz vorm Rodeo. Und es entstehen Filme wie Corsage, viel mehr Psychogramm und subjektive Huldigung als akkurate Biografie. Will heißen: HistorikerInnen werden ob dieses Werks wohl nicht erfreut sein. Vor die Wahrheit hängt Marie Kreutzer, auch verantwortlich fürs Skript, die samtrote Kordel. Wer die Wahrheit sucht, der sollte woanders suchen. Nicht hier, nicht in diesem Gedankenbildnis aus dem Inneren eines schwer greifbaren Gemüts, das zu seinem vierzigsten Geburtstag mit dem Leben schon gerne abschließen will, denn mit Vierzig ist Frau bereits alt und kaum mehr zu repräsentieren. Ein Gramm zu viel auf den Hüften landet als Schlagzeile in der Presse, ein Blick zu viel auf den Reitlehrer lässt die „Neue Post“ Umsatzrekorde erzielen. Elisabeth strauchelt und geistert durchs Kaiserreich, reist hierhin und dorthin, trifft Ludwig II. oder die Spencers in Großbritannien. Reitet, fechtet, turnt. Um gesellschaftlichen Pflichten zu entgehen, fällt sie gerne absichtlich in Ohnmacht. Und lässt sich später gar doubeln. Kreutzer konzentriert sich dabei auf das Nichtwollen und die rebellische Ablehnung eine in ein Korsett gezwängte Alice im Wunderland. Will Kreutzer also absichtlich Österreichs liebste Kaiserin demontieren oder gar mutwillig in ihre Einzelteile zerlegen? Manche sagen ja. Ich meine: nicht unbedingt. Es ist nur das andere, in weitem Abstand den Marischka-Filmen gegenüberliegende Ende. Ein subjektiver Interpretationsversuch von der Maschekseite, dazu gehören beleidigende Gesten, verfilztes Haar und Zigaretten. Die Befehlsgewalt über ihre Entourage und immer wieder Bäder.

Corsage zeigt sich als loses Portrait ohne konkrete Handlung, als würde ein Expressionist das Bild einer VIP malen. Dabei steht Vicky Krieps in klassischen, wiedererkennbaren Posen Modell. Aber auch auf eine Weise, die mit der gewohnten, liebgewonnenen und schmeichelnden Sichtweise bricht. Das Kappen ihrer stolzen Haarpracht ist dann der schmerzliche Wendepunkt für Sisis Fandom. Wird wohl nie so gewesen sein, wie vieles in Kreutzers Film. Auch Franz Josephs abnehmbarer Backenbart. Corsage kokettiert mit der Gegenwart und nimmt, begleitet vom ungemein nuancierten und hypnotischen Score der Sängerin Camille, das längst fällige Aufmüpfige aus späteren Zeiten vorweg. Lässt sich in seinen Assoziationen zum Mythos Sisi so sehr treiben, bis sich dieser in Nichts auflöst oder im Meer versinkt.

Corsage

Bad Luck Banging or Loony Porn

DIE KRUX DES EGOZENTRISCHEN WELTBILDES

7,5/10


badluckbanging© 2021 Panda Lichtspiele

LAND / JAHR: RUMÄNIEN, LUXEMBURG, TSCHECHIEN, KROATIEN 2021

BUCH / REGIE: RADU JUDE

CAST: KATIA PASCARIU, CLAUDIA IEREMIA, OLIMPIA MALAI, NICODIM UNGUREANU, ALEXANDRU POTOCEAN, DANA VOICU, GABRIEL SPAHIU U. A. 

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Es kann gut sein, dass mein Beitrag nach dem Teilen auf diversen Social Media-Plattformen von der Zensur geblockt wird. Das Wort „Porn“ kommt darin vor. Kann gut sein, dass die Zugriffe auf diesen Artikel dadurch in die Höhe schnellen. Kann alles sein. Kann sogar sein, dass ein Film wie dieser trotz oder gerade wegen seinen expliziten Darstellungen den Goldenen Bären der Berlinale gewinnen kann. Und auch, obwohl sich Banging und Porn in den Titel schummeln. Eine Vorverurteilung hat aber nicht stattgefunden, denn Radu Jude hat für seine virtuose Satire tatsächlich die höchste Auszeichnung erhalten. Gibt es also rund 50 Jahre nach Deep Throat ein Porno-Revival in klassischen Kinosälen? Nein, nicht wirklich. Bad Luck Banging or Loony Porn will das gar nicht. Dieser Film – wie soll ich sagen – ist zwar ein obszönes, aber gutgemeint groteskes Stück Kino, das sicherlich nicht zum besten Freund wird – auf den zweiten Blick jedoch kann man das, was da abgeht, so gut nachvollziehen, als wäre man mit diesem polemischen Stück publiker Selbstreflexion schon lange auf Du und Du.

