Corpus Christi

WILLST DU PRIESTER, KANNST DU PRIESTER

6,5/10

 

CorpusChristi© 2020 Arsenal Filmverleih

 

LAND: POLEN 2019

REGIE: JAN KOMASA

CAST: BARTOSZ BIELENIA, ELIZA RYCEMBEL, ALEKSANDRA KONIECZNA, LUKASZ SIMLAT, TOMASZ ZIETEK U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


„…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. So heißt es doch im längst auswendig gelernten und niemals verlernbaren Vater unser, soweit ich mich erinnern kann. Interessanterweise aber hält sich die Kirche selbst am Wenigsten daran. Denn es ist – laut Jan Komasas Filmdrama Corpus Christi – verboten, als vorbestrafter Mensch, so sehr dieser auch geläutert sein mag, das Priesteramt auszuüben. Jesus hätte tadelnd den Kopf geschüttelt. Denn diese Handhabe ist genau das, was Jesu Botschaft nicht ist. Genauso wie das Zölibat, ein gänzlich anders Kapitel. Aber seis drum – die Kirche hat ihre obsoleten Regeln, und der Messias bleibt mit dabei. Der ist auch mit dem Kriminellen Daniel auf einer Spur, denn dieser will nichts anderes, als nach dem Absitzen seiner Strafe im Knast predigen zu dürfen. Geht nicht. er muss ins Sägewerk irgendwo am Land, in der Nähe eines polnischen Dorfes im scheinbaren Nirgendwo. Wie es der Zufall will, ist der ortsansässige Pfarrer gesundheitlich etwas angeschlagen und muss für medizinische Behandlungen mal kurz weg. Altar frei für Daniel, der den Namen seines geistlichen Vorbildes in der Jugendstrafanstalt annimmt, zufälligerweise ein Priestergewand bei sich trägt und die Gelegenheit am Kreuze packt. Was Daniel nicht weiß – die Dorfgemeinschaft hat schon mal bessere Zeiten erlebt. Und hätte einen Geistlichen, der die Nachwirkungen einer Tragödie wieder erträglich macht, bitter nötig.

Zaungäste der letzten Oscar-Verleihung wissen es: Corpus Christi war für die Kategorie Fremdsprachen nominiert, gewonnen hat dann Parasite. Der polnische Beitrag allerdings hat auch seine Stärken, und er erzählt eine Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht. Tatsächlich hat es einen solchen Fall gegeben, in dem sich ein Fake-Priester die Gunst seiner Schäfchen sichern konnte. Willst du Priester, kannst du Priester. Das Wort Gottes sollte ja beinahe schon jeder verkünden können, der weiß, was er zu sagen hat. Jesus selbst war ja auch kein Geistlicher, sondern schlicht und einfach ein Zimmermann. Überraschend aber auch, dass Corpus Christi vor allem auch auf religiöser Seite auf Anklang stieß, führt doch das Auftreten des jungen Daniel ein langwieriges Studium in Sachen Theologie ad absurdum. Denn letzten Endes spricht man nur mit dem Herzen gut, und Wahrheit braucht keine Prüfung. Der Rest ist Sache eines integren Autodidakts.

Komasas Film ist aber längst kein bleischweres Betroffenheitskino, obwohl Inhalt und Thema etwas anderes vermitteln wollen. Was wie ein düsteres Knastdrama beginnt, schlägt relativ kurze Zeit später die Richtung eines erfrischend anderen Psychogramms einer Gemeinde ein, die drauf und dran war, sich selbst in eine Stasis aus Trauer und Hass zu verbannen – hätte nicht Daniel das Zeug dazu, das Ruder auf unorthodoxe, dafür aber urchristliche Art rumzureißen. Diese kollektive Katharsis setzt Komasa dicht in Szene, seine Bilder sind von weihrauchverhangener Düsternis, dazwischen deftige Rhythmen, viele Zigaretten und fahles Licht. Daniel wird zur erfrischenden Gestalt selbigen inmitten dieser verbohrten Unfähigkeit, den Grundgedanken von Vergebung zu leben. Schauspieler Bartosz Bielenia, von dem man sicher noch so manches hören wird, verleiht dem falschen Prediger eine mitreißende Intensität. Man hört ihm zu, man folgt ihm, man fühlt sich vielleicht irritiert, doch motiviert dies vielleicht festgefahrene Gedanken zur Umkehr. Prachtvoll, dieser Aufruf, genau dem die Hand zu reichen, der ein Unglück vielleicht verschuldet hat. Dabei erscheint die Kleinheit des um sich rotierenden und absolutionsgierenden Menschen so klar und deutlich, und völlig unmissverständlich.

Corpus Christi aber ist kein Läuterungskitsch, und nirgendwo blickt auch nur irgendwer in einen kitschigen Sonnenaufgang. Nein, dieser Film ist kein Freund der Kirche, eher ein Freund einer nicht nur christlichen Ethik. Was am Ende aber aus diesem Abenteuer der Menschlichkeit herauskommt, lässt dann doch nochmal ratlos zurück. Absolution gibt’s dann leider nicht für alle, und ein bisschen Sonnenaufgang am Rande hätte ich mir fast gewünscht. 

Corpus Christi

Leviathan

HIOB LÄSST SICH GEHEN

6/10

 

Leviathan© 2015 Wild Bunch Germany

 

LAND: RUSSLAND 2014

REGIE: ANDREY ZVYAGINTSEV

CAST: ALEKSEY SEREBRYAKOV, ELENA LYADOVA, VLADIMIR VDOVICHENKOV, ROMAN MADYANOV, ANNE OUKOLOVA U. A.

