Sorry, Baby (2025)

STÖRUNGEN IM FLOW DES LEBENS

7/10


© 2025 Viennale

LAND / JAHR: USA, SPANIEN, FRANKREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: EVA VICTOR

KAMERA: MIA CIOFFI HENRY

CAST: EVA VICTOR, NAOMI ACKIE, LOUIS CANCELMI, KELLY MCCORMACK, LUCAS HEDGES, JOHN CARROLL LYNCH U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Kürzlich erst hatte ich die Gelegenheit, bereits vorab einen Film aus dem Programm der eben gestarteten Viennale zu sichten, initiiert von nonstop, der äußerst erfolgreichen Kinoabo-Innovation hier in Österreich, die an uns Filmfreaks immer wieder mal genüssliche cineastische Extra-Zuckerl verteilen, von Filmpremieren über Talks bis hin zu Überraschungsabenden, an denen man natürlich nicht weiß, wie die nächsten zwei Filmstunden wohl werden. In diesem Fall – und jetzt ist die Katze ja sowieso längst aus dem Sack – bescherte uns nonstop für den Ausklangs einer Arbeitswoche eine auf den ersten Blick nicht unbedingt leichte Kost, würde man die Synopsis von Eva Victors Filmprojekt zu lesen bekommen. Denn Sorry, Baby beschäftigt sich mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs.

Kein Film über Babys

Jetzt ist es gesagt, jetzt könnten manche natürlich denken: Nein, das muss ich mir nicht unbedingt antun, da gibt es in der Realität genug davon, das ist nichts, wofür ich mich auch noch ins Kino setzen muss, um mich zu unterhalten. Doch bevor man voreilig seine Schlüsse zieht, wäre es höchst ratsam, sich auf dieses besondere kleine Werk einzulassen. Schließlich hat Victor zu einem gewichtigen Thema mit ihrem Regiedebüt einen alles andere als knieschweren Pfad erschlossen, dessen Beschaffenheit erst mitten im Film so richtig klar wird. Das liegt auch teilweise daran, dass Eva Victor, die man vielleicht aus der Serie Billions mit Paul Giamatti kennt, die einem aber, auch wenn man sie nicht kennt, seltsam bekannt vorkommt, ihr im besten Sinne genügsames Werk achronologisch zusammensetzt und in einzelne Kapitel unterteilt. Anfangs lässt sich ein gesprächsfreudiger Freundinnenfilm vermuten – Victors Charakter der Agnes begrüßt an einem Winterabend Naomie Ackie als Lydia, die, wie sich vermuten lässt, hier, in diesem Haus in der Provinz von New England, früher mal gewohnt haben könnte. Beide haben sich viel zu erzählen, die Stimmung ist gut, viel tut sich nicht, doch das muss es auch nicht, es ist ein Beisammensein, von dem man nicht weiß, wohin die Episode unter dem Titel „The Year with the Baby“ letztlich führen soll. Dann aber springt Victor in die Vergangenheit – Agnes, Uni-Studentin im letzten Semester, wird von ihrem Literaturprofessor bewundert, unterstützt und im Zuge eines Hausbesuchs letztlich sexuell genötigt. Das Verbrechen zeigt Sorry, Baby zum Glück, aber nicht weniger eindringlich, nur aus der Distanz, wir bleiben vor dem Haus, sehen Licht in der Wohnung, sehen, wie der Tag zu Ende geht, und irgendwann, in der Dunkelheit des Abends, stürmt Agnes aus des Professors Wohnsitz, völlig verstört, desorientiert, bis sie in ihr Auto steigt und losfährt.