Man kann gut erkennen, was entsteht, wenn nichts und niemand einem Filmemacher ins Handwerk pfuscht. Radu Jude befindet sich inmitten der Pandemie, wir schreiben das Jahr 2020, und man merkt auch, dass für seine Ideen die Weltlage gar nicht besser hätte sein können. In dieser Pandemie, die Jude auf die aufreibendsten Arten des Maskentragens, Händedesinfizierens und nicht eingehaltene Sicherheitsabstände reduziert, ist der gesellschaftliche Sodbrand kurz davor, bis in den Rachenraum aufzusteigen. Zu keiner Zeit in der jüngeren Geschichte lässt sich die Doppelmoral des Menschen in der Dynamik einer Gesellschaft so sehr ans Tageslicht zerren wie in dieser. Dabei passiert nicht viel, und seit Thomas Vinterbergs grandiosem Rufmord-Drama Die Jagd wissen wir auch, wie Massenmedien im Computer- und Handyzeitalter zusätzlich Zunder geben. Zum Leidwesen der Kinder und derer, die des Berufs wegen für diese verantwortlich sind. Immerhin ist passiert, was nun mal so passiert: Die Lehrerin Emi hat Sex mit ihrem Ehemann – sie filmen sich dabei, und wir sehen das auch. Blöderweise stellt der nicht wirklich vorausdenkende Göttergatte das sogenannte Sex Tape auf Pornhub – wo dieses alsbald von den Schülern aus Emis Klasse gesehen wird. Empörter kann die Elternschaft nicht sein. Wie kann man nur! Sie fordern eine Konferenz, um die gute Frau zur Rede zu stellen. Oder ganz einfach fertigzumachen.

Bad Luck Banging or Loony Porn hat drei Kapitel, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Nach dem gar nicht jugendfreien Vorspiel folgen wir Emi quer durch Bukarest. Es ist die Bestandsaufnahme einer verdorbenen Welt aus billigen Obszönitäten, Aggressionen und kompensierten Psychosen. Ein Panoptikum zwischen Zerfall und Übersättigung, dabei ruht die Kamera weniger auf Emis Spaziergang durch die Welt als vielmehr auf einen Alltag, der sich selbst zuwider zu sein scheint. Kapitel zwei ist ebenfalls ein Sammelsurium – eine alphabetische Abfolge diverser Begriffe, die, größenteils mit Archivaufnahmen bebildert, eine Collage dessen ergeben, was Rumänien bewegt. Kapitel drei dann der Elternabend des Grauens. Eine Geisterbahnfahrt des Fingerzeigens und des Besserwissens. Ich will nicht sagen: des Querdenkens.

Wer mir dazu einfällt: Der Schwede Ruben Östlund beschäftigt sich nicht erst seit The Square mit ähnlichen Themen und seziert dabei menschliches Gruppenverhalten, über welches die Vernunft allzu leicht stolpert. Sei es nun, Eigenverantwortung zu übernehmen – oder die Verantwortung über den eigenen Nachwuchs. Jude spricht diese Fähigkeit der „Elterngeneration What?“ Ein für alle Mal ab. Seine Erzieherinnen und Erzieher verorten aus reiner Bequemlichkeit und nach erhörten Predigten über ein egozentrisches Weltbild die moralische Verantwortung jenseits der eigenen Familie. Dabei ist nicht das Problem, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Wahl der immer bequemeren Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Was bleibt, ist ein Aneinanderrennen starrer Weltsichten und liberaler Koketterie. In Judes Groteske erkennt man letzten Endes mit Schrecken, selbst zu einer dieser Gruppen zu gehören. Was dagegen tun? Im Avantgarde-Kino von heute bleibt da nur noch die verzweifelte Möglichkeit, mit ätzendem Zynismus die Nimmerbelehrbaren in die Selbstreflexion zu nötigen.

Bad Luck Banging or Loony Porn

Hinterland

VERSTÖRTE WELT

7/10


hinterland© 2021 Constantin Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, LUXEMBURG, BELGIEN, DEUTSCHLAND 2021

REGIE: STEFAN RUZOWITZKY

CAST: MURATHAN MUSLU, LIV LISA FRIES, MAX VON DER GROEBEN, MARC LIMPACH, AARON FRIESZ, STIPE ERCEG, MARGARETHE TIESEL, MATTHIAS SCHWEIGHÖFER U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Der Expressionismus lebt! Oder hat sich zumindest aus den kunstgeschichtlichen Archiven erhoben, in denen er gefühlt seit Ende der Vierzigerjahre vor sich hindämmern durfte. Verabschiedet hat sich der markante Stil damals mit einem zeitlosen Klassiker: Der dritte Mann. Carol Reed warf, untermalt mit den Klängen von Anton Karas, sein Publikum in eine verfremdete Dimension aus Licht und Schatten. Im Fokus stand da eine Welt, die vormals Wien gewesen sein soll. Kaum zu erkennen, dieses Chaos aus Ruinen, denunzierenden Passanten und dem formschönen Riesenrad, dass sich auch nach der Apokalypse immer noch weiterdreht. Eine verstörte Welt also. Dabei haben die Wiener das schon zum zweiten Mal erlebt. Beim ersten Mal wurde Österreichs Bundeshauptstadt zwar nicht zerbombt, dafür aber fanden in den Jahren nach Kriegsende immer wieder Scharen totgeglaubter Seelen ihren Irrweg nachhause. Nur um festzustellen, dass diese Heimat, die nur noch auf Fotografien die Geborgenheit einer Biographie widerspiegelt, entstellt vor sich hin darbt, und nichts mehr Vertrautes zum Geschenk machen kann.