LÄNGE: 2 STD 21 MIN

 

Du bist der Fels, auf dem ich meine Kirche baue. Das soll damals, wenn man den Überlieferungen glaubt, Jesus zu Petrus gesagt haben. Petrus hat diese Bürde dankend angenommen. Anderen gefällt dieses Gleichnis weniger. Zum Beispiel Kolia, dem Vater eines Sohnes und Erbe eines stattlichen Holzhauses an der Küste der Barentssee. Ein herrliches Fleckchen Erde mit Rundblick bis hinaus auf den fernen Horizont, umgeben von Felsen und Wellen, hinter einer Brücke geht die Kleinstadt erst weiter. Das Häuschen selbst bietet angenehm rustikalen Komfort, hat große Fenster – moderner Landstil, wenn man so will. Da lässt sichs leben. Das weiß auch der Bürgermeister der Gemeinde, und das weiß auch die russisch-orthodoxe Kirche, die dort, an diesem exponierten Plätzchen, eine Kirche bauen will. Der richtige Fels also. Nur blöd, dass Kolia dort lebt. Der Bürgermeister wird’s hoffentlich richten, oder? Damit es den Mächtigen schmeckt. Fällt sicher was für den feisten Herren etwas ab. Kolia muss also seinen Besitz veräußern, ob er will oder nicht. Doch der hat zufällig einen Freund in Moskau, der Anwalt ist. Mit ihm zieht er vor Gericht, bringt ans Licht, was der Machtmensch des Ortes sonst noch für Dreck am Stecken hat. Doch der liebe Gott meint es nicht gut mit Kolia, der den dem Wodka zugeneigten Mechaniker so dermaßen auf die Probe stellt, dass man als Mensch eigentlich nur verlieren kann. Wenn man nicht ein Machtmonster wie der Bürgermeister ist.

Leviathan, das ist doch ein Seeungeheuer aus der christlich-jüdischen Mythologie? In einer Szene des Films zitiert ein Geistlicher im Gespräch mit Kolia aus dem Buch Hiob, um klarzumachen, dass sich ein Kampf mit dem Monster bei Weitem nicht lohnt. Das Monster, das sind die Mächtigen, ein ungreifbares und unangreifbares Ungetüm, bestückt mit zahlreichen Gliedmaßen, fast schon einer Hydra gleich. Bezwingen lässt sich das nicht. Der kleine Mann kann hierbei nur verlieren, es sei denn, er findet Halt im Glauben. Doch letzten Endes ist es die Institution des Glaubens, die den armen Trinker verrät – und ihm alles nimmt. Erbauliches Kino ist das keines, viel eher bitterer Filmrealismus, in welcher sich das Tragische zuspitzt wie sonst nur in klassischen Tragödien. Jim Sheridans themenverwandtes Enteignungsdrama Das Feld ist von ähnlich epischer Tragweite, auch Das Haus aus Sand und Nebel mit Ben Kingsley und Jennifer Connelly kennt die destruktive Dynamik von Existenzverlust und freiem sozialem Fall.

Der Wodka, der fließt dabei in Strömen und feiert den heulenden Niedergang. Wenn die monströsen Zähne der Baggerschaufel in die häusliche Geborgenheit der heiligen vier Wände einschlagen und diese niederreißen, dann sind das die schmerzlichsten, wie auch stärksten Szenen des Films. Andrey Zvyagintsev entzieht der Kirche und den Mitmenschen das Vertrauen. Der Politik sowieso. Nur der Glaube könnte ihn noch retten, doch anders als bei Hiob ist dieser bei Kolia nur peripher bis gar nichtvorhanden. Der einzige Freund, der noch bleibt, das ist der Kartoffelschnaps. Worauf also will Zyvagintsev hinaus? Was für mich übrig bleibt, ist ein Klagelied auf alles Mögliche (sogar auf den Alkohol), was, so lässt es sich vermuten, in Russland im Argen liegt. Wie kann es anders sein, in einem Land, in dem die Mächtigen gefühlt auf ewig mächtig bleiben wollen? Das ganze Land scheint wie ein diffuser Leviathan zu sein, so zumindest illustriert es dieser Film, dessen prädestinierter Abwärtstrend nicht aufwühlt, aber in seltsam phlegmatischer Resignation zurücklässt.

Leviathan

Waves

ZWEIKLANG EINER FAMILIE

7/10

 

WAVES© 2019 Universal Pictures International Germany GmbH

 

LAND: USA 2019

REGIE: TREY EDWARD SHULTS

CAST: KELVIN HARRISON JR., TAYLOR RUSSELL, STERLING K. BROWN, LUCAS HEDGES, ALEXA DEMIE U. A. 

 

Gibt es die perfekte Familie? Social Media will uns das zwar unter frei wählbarer Message Control weismachen, aber – nein, natürlich gibt´s die nicht. Auch wenn Eltern sich bis zur Verausgabung anstrengen, um den Nachwuchs zu einem Wunderkind zu erziehen. Laut Familienvater Rupert müssen sich schwarze Familien doppelt so hart anstrengen, und doppelt so viel leisten, um das zu erreichen, was die Weißen haben. Und er tut das, er pusht seinen Sohn Tyler, der das Zeug zum Meisterringer hat, zu jeder Tageszeit. Tyler ist des Vaters roher Diamant, der geschliffen werden will. Ob Tyler das auch so sieht? Nun, er tut seine Pflicht. Was heißt eine – alle möglichen Pflichten. Will perfekt sein, den Big Daddy zufriedenstellen. Aber da der Anspruch, perfekt sein zu wollen, ja genauer betrachtet an sich schon eine gewisse Verpeilung darstellt, kann dieser leicht zur Obsession werden. Und Obsession führt zum Kurzschluss, wenn höhere Mächte den Eifer bremsen. Und die prasseln der Reihe nach auf den 18jährigen Jungen ein. Tyler bangt um seine Zukunft, und als sich jede Hoffnung zu zerstreuen scheint, verliert auch er den Boden unter den Füßen.

Es ist wie die Sache mit Ikarus. Die Flügel werden schmelzen, je höher er fliegt. Natürlich weiß er das, tut es trotzdem – und fliegt zu hoch. Ikarus stürzt ab. Tyler, der Sohn mit so viel Potenzial, hechtet hinterher und lässt sich von einer Abwärtsspirale aus scheinbar irreparablen Umständen ins Nichts ziehen. Wobei diese Episode des Films nur die Hälfte des Erzählten ist. Was Trey Edward Shults (u.a. It Comes at Night) hier erzählt, ist weitaus mehr und nicht nur das Falling Down eines schwarzen Jugendlichen, der meint, den Ansprüchen aus dem Elternhaus nicht zu genügen. Waves ist auch der Leitfaden raus aus einer familiären Katastrophe, die nicht mehr der gestrauchelte Tyler dominiert, sondern dessen Schwester Emily. Ein Film also, der zwei Geschichten eint, die, sich ergänzend, vom Erwachsenwerden, von Vergebung und vom Plan B erzählen, der längst nicht perfekt, dafür aber machbar und letztendlich lebenswert scheint.