Was wirklich erzählt werden will

Ab da wissen wir, worum Sorry, Baby schließlich wirklich handelt: Von den ganz unerwartet hereinbrechenden schlechten Dingen, die gleich einer Naturgewalt ganz plötzlich über ein gezielt ausgerichtetes Leben hereinbrechen und von da an bis auf gefühlt ewig völlig ungebeten den Flow erschwerend beeinflussen können. Wie Agnes nun mit dieser schlimmen Sache, wie Victor sie nennt, folglich umgeht, ist so unerwartet leichtfüßig, ironisch und humorvoll erzählt, dass man vermuten könnte, sie nehme die Sache nicht ernst. Doch das tut sie mehr, als hätte sie das Narrativ eines bleischweren Betroffenheitskinos gewählt, aufgeladen mit unerträglichen Emotionen und reißerischen Bildern. Sorry, Baby ist Reduktion auf versiertem, klugen Niveau, begegnet dem Schrecken mit ihrer unnachahmlich lakonischen Performance, und man sieht, in Eva Victor steckt eine Komödiantin, die imstande ist, jedes noch so heikle Thema eloquent und alles andere als vor den Härten des Lebens resignierend, anpacken zu können. Zwischendurch gelingt es dem Film sogar, das Bedrohliche von Agnes Ängsten im Stile einer knarrenden, windumtosten Mystery dazwischenzuschieben, doch stets wohldosiert, aufgeweckt, schlagfertig.

Sorry, Baby ist schließlich ein gelungener Einstand für das diesjährige Festival, ein geschicktes psychologisches Portrait, das auf unorthodoxe Weise das Zugestoßene niemals kleinredet und das Leben, wie auch immer, auf schelmische Weise akzeptiert.

Sorry, Baby (2025)

Touch Me (2025)

EIN HIP-HOP-JESUS GEGEN DEN KLIMAWANDEL

7/10


© 2025 WTFilms


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE / DREHBUCH: ADDISON HEIMANN

KAMERA: DUSTIN SUPENCHECK

CAST: OLIVIA TAYLOR DUDLEY, LOU TAYLOR PUCCI, JORDAN GAVARIS, MARLENE FORTE U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


War Jesus vielleicht ein Außerirdischer? So krude Gedanken wie diese gibt es womöglich tatsächlich, und in Anbetracht der Leichtgläubigkeit der menschlichen Spezies bei gar nicht so wenigen Individuen. Wie sonst könnte man sich diese wundersamen Heilsmethoden erklären, die der Sohn eines Zimmermanns alleine schon durchs Handauflegen erfolgreich praktizieren konnte. Und manchmal, war da nicht mal das vonnöten? Gehe hin in Frieden, erwache von den Toten, bewege deine Beine – du bist nicht mehr gelähmt. Eine Macht hatte der, das lässt mitunter manch kritische Stimme nicht verstummen, die den Bergprediger als ein Wesen verdächtigt, das nicht von dieser Welt sein muss. Im Grunde steht auch genau das als direkte Rede im Testament. Also warum nicht?

Das Heil in den Tentakeln

Und warum nicht eine Geschichte entwerfen, in der die fleischgewordene christlichsoziale Heilsverkündung wie Jared Leto aussieht, der wiederum manchmal so aussieht wie eines der kitschigen Heiligenbilder, die in bäuerlichen Schlafzimmern hängen, direkt über dem Kopfende, und wo das flammende Herz expositioniert vor sich hin wabert. Dieser Mann, nicht Jared Leto, ist kein menschliches Wesen, sondern ein Außerirdischer, der in Wahrheit ganz anders aussieht. Ein bisschen was lässt sich anfangs schon vermuten, wenn dieses Individuum seine Tentakel ausfährt, um irdischen Glückbedürftigen einen Gemütszustand zu bescheren, den man normalerweise erst dann erlangt, wenn man wie Siddhartha jahrelang meditiert hat. Den mentalen Genuss einer sorgenfreien Weltsicht, ohne der Schwere vergangener Traumata, die man wie einen nicht abnehmbaren Fallschirm nach der Landung auf hartem Grund hinter sich herzieht, wollen schließlich alle – und da kommen Joey und Craig ins Spiel – zwei Freunde, die bisher nicht ganz so sehr auf die Sonnenseite des Lebens gefallen sind. Mit dem feschen Brian haben beide wohl das große Los gezogen, so scheint es. Denn Sex mit einem Alien, was Besseres gibt es nicht. Da mögen dessen Ambitionen, rotlaubige Bäume gegen den Klimawandel zu pflanzen, bereitwillig akzeptiert werden, wobei diesen Umstand zu hinterfragen wohl dringender nötig gewesen wäre als auf den nächsten Austausch von Körperflüssigkeiten zu warten.

Wie viel Good Will steckt in einem Alien?