Einer dieser Heimkehrer ist Peter Perg, und er findet sich, gemeinsam mit seinen Kameraden, nach zweijähriger Kriegsgefangenschaft vor einer undurchdringlichen Kulisse aus zerrissenen Postkarten wieder, die notdürftig gekittet wurden, um die Identität einer Stadt zu bewahren. Nichts ist mehr wie früher, alles ist neu – und mutig geht in diese Zeiten wohl keiner voraus. Perg schon gar nicht, aber er weiß zumindest noch, wo er gewohnt hat. Dort allerdings ist niemand mehr – Frau und Kind sind aufs Land gezogen. Während der gezeichnete und traumatisierte Rückkehrer versucht, irgendwo Halt zu finden, erschüttert eine Mordserie die Metropole an der Donau. Und zwar eine, deren Opfer nicht einfach so gemeuchelt, sondern in schrecklichen Tableaus zur Schau gestellt werden. Der Killer will irgendetwas mitteilen – nur was? Perg, ehemals polizeilicher Ermittler und Gerichtsmedizinerin Körner (Liv Lisa Fries) versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Nebenher allerdings fordert der Krieg in seinen Nachwehen von allen möglichen Leuten ihren Tribut.

Das schöne Wien, das liegt im Hinterland, jenseits der Front. Jahrzehnte später wird es den Zweiten Weltkrieg geben, und die Saat dafür wird längst ausgestreut. Ähnlich wie Tom Tykwer in seiner kongenialen Krimiserie Babylon Berlin harrt Europa in unruhiger Ausgelassenheit einem neuen Sturm entgegen. Stefan Ruzowitzky beeindruckt in erster Linie damit, mit nicht nur technischer Raffinesse, sondern auch mit einem Gespür für den Einsatz seiner Komparserie ein urbanes Chaos zu erzeugen, welches das freie Spiel der Kräfte in einem sozialpolitischen Vakuum ebenso kongenial widerspiegelt wie Tykwer das geschafft hat. Sein Wien birgt nicht das Toben einiger weniger Statisten, sondern das einer dichten, breiten Masse unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Ambitionen. Mittendrin in diesem Gewusel ein Mann wie Murathan Muslu, der trotz fehlender Schauspielausbildung ein Talent an den Tag legt, mit dem manch andere, die das Fach studiert haben, nur schwer mitkommen. Dazu kommt Muslus sonorer, exakt ausformulierter Spruch, eine gehobene, dialektlose Theatersprache, der fast schon ein bisschen das Ausfällige fehlt. Trotz dieser Widersprüche bleibt die Figur von Perg stark und dominant, ein an sich selbst zweifelnder Suchender, der, emotional ausgebrannt, versucht, die schrägen Winkel einer kaputten Architektur wieder geradezurücken.

Manchmal allerdings verlässt den Machern der Ehrgeiz, dieser subjektiven Wien-Wahrnehmung Pergs konsequent zu entsprechen. Eher halbgare Versuche, Häuserzeilen und Sehenswürdigkeiten ineinanderzustecken und übereinanderzustapeln, zeigen Schwächen im Gestaltungsprozess. Einige Close-Ups sind offensichtlich als Hommage an Der dritte Mann gedacht, das Verzerrte huldigt den Kulissen aus Robert Wienes Dr. Caligari. Auch hier hätte Ruzowitzky mehr mit Kontrasten arbeiten können, viel mehr mit Licht und Schatten, wie er es manchmal, aber viel zu selten tut. Ob das Ganze in Schwarzweiß besser gewesen wäre? Wäre interessant, zu sehen. Vielleicht lässt sich unser Oscarpreisträger später nochmal dazu hinreißen, eine unbunte Version von Hinterland zu veröffentlichen, so wie James Mangold das mit Logan getan hat. Vielleicht würde mich das noch mehr begeistern.

Hinterlands Stärke liegt im Einfangen einer so individuellen wie nationalen Katharsis. Und weniger im Zelebrieren eines Serienkiller-Plots wie diesen, der mit seiner Aufgabe als begleitende Metaebene zufrieden scheint. Doch auch wenn dieser Film mehr Psychogramm als klassischer Wien-Krimi ist, überzeugt allein schon die innovative, audiovisuelle Komposition, die eine ganz eigene Stimmung schafft.

Hinterland