Für diese Fülle an Drama und Tragödie findet Waves eine virtuose Bildsprache, die vor allem anfangs in seinen Bann zieht. Die Kamera scheint zu rotieren, alles dreht sich, alles bewegt sich, die Party des Lebens kann nicht gestoppt werden. Ein Quell an Farben, Unschärfen und Rhythmen, die Julian Schnabel wohl gefallen würden. Shults gelingen in seinem selbst verfassten Werk einige meisterhafte Szenen, die so hypnotisch sind wie jene aus Barry Jenkins Oscar-Gewinner Moonlight. Inhaltlich haben beide nicht viel gemein, doch das Lebensgefühl unter den jungen Menschen Floridas lässt sich da wie dort nicht nur zum Spring Break-Event einfangen, sondern auch in Momenten des Innehaltens und Reflektierens. Waves ist auch längst kein Beitrag zum Black Lives Matter-Betroffenheitskino – die Problematik der schwarzen Minderheit ist hier, so fühlt es sich zumindest an, überhaupt kein Thema. Das hat etwas Befreiendes, geradezu Pionierhaftes. Ob Schwarz oder Weiß ist hier mehr oder weniger egal, denn das ganze Drama lastet ohnehin schwer auf den Schultern aller beteiligten Protagonisten, die von einem Ensemble geführt werden, das in dieser fiebrig-irrlichternden Soulballade alle Anstrengung nicht umsonst sein lassen. Kelvin Harrison Jr. als Tyler gibt psychisch wie physisch alles, Taylor Russell (derzeit auf Netflix mit Lost in Space) führt mit verträumter Melancholie die Katharsis ihrer Familie an und Sterling K. Brown darf die Scherben vom Idealbild selbiger aufsammeln. Das mag alles ein dichter, gehaltvoller Brocken an Film sein, und ja, Geschichten wie diese lassen sich einfach auch weniger mäandernd erzählen, doch in seiner Gesamtheit ist Waves ein zeitgemäßes Epos, (tränen)reich an Farben und Klängen, welches das Leben, egal wie es kommt, um jeden Preis annimmt.

Waves

Kursk – Niemand hat eine Ewigkeit

BAUERNOPFER FÜR FALSCHEN STOLZ

7,5/10

 

A950C001_170406_R74N© 2019 The Wild Bunch Germany

 

LAND: BELGIEN, FRANKREICH, NORWEGEN 2018

REGIE: THOMAS VINTERBERG

CAST: MATTHIAS SCHOENAERTS, LÉA SEYDOUX, COLIN FIRTH, AUGUST DIEHL, MATTHIAS SCHWEIGHÖFER, PETER SIMONISCHEK, MAX VON SYDOW, MAGNUS MILLANG U. A. 

 

Anfangs erinnert so manches an Michael Ciminos Antikriegsdrama Die durch die Hölle gehen. Die bunt zusammengewürfelte Crew eines russischen U-Bootes plant eine Hochzeit, feiert auch diese recht ausgelassen – Thomas Vinterberg findet in den ersten Szenen seines Films einen ungeahnt intimen Zugang zu seinen Figuren, die hier das Leben und die Zukunft zelebrieren. Kinder legen quirlige Langeweile an den Tag, wie das bei Festen eben so ist. Reden werden gehalten, der eine oder andere flennt. Kurzum: da sind Freunde alle auf einen Haufen, und all diese guten Kameraden, die werden tags darauf auf Mission geschickt. Zwar nicht in den Krieg, dafür aber zu einer Testfahrt für eine Handvoll Marschflugkörper, deren Effektivität geprüft werden muss. Routine, mehr nicht. Und deshalb sind auch all die Angehörigen – Töchter und Söhne jede Menge – relativ entspannt beim Verabschieden der Väter und frisch Verheirateten, die natürlich wieder zurückkehren werden. So ist das, wenn man der Marine dient. Und bisweilen läuft ja die Erwartungshaltung Mütterchen Russlands mit denen der Matrosen recht konform. Bis das Unglück eintritt.

Am 12. August 2020 jährt sich die Tragödie aus der Barentssee zum 20ten Mal. Wer die Schlagzeilen von damals noch im Kopf hat, wird wissen, dass hier keiner überlebt hat. Warum also sollte man gemeinsam mit der Kursk stimmungstechnisch so tief sinken wollen, wenn klar ist, dass sich sowieso keiner der Verunglückten schadlos hält? Ich habe lange hin und her überlegt: Inwiefern lohnt sich ein Film, wenn man weiß, wie es endet? Weil Kursk von Thomas Vinterberg nicht nur Chronik einer Agonie zwischen den Wänden eines geschrotteten U-Boots sein will. Sondern auch – und das vor allem – das katastrophale Portrait einer Weltmacht, die ihren Nationalstolz über Menschenleben stellt. Unter diesem Aspekt ist Kursk ein beeindruckender Geschichtsfilm aus dem jungen neuen Jahrtausend geworden. Starbesetzt bis unter den Meeresspiegel, angefangen von Colin Firth als Kommandant der britischen Marine bis hin zu „Toni Erdmann“ Peter Simonischek und – welche Überraschung – Matthias Schweighöfer fernab jeglicher Bobo-Romantik. Er ist es auch, der relativ früh schon bemerkt, dass einer der Torpedos Mucken macht. Die Bitte, diesen etwas früher abzuwerfen als geplant, wird von der U-Boot-Führung abgelehnt. Sekunden später das Desaster: das Vehikels explodiert, gleich zweimal hintereinander und reißt sofort zwei Drittel der Besetzung mit sich ins Verderben. Die anderen retten sich ins andere, noch heile Ende, machen die Schotten dicht, harren dort aus, in Eiseskälte und mit wenig Sauerstoff. Rein theoretisch hätten die zwei Dutzend Mann problemlos gerettet werden können, hätte Russland nicht so dermaßen verschlissenes Bergungsgerät zur Verfügung gestellt, dass jeder Andockversuch des Rettungsbootes folglich scheitern hat müssen.