Filme, in denen Aliens über uns Menschen das uneigennützige Heil bringen, und zwar vorwiegend bei älteren Semestern, das gabs in den Achtzigern mit dem erquickend sentimentalen Klassiker Cocoon. Das Bad im Pool wurde, angereichert durch die Energien eines extraterrestrischen Eis, für vulnerable Pensionisten zum Jungbrunnen. Doch anders als Ron Howards humanistischer Diskurs übers Altwerden klingt das Wunschkonzert aus dem All in Touch Me nach schiefen Tönen – die sich der Mensch gerne schönhört, weil er will, dass alles gut wird.

Wenn Brian – dieser Jared Leto-Jesus-Verschnitt – mit textilfreiem Oberkörper seinen gymnastischen Morgentanz hinlegt, lukriert das eine Menge Lacher aus dem Publikum. Denn diese Performance wirkt dann so, als wäre man in einem Aerobic-Video der Achtziger gelandet, unfreiwillig komisch und ohne jemals die Chance, ernstgenommen zu werden. Das wiederum passt perfekt zu einem der ungewöhnlichsten und auch wagemutigsten Features im Rahmen des Slash Filmfestivals – denn Touch Me ist eine clevere Satire auf so manches, was den nach Glückseligkeit und Eintracht strebenden Menschen nicht nur auszeichnet. Addison Heimann, der seinen Film selbst präsentierte und auch für Q&As wortreich zur Verfügung stand, spiegelt die Umtriebigkeit und Craziness seiner Arbeit wider – für alle, die seinen Film nicht mögen würden, sendet er vorab schon mal ein sympathisches „Fuck you“. So überdreht und ausgetickt Heimann wirkt, so überdreht und ausgetickt ist Touch Me, der durchwegs auch in die düsteren Tiefen eines gespenstischen Thrillers mündet, um dort wieder emporzusteigen als handgeschnitzter Bodyhorror voll praktischer Geht ja-Effekte und jeder Menge Schleim. Das wiederum hätte ich im Laufe des Films auch nicht erwartet, doch was davon lässt sich hier auch wirklich absehen?

Aus den besten Freunden werden Feinde, Missgunst, Abhängigkeit und verschenktes Vertrauen an das Gute sind nur einige menschliche Eigenschaften, die Heimann in seinem Fast-Schon-Kammerspiel seziert – gespickt mit Wortwitz und einem vom Regisseur höchstpersönlich projizierten Elan, der irritiert, manchmal zu Brei schlägt, was hätte erhalten werden können, aber im Ganzen dazu beiträgt, dass die abgefahrene Science-Fiction-Mär ihre Gleichung ganz gut löst. Und Heimanns „Fuck You“ muss ich letztlich dann doch nicht auf mich beziehen.

Touch Me (2025)

Sketch (2024)

VON DER SEELE GEZEICHNET

7,5/10


© 2024 Kinostar Filmverleih


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: SETH WORLEY

KAMERA: MEGAN STACEY

CAST: TONY HALE, D’ARCY CARDEN, BIANCA BELLE, KUE LAWRENCE, KALON COX, JAXEN KENNER, GENESIS ROSE BROWN, RANDA NEWMAN, ALLIE MCCULLOCH U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


„Was hast du denn da Schönes gemalt?“ In unendlicher Verzückung stehen Eltern oftmals vor dem allerersten wilden Gekritzel ihres Nachwuchses, meist iterierende Kreise, weit über den Blattrand hinaus. Es kommt auch vor, dass die Erwachsenen dabei schon das eine oder andere Quäntchen an Talent aufblitzen sehen, sind diese Kunstwerke doch stets bei weitem besser als die der anderen. Später kommt das figürliche Zeichnen dazu, es werden Eltern, Familienmitglieder, Haustiere oder Freunde abgebildet, die meisten proportional so verbaut, dass sie gruselig genug sind, um dankbar zu sein, sie nicht tatsächlich in den eigenen vier Wänden willkommen zu heißen. Wenn die Fantasie dann sprießt und Aggressionen künstlerisches Ventil finden, entstehen Monster und Kreaturen, blutrünstige Ausweidungen und martialische Schlachten. Immer noch wunderschön, meinen die Eltern. Wenn auch mit verstörtem Blick.