Was folgt, sind bange Stunden – sowohl unter Wasser als auch an Land. Die Familien tun sich zusammen, nötigen den Krisenstab, Informationen preiszugeben, die sich nicht preisgeben wollen. Max von Sydow darf in seiner letzten Filmrolle die verknöcherte Eitelkeit eines obsoleten weltpolitischen Denkens verkörpern, die gnadenlose Zensur von Schwäche. 110 Meter unter dem Meeresspiegel zittern Matthias Schoenaerts mit einer Handvoll Überlebender um die Wette. In fast jedem anderen Film könnte der Zufall noch Vater der Hoffnung sein – hier allerdings ist es umso bitterer, wenn man weiß, dass alle Zuversicht umsonst ist. Vinterberg, berühmt für seine messerscharfen Gesellschaftsdramen, fängt auf mitfühlende, aber niemals mitleidende Weise den Notstand an unterschiedlichen Fronten ein. Sei es an Deck eines Kriegsschiffes, am Ort des Unglücks oder in den vier Wänden einer Wohnung in irgendeinem Plattenbau am Meer. Und Vinterberg schenkt uns nichts – naja, fast nichts. Der Moment des Todes bleibt uns erspart, die nackte Angst allerdings nicht. Kursk, das filmische Zeugnis politischer Eitelkeit, ist Wolfgang Petersens Das Boot für das neue Jahrtausend. Ein zutiefst tragischer Film, dessen Fakten man kaum glauben kann. So leicht hätte es nämlich anders kommen können.

Kursk – Niemand hat eine Ewigkeit

The Rhythm Section

WAS DICH NICHT UMBRINGT…

5/10

 

therhythmsection© 2020 Leonine

 

LAND: USA 2020

REGIE: REED MORANO

CAST: BLAKE LIVELY, JUDE LAW, STERLING K. BROWN, MAX CASELLA, RICHARD BRAKE U. A. 

 

Wieder ein Film, der sich der Virus-Diktatur hat beugen müssen: The Rhythm Section mit Blake Lively und Jude Law. Hätte in die Kinos kommen sollen, wurde aber auswaggoniert und fürs Streaming zur Verfügung gestellt. Die Kino-Nerds danken – wie sonst sollen sie up-to-date bleiben, wenn später mal alles Verschobene auf einmal kommen soll und die Lichtspiel-Agenda an Terminen nur so überquillt. Der Film kam natürlich auf die Liste. Und war dann, obwohl Livelys neuer Look zumindest im Trailer stylishes Spannungskino im Stile von Atomic Blonde versprochen hat, doch eher ein verhaltenes Vergnügen. Diese Ernüchterung bezieht sich auf ein gravierendes Plausibilitätsproblem, das eben nicht nur The Rhythm Section hat, sondern auch einige andere themenverwandte Filme im Vorfeld schon hatten.

Eine sagen wir mal normale Bürgerin oder normaler Bürger wird mit einem traumatischen Schicksal konfrontiert: die plötzliche Auslöschung eines geliebten Menschen – oder gleich mehrerer, vielleicht sogar der gesamten Kernfamilie, mit der man unter einem Dach gelebt hat. Das Verschulden eines solchen Unglücks kann unterschiedlich sein, allerdings wird von US-Drehbuchautoren sehr gerne das Motiv des Terroranschlags bemüht, und wenn dieses Motiv schon zu sehr abgegriffen ist: das stinknormale, aber nicht weniger verheerende Verbrechen. Ganz klassisch: Charles Bronson oder später Bruce Willis, die in Death Wish zum reuelosen Racheengel werden. Auch ein Film wie American Assassin lässt einen völlig unauffälligen Studiosus innerhalb kürzester Zeit zum Profi-Agenten mutieren, der im Action-Hero-Modus mit dem fiesesten Dschihadisten konkurrieren kann. Und jetzt Blake Lively. Durch einen Flugzeuganschlag verliert die ebenfalls junge, blitzgescheite und verwöhnte Studentin ihre gesamte Familie. Das ist natürlich eine furchtbare Tragödie. Normalerweise holt man sich da psychologische Hilfe oder wird vom Rest der Familie (den es meist geben muss) aufgefangen. Gibt es den nicht, sind es Freunde, die Blake Livelys Filmcharakter sicherlich gehabt haben muss. Aber nein: in The Rhythm Section gibt es gar nichts, weder Familie noch Freunde, und Lively rutscht ganz tief runter in den Drogenkeller, um sich mit Prostitution das Geld für den nächsten Schuss zu verdienen. Um da wieder rauszukommen braucht es Selbstdisziplin. Was alleine schon Stoff für ein Drama wäre. Aber daraus, so finde ich, kann kein Rachethriller werden, weil es mir einfach nicht plausibel erscheint, dass ein entsprechend wohlerzogener Mensch plötzlich zur gestählten Agentin mutiert, die auf der Vendetta-Schiene fährt. Dieses Schema ist viel zu platt. Das Ganze sieht vielleicht maximal so aus wie im Traumadrama Aftermath mit – aufgepasst – Arnold Schwarzenegger, der ebenfalls Frau und Kind bei einem Flugzeugabsturz verloren hat und auf ganz andere Weise und in all seinem (völlig nachvollziehbaren und solide vorgetragenen) Schmerz den Verantwortlichen für diese Katastrophe zur Rechenschaft ziehen will. Das ist verhaltenspsychologisch tatsächlich plausibel. The Rhythm Section ist es nicht, im Gegensatz wiederum zu Atomic Blonde, deren Figur eine entsprechende Vergangenheit mit sich bringt. Zumindest wird Lively nicht zur  Killerin, denn dann hätten wir eine zweite Nikita, wobei ihr Look sowieso schon an Luc Bessons Kampfamazone erinnert. Sagen wir mal es ist eine Hommage 😉

So viel zu Filmen wie diesem. Auch wenn Blake Lively sich im Gegensatz zum eintönigen Jude Law wirklich ins Zeug legt und herausholt, was man aus so einer Rolle nur herausholen kann: Depression, Drogensucht, Trauer, ein verquollenes Gesicht, tränende Augen und unendliches Selbstmitleid. Das passt inklusive perfektem Makeup alles gut zusammen, und zwar so gut, dass die talentierte Schauspielerin auf alle Fälle einen besseren Film verdient hätte und nicht die Verfilmung eines gefühlt x-beliebigen Belletristik-Thrillers, dessen inhaltliches Konzept, oft verbraten, nur noch wenige Überraschungen birgt. Wenn schon das Thema bürgerlicher Rache aus dem Dunstkreis der genügsamen Mittelklasse, dann Aftermath. Für einen Thriller wie diesen ist The Rhythm Section nämlich viel zu sehr vom Reißbrett.

The Rhythm Section

Ophelia

EIN JEDI AM KÖNIGSHOF

5/10

 

OPHELIA_D1_051517_DSC9651.NEF© 2018 Koch Films

 

LAND: USA, GROSSBRITANNIEN 2018

REGIE: CLAIRE MCCARTHY

CAST: DAISY RIDLEY, GEORGE MACKAY, NAOMI WATTS, CLIVE WOWEN, TOM FELTON, DAISY HEAD U. A. 

 

Mit dem letzten Drittel der Star Wars-Saga ist sie als Rey Namenlos in die Filmgeschichte eingegangen: Daisy Ridley. Ja tatsächlich, da hatte sie das letzte Wort, in einer starken Heldinnenrolle, die zumindest mich vollends überzeugt hat. Da Star Wars jetzt vorbei ist, und sie auch womöglich niemals wieder in die Rolle eines Jedi schlüpfen wird, erscheint nun eine bereits zwei Jahre alte, aber immerhin eine ganz andere Produktion, um die Schauspielerin auch gleich rollentechnisch anders zu positionieren, sonst wiederfährt ihr Gott behüte das gleiche wie Mark Hamill, der nach dem Hype der Originaltrilogie im Filmbiz nur noch schwer Fuß fassen konnte. Ihre neue Alternativrolle ist aber auch nichts, was man nebenbei spielt. Es hat mit Shakespeare zu tun, und noch dazu gleich mit einem seiner berühmtesten und massentauglichsten Stücke neben Romeo und JuliaHamlet. Aber keine Sorge, die Interpretation der Geschichte des verhinderten Dänenprinzen ist kein weiterer wortgetreuer Aufguss in vielleicht modernem Gewand. Diese Geschichte hier wird ganz anders erzählt. Und da sind wir wieder bei Daisy Ridley, die sich eine nicht weniger schillernde Rolle als ihre Rey hernehmen muss: die der Ophelia. Was mir dabei immer gleich einfällt, ist das berühmt Zitat: „Geh in ein Kloster, Ophelia!“ Ja klar, letzten Endes wird sie das tun, aber bis dahin passiert so einiges Tragisches, diesmal aber aus Sicht des weiblichen Sidekicks. So etwas Ähnliches gab es auch schon, nur nicht aus der Sicht einer Frau, sondern aus der Sicht der beiden Haudegen Rosenkranz und Güldenstern, nach einem Theaterstück von Tom Stoppard (siehe Shakespeare in Love). Doch diese beiden bekommt man in dieser Verfilmung kaum zu Gesicht. Denn die Kamera, die ist voll und ganz auf Daisy Ridley gerichtet.

Aus gutem Grund, denn sie macht eine außerordentlich gute Figur. Mit ihrer roten Mähne, leicht dauergewellt (erinnert ein bisschen an Cate Blanchetts Version der Elizabeth I.) und meist in grünem Kleid. Weiters ein heller Blick, nonkonform und mit Sinn für Humor. Klar, dass Hamlet voll drauf abfährt. Den spielt übrigens der Soldat aus Sam Mendes Kriegsfilm 1917 – George MacKay. Doch den Irrsinn und den Rachedurst dieses Bühnenhelden, so wie wir ihn kennen, den hat er nicht. Wäre aber nicht so tragisch, all diese Intrigen mitsamt dem Niedergang eines Königshauses ist schon tragisch genug, und außerdem handelt Claire McCarthys Kostümschinken ja vermehrt von Ophelia. Ein bisschen duckmäuserisch ist diese angesichts der dominanten Blaublüter innerhalb der herrschaftlichen Mauern schon, doch mit Sicherheit ist das dem Steckbrief der Rolle geschuldet. Auf Abruf und nur nicht auffallen, das kann Daisy Ridley auch gut, doch spätestens aber, wenn der an die Macht geputschte Clive Owen mit Javier Bardem-Gedächtnisfrisur handgreiflich wird, geht der Star Wars-Star ein bisschen aus sich heraus, obwohl –  der gespielte Wahnsinn will auch ihr nicht so recht gelingen. Was zum Rest des Films passt. Denn Ophelia, nach der Vorlage eines Liebesromans von Lisa Klein, bemüht sich sichtlich, nicht ganz so gestelzt seine Anweisungen aus dem Regie-Off durchzuführen. McCarthys Film ist ein Spielen nach Vorschrift, ein bisschen wie ein Sommertheater auf irgendeiner Ruine, wo nebenbei noch Gefrorenes geschleckt oder Spritzer gerunken werden. Nachher flaniert man gemütlich durch den lauen Abend, ohne Eile. Oder trifft die Stars noch auf ein Autogrammstündchen. Gegen diese volkstümliche Attitüde sprechen natürlich all die üppigen Requisiten, und auch diese besonders illustre Besetzungsliste, in die sich auch noch Naomi Watts reinschummelt, und zwar in einer Doppelrolle. Blass bleiben sie fast alle, blass und leicht verloren, und kein bisschen gewillt zu improvisieren.

So lässt sich irgendwie verstehen, dass Ophelia fürs Heimkino allemal reicht. Da sind ganze Regentschaften zwischen diesem und Filmen wie Shekhar Kapurs Elizabeth. Für Fans von Daisy Ridley allerdings ist Ophelia fast ein Muss. Ob die ganze klassische Tragödie aus der Sicht von Hamlets Flamme wirklich so einen erfrischenden Perspektivwechsel darstellt, bleibt aber fraglich.

Ophelia

Lady Macbeth

HERRIN DES HAUSES

6/10

 

ladymacbeth© 2017 Koch Media 

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 2016

REGIE: WILLIAM OLDROYD

CAST: FLORENCE PUGH, COSMO JARVIS, PAUL HILTON, NAOMIE ACKIE, CHRISTOPHER FAIRBANK U. A. 

 

Der intrigante Wahnsinn hat einen Namen, und zwar einen sehr klassisch-literarischen: nämlich Lady Macbeth. Kenner des Shakespeare-Königsdramas wissen, dass diese Dame keine unwesentliche Rolle dabei spielt, wenn Heerführer Macbeth an die Macht kommt. Der wiederum war fast schon Marionette in ihren Fingern, und beide gehen sogar so weit, neben dem altbekannten Königsmord auch noch einen Kindsmord zu begehen. Als Folge dieser grauenhaften Handlungen des tyrannischen Ehepaares verfallen beide natürlich dem Wahnsinn, ein klarer Fall von logischer Konsequenz für den englischen Dichter, denn so viel Bosheit darf nicht ungesühnt bleiben. Kein erbauliches Stück also, diese Tragödie, in der entweder alle den Verstand verlieren oder sterben. Nikolai Leskow hat diesen Stoff adaptiert, in seiner Novelle Lady Macbeth von Mzensk. Er hat das Ganze mal etliche hundert Jahre in die etwas hellere Zukunft geholt, und zwar ins 19. Jahrhundert. Tyrannen wettern auch da, zum Beispiel an diesem herrschaftlichen Landsitz eines britischen Patriarchen, dessen Sohn im Zuge eines Landkaufs die Tochter des Verkäufers ehelichen hat müssen, für die er so gut wie nichts empfindet, die ihm mehr Klotz am Bein als sonst was ist. Und die dieser aber auch dementsprechend unschön behandelt. Die Erfüllung ehelicher Pflichten gibt’s sowieso nicht, und vor die Tür darf die junge Frau auch nicht gehen. Schlimmer noch ist der Schwiegervater – ein Scheusal unter dem Herrn, erniedrigend, abstoßend und bis in jede Faser seines Altersgrants alles Nonkonforme ablehnend. Da lobe ich mir den Papa von Jane Austens Emma – dieser hier ist die krasse Antithese. Catherine ist also in einem goldenen Käfig gefangen, wenn man so will. hat keine Rechte, aber auch keine Pflichten. Ist nichts, nur verheiratet. Langweilt sich tagaus, tagein – bis sie auf den Stallburschen Sebastian trifft, mit dem sie natürlich eine Liaison beginnt.

Sebastian, gespielt von Singer und Songwriter Cosmo Jarvis, steht natürlich als Heerführer Macbeth zwischen den Pferden, den koketten Dienstmädchen und der Herrin des Hauses. Und entscheidet sich nach einem Nacht- und Nebel-Quickie, mit letzterer gemeinsame Sache zu machen. Lady Macbeth ist die seit den Oscars 2020 in aller Munde befindliche Florence Pugh, die eben erst für ihre Rolle in Greta Gerwigs Little Women nominiert wurde und in Ari Asters Midsommar um ihr Leben plärren muss. Pugh hätte ja jetzt sogar mit Black Widow noch größer rauskommen sollen, doch der Blockbuster wurde ja bekanntlich verschoben. Immerhin gibt’s noch Richard Oldroyds Filmadaption von Leskows Theaterstück, und da zeigt die 24jährige, was sie prinzipiell sonst noch drauf hat – die Masche einer teils raschsüchtigen, teils habgierigen, teils emanzipierten Intrigantin. Sie tut das, ohne groß mit der Wimper zu zucken. Man sieht aber, dass sie stets hinter ihrem starren Blick und ihrer guten Miene böse Pläne schmiedet, die den anderen nicht gut bekommen. Es ist kein Geheimnis, was folgen wird. Und es folgt nichts Gutes, in diesem kalten, seelenlosen Gemäuer. Die Seelen aber, die hier hausen, haben selbige schon längst jemand anderem verkauft. Karge vier Wände, hie und da elegante Möbel, und alles, das Leblose wie das Lebendige, umgibt eine Aura der Kälte, sei sie nun berechnend oder tief verwurzelt. Diesen Film ohne zusätzliches wärmendes Textil zu sehen, ist fast schon unmöglich.

Oldroyd inszeniert akkurate, klare Bilder, verzichtet auf Schnörkel, und lässt auch sein Ensemble unter erschreckender Gefühlsarmut leiden, die selbst beim Unvorstellbaren Probleme hat, sich zu artikulieren. Diese In Cold Blood-Adaption eines klassischen Stoffes ist in strenge Formen gegossen, bleibt abweisend und ohne Reue. Und jene, die so etwas ähnliches vielleicht ansatzweise empfinden, haben in der Welt von Lady Macbeth nichts verloren.

Lady Macbeth

Ich, Daniel Blake

MIT HIOB DURCHS SOZIALNETZ

7/10

 

ichdanielblake© 2016 Prokino

 

LAND: GROSSBRITANNIEN, FRANKREICH, BELGIEN 2016

REGIE: KEN LOACH

CAST: DAVE JOHNS, HAYLEY SQUIRES, MICKY MCGREGOR, MICK LAFFEY, SHARON PERCY, BRIANA SHANN U. A. 

 

Dank Corona kommen jetzt wahrscheinlich wirklich alle zum Handkuss. Nur nicht das Virus. Das Geld wird knapp, Kredite können nur mehr schwerlich getilgt werden, der Handel ist am Sand, Insolvenz scheint das neue Unwort zu sein, weil Corona als solches wirklich keiner mehr hören kann. Allerdings muss nicht zwingend ein Virus die menschliche Gesellschaft, so wie wir sie kennen, lahmlegen. Es können auch schlicht und ergreifend Behörden sein, die Risikogruppen, zu denen Daniel Blake zählt, bis zur Weißglut treiben.

Blake, das ist ein älterer Herr mit Herzbeschwerden. Ein Bastler und Tüftler, ein ungemein geschickter Mensch, der aber das Problem hat, einen Infarkt erlitten und so seinen Job am örtlichen Sägewerk verloren zu haben. Arbeitstauglich ist er nicht mehr, zumindest für eine ziemlich lange Zeit nicht, das sagt zumindest seine Ärztin. Das Arbeitsamt, das sagt etwas anderes, keiner weiß warum. „Einen Grund, nicht mehr arbeiten zu gehen, den gibt es für Sie nicht“, sagt die Behörde. Sozialhilfe abgelehnt. Wie jetzt? Der alte Mann muss sich nun überall proforma bewerben, nur um die Arbeitslose zu kassieren? Und tut er das nicht, bleibt er mittellos? Soziales Netz wo bist du? Dieses Netz hat gewaltige Lücken, und in eine solche ist der gutherzige, eifrige Witwer blindlings durchgefallen. Ken Loach, Kenner sozialer Abgründe, hat aus diesem Kampf gegen blinde Paragraphenreiterei einen Film gemacht. Und ist für Ich, Daniel Blake prompt mit der Goldenen Palme ausgezeichnet worden.

Der Brite Loach ist kein Künstler, der sich in phantastischen Allegorien verliert oder visuelle Leckerbissen zaubert. Loach ist ein Reduktionist. Mit Breitwandkino weiß er nicht ganz so viel anzufangen, oder besser gesagt er wüsste und könnte es sicher, lenkt seinen Fokus aber lieber dorthin, wo die nüchterne Realität jedwede Fiktion längst eingeholt hat und soziale Missstände kafkaeske Albträume erzeugen, ohne erfunden zu sein. Woran das liegt? Loach ist auch abseits des Films sozial engagiert, ein bisschen so wie hierzulande (in Österreich) Peter Resetarits, der sich mit seinem allwöchentlichen Help-Format Am Schauplatz den verzweifelten Anliegen von Leuten widmet, die im Einfordern ihres Rechts von allen möglichen Instanzen bereits durchgewunken wurden, ohne Aussicht auf ein Einsehen von denen da oben, wie es so schön heißt. Nur: die da oben sind eigentlich wir selbst, und wir hätten verfassungstechnisch das Recht, zu bekommen, was uns zusteht. So wie Daniel Blake, der bald nicht mehr allein ist, weil die Kids einer alleinerziehenden Mama, die den Neuanfang wagt, auch gesittet werden müssen. Das Herz am rechten Fleck hilft aber auch nicht aus der Misere. Und so beobachtet der Film, der den Namen des einsamen Wetterers trägt, eine sich langsam drehende Schraube abwärts. Doch seltsamerweise: Ich, Daniel Blake ist kein Betroffenheitskino in üblichem Sinn. Kein pathetisches Trauerspiel, was leicht passieren hätte können. Loachs Film ist pragmatisch, sowohl in seinen Bildern als auch in der Dramaturgie der Schlüsselszenen. Es reicht vollauf, dieses groteske Chaos zu verstehen, um nachzuempfinden, wie ernüchternd es sein kann, am Ende der sozialen Nahrungskette zu stehen. Mit kämpferischem, wütendem Zynismus reichert er seine strauchelnden Figuren aber dennoch an, die all den Wahnsinn fast bewältigt hätten. Aber eben nur fast. Dieses Wörtchen ist letztendlich ausschlaggebend für ein Durchringen oder Scheitern. Und dieses Scheitern in diesem preisgekrönten Streifen bewahrt sich immer noch etwas, das, egal wie sehr die letzte Instanz auch versagt, kein staatlicher Knüppel herausprügeln kann: Würde. Und Ken Loach, der weiß dies zu schätzen und entdeckt eine unbändige Kraft darin.

Ich, Daniel Blake

Aus dem Nichts

DER MENSCH ALS DES MENSCHEN WOLF

7/10

 

ausdemnichts© 2017 Warner Bros. GmbH

 

LAND: DEUTSCHLAND 2017

REGIE: FATIH AKIN

CAST: DIANE KRUGER, NUMAN ACAR, SIIR ELOGLU, JESSICA MCINTYRE, ULRICH TUKUR, JOHANNES KRISCH U. A. 

 

Ich will mir das einfach nicht vorstellen müssen: eines Tages nach Hause zu kommen und die Familie ist nicht mehr da. In Fatih Akins Terrordrama passiert genau das. Erleben muss das Undenkbare Mutter Katja, intensiv dargeboten von Diane Kruger. Als sie nämlich ihren Sohn vom Büro seines Vaters abholen will, ist das Büro auch nicht mehr da. Restlos zerstört durch eine Nagelbombe, die vor dem Laden deponiert war. Keiner hat’s bemerkt, niemand hat so etwas kommen sehen, schon gar nicht in einem Viertel Berlins, in welchem ohnehin nur fast ausschließlich Immigranten wohnen und arbeiten. Oder vielleicht genau deswegen. Katja kann das alles natürlich nicht fassen. Kein Boden mehr unter den Füßen. Eine Katastrophe, in die ich mich als Vater garantiert nicht schrankenlos hineindenken möchte – und auch nicht werde, selbst wenn ich vorhabe, dem Geschehen bis zum Ende zu folgen. Hinwegkommen lässt sich über einen solchen Verlust die Zeit eines ganzen Lebens nicht. Ob es sich überhaupt lohnt, weiterzuleben, ist eine andere Frage, die von vielen anderen Faktoren abhängt. Zum Beispiel davon, ob die Tat, begangen aus dem rechtsextremen Milieu, gesühnt werden kann – und die Schuldigen vor Gericht gestellt werden. Das passiert auch, tatsächlich. Und Diane Kruger alias Katja ist sich sicher, dass das junge Nazi-Paar nicht davonkommen wird. Aber wie sicher kann man sein, bei einem Justizsystem, das auf die Eloquenz und taktische Ausgeschlafenheit der Verteidiger und Ankläger setzt, auch wenn die Sache noch so auf der Hand liegt.

Fatih Akin, selbst Staatsbürger türkischer Herkunft, hat sich anhand des unübersehbar schwelenden Rechtsaktivismus in Deutschland so seine Gedanken gemacht. Allerdings nicht im Sinne eines gesellschaftspolitischen Reports. Viel kraftvoller, intensiver und klarer erkennbar ließe sich anhand eines Einzelschicksals Stellung beziehen. Anhand eines Opfers unter den Lebenden, das das eigene Fleisch und Blut zu Grabe tragen muss. Das ist fürchterlich unbequem, schmerzhaft, und eigentlich nichts, was man sich als Zuseher länger antun will. Warum Aus dem Nichts aber dennoch auszuhalten ist, liegt daran, dass Fatih Akin sich nicht damit begnügt, den enormen Verlust bis zur letzten Filmminute anzuweinen. Irgendwann, und das zur rechten Zeit, ist damit Schluss. Dann geht es nicht mehr nur zwingend um die Toten, dann geht es um die, die zurück bleiben – und dem latenten Hass weiter ausgesetzt sind. Die ihre Genugtuung nicht bekommen, die den Staat in diesem Punkt schwächeln sehen und selbst zu radikalen Mitteln greifen.

So ein Szenario kennen wir aus dem Selbstjustiz-Actionkino zu Genüge. Aber das wäre zu platt für einen Film wie diesen. Aus dem Nichts wechselt keineswegs ins Actionfach. Will auch kein Thriller sein. Fokussiert sich rechtzeitig sehr aufmerksam auf Diane Kruger und ihre Figur, die sich als gebrochenes menschliches Wesen klar werden muss, ob es eine Zukunft geben kann und wenn ja, welche. Akin beobachtet genau, lässt sich Zeit. Tritt in der zweiten Hälfte des Films deutlich vom Gaspedal runter, wird weniger schwermütig, dafür aber realistisch – und sogar etwas zynisch. Vom Trauer-, Justiz- und Bewältigungsdrama wird ein im wahrsten Sinne des Wortes bombenfestes Statement über die Sinnlosigkeit von Terror und den destruktiven Mechanismen, die er auslöst, und das innerhalb des kleinsten sozialen Gefüges. Dabei aber distanziert sich der Film immer weiter von seiner Leidensfigur, verklärt nicht, was sie tun muss und verurteilt auch nicht. Bewahrt eine geradezu objektive, fast schon nüchterne Sicht auf das große Ganze. Täter und Opfer sind bald auf einer Ebene, und wir erleben aus der Distanz, wie das Perpetuum Mobile der wechselseitigen Gewalt beginnt – und nicht mehr aufzuhalten sein wird. Dieses Gleichnis lässt sich auf nationale Größe aufblasen, und es ist immer noch dieselbe Dynamik – ob im Irak, in Israel oder eben in Deutschland, völlig egal, wer hier die Zündschnur entfacht. Somit ist aus dem Nichts kein politisches, sondern viel eher ein analytisches Werk zu einer uralten dunklen Seite des Menschseins geworden.

Aus dem Nichts

Under the Tree

IM ZWEIFEL FÜR DIE NACHBARSCHAFT

6,5/10

 

underthetree© 2018 Bac Films

 

LAND: ISLAND 2017

REGIE: HAFSTEINN GUNNAR SIGURÐSSON

CAST: EDDA BJÖRGVINSDÓTTIR, STEINÞÓR HRÓAR STEINDÓRSSON, ÞORSTEINN BACHMANN, SIGURÐUR SIGURJÓNSSON U. A.

 

Mit den lieben Nachbarn, da suchen wir alle ein gutes Auskommen. Beim Urlaub des jeweils anderen Blumen gießen oder Katzen füttern, schnell einmal die Post ausheben oder im Falle eines Gartens auch hie und da mal den Rasen mähen. Ein freundlicher Gruß, eine winkende Hand. Früher gabs die Bassena, um ein paar Worte zu wechseln. Die Hecke ist nicht erst seit Hör mal, wer da hämmert ein idealer Ort, um eine Art bürgerlichen Gossip zu zelebrieren. Viel mehr muss es auch nicht sein. Der Rest ist privat, in Ausnahmefällen so richtig freundschaftlich. Es gibt aber auch die andere Extreme: den Hass auf die Sippschaft jenseits der vier Wände, aus welchen kreinkarierten Gründen auch immer. Das kann dann schon in ein blutiges Gefecht ausarten, weil der urbane Otto Normalverbraucher einfach sehr schwer einen Schritt zurück machen kann. Der Klügere gibt nach? Ist nicht. Zumindest nicht in vorliegendem Zankapfel von Film, in klirrend gefühlskalter Frische aus dem hohen Norden, aus Island in diesem Fall, und Filmfreunden ist sofort klar, dass isländisches Kino immer sehr gern mit seinem Hang zum Bizarren in den Kloaken lakonischer Dickköpfigkeit plantscht, um gesellschaftliche Defizite relativ deutlich zu entrümpeln.

Diese Dickköpfigkeit, die sieht man auch glasklar vor sich, wie einen Gartenzwerg mit herabgelassener Hose auf den Eckpylonen des Gartentürchens. Das könnte ja ganz komisch sein, nur bei Hafsteinn Gunnar Sigurðssons galligem Parteienkampf gibts prinzipiell mal überhaupt nichts zu lachen. Weder bei den einen noch bei den anderen ist es mit der leichten Schulter nicht weit her, das ist Spießbürgertum allererster Güte. Dabei ist der Fehdehandschuh der ganzen Tragödie im Grunde ein Baum, der eigentlich nur gestutzt zu werden braucht, weil zu einer bestimmten Tageszeit die nachmittägliche oder vormittägliche Sonne nicht auf das nackte Bäuchlein der neuen Freundin des Nachbarn scheint, wenn sie sich sonnen möchte. „Ja ja“, heisst es dann immer von jenseits der Hecke, „machen wir schon“. Getan wird aber nichts, was natürlich die Geduld strapaziert. Und irgendwann reichlich Unmut freien Lauf lässt, zumindest jenen der psychisch angeknacksten Inga, die ihren verschollenen Erstgeborenen einfach nicht für tot erklären will und allen möglichen Leuten, denen es im Leben besser geht, mit Missgunst begegnet. Aus Missgunst wird unverhohlener Neid. Aus Neid Rachsucht. Aus Rachsucht offener Kampf. Die Spirale der Gewalt, die wird in Under the Tree je nach Eskalationstsufe neu angestoßen, und Einsicht gibt es keine.

Sigurðssons kühle, in entsättigter Optik und fahlem Licht erstellte Beobachtung hat nicht im Sinn, seine charaktersschwachen Querulanten in Schutz zu nehmen oder sich über sie lustig zu machen. Es ist fast schon wie bei Michael Haneke. Die Bösartigkeit des Kleinbürgers sind die Früchte einer Kränkung, eines lange unterdrückten Vetos für Gerechtigkeit. Was bleibt, ist eine nihilistische Tragödie, die in konsequenter Weise und aufgrund dummer Zufälle zu einem Ende hinsteuert, das wir nicht mal unserem schlimmsten Nachbarn wünschen würden. Wer Zeuge des Dramas sein und daraus vielleicht ein bisschen lernen möchte, nämlich im Umgang mit anderen, der kann Under the Tree gerne als Beispiel hernehmen, wie das Miteinander ganz sicher nicht funktionieren kann.

Under the Tree