Mittlerweile gibt es ja Tools, die dank künstlicher Intelligenz zum Beispiel Tierzeichnungen von Tafelklässlern plastifizieren und in ein natürliches, fotorealistisches Umfeld setzen, wobei sie selbst zum fotorealistischen Ungetüm werden. Wie creepy ist das denn? Spätestens jetzt wäre es an der Zeit, aus dieser Erweckung kreativer Konstrukte einen Film zu machen, schade schließlich um das Potenzial, das so eine Geschichte haben könnte. Mit Sketch von Seth Worley war es dann soweit. Kinder zeichnen, und sie zeichnen Monströses. Warum sie das tun, liegt in der Psyche von Mädchen Amber, die als Halbwaise den Tod ihrer Mutter verarbeiten muss. Ihrem Bruder geht es damit nicht wirklich besser. Während er seinen Frust nicht kanalisieren kann, hat Amber zumindest Papier und Farbstift, um sich ihre Ohnmacht von der Seele zu zeichnen – Leittragender dabei ist der gleichaltrige Klassenkollege und Störenfried Bowman, der zumindest vorerst auf zweidimensionalem Wege geopfert wird. Soweit so gut, soweit noch juveniles Psychodrama. Doch dann kommt die Wende. Denn inmitten eines Wäldchens gibt es einen See, der alles lebendig macht (oder zumindest repariert), was man hineinwirft. Als Folge diverser Umstände darf sich auch Ambers wertvolles Monsterbuch mit dem magischen Wasser vollsaugen – was dann folgt, kann sich das Publikum im wahrsten Sinne des Wortes ausmalen. Und nein, es sind keine niedlichen Geschöpfe, die da durch die Botanik hirschen.

Es sind Kreaturen aus Alpträumen, die zwar bunt gekritzelt aussehen, aber Verheerendes im Schilde führen, da Amber all ihre negativen Gefühle zu Papier gebracht hat. Ein Horror der besonderen Art wuchert also in erschreckendem Expansionsdrang durch die dreidimensionale Welt, und es ist definitiv nicht Kinder jüngeren Semesters anzuraten, sich dieser Bedrohung auszusetzen. Sketch ist Young Adult- oder aber Jugendhorror, von der Intensität her ähnlich wie der österreichische Haunted House-Grusler Das schaurige Haus. Auch dieser darf sich im Subgenre gemächlicher Hasenfuß-Nägelbeisser wiederfinden, wobei die wüste Invasionsszene mit den augenfressenden Äuglingen weit über das Niveau eines skurrilen Ghostbusters-Horror hinausgeht. Sketch bewegt sich mit erwachsenem Ernst durch sein beklemmend buntes Abenteuer, lässt sogar einen Killer auf den armen Bowman los. Und dennoch: Worley übertreibt oder überhöht seine Story kein einziges Mal, folgt einer erquickend schaurigen Tonalität und lässt dabei seine kindlichen Helden kein einziges Mal so aussehen, als würden sie die Challenge, der sie ausgesetzt sind, nicht bewältigen.

Mit dieser Chuzpe im Rücken und einem aufgeweckten Erfindungsreichtum ist diese sanftmütige, allerdings überraschend spannende Stranger Things-Version manchmal nicht weniger packend als sein Erwachsenen-Vorbild, emotional greifbar und düster genug, um fast schon an J. A. Bayonas Sieben Minuten nach Mittenacht oder Pans Labyrinth anzuecken, allerdings ohne dessen opulent-mystischen Metaebenen-Überbau. Sketch bleibt seiner Dimension verhaftet, das Paranormale ist Teil dieser Welt, ausgestülptes Sprachrohr der Psyche, Befreiungsakt und metaphorisches Abenteuer, ohne sich gewohntem Vokabular großer Studios anzubiedern.

Sketch (2024)

Memory (2023)

DIE DUALITÄT DES ERINNERNS

7,5/10


memory© 2024 MFA+ Filmdistribution


LAND / JAHR: MEXIKO, USA 2023

REGIE / DREHBUCH / PRODUKTION: MICHEL FRANCO

CAST: JESSICA CHASTAIN, PETER SARSGAARD, BROOKE TIMBER, MERRITT WEVER, ELSIE FISHER, JESSICA HARPER, JOSH CHARLES U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Die einen wollen vergessen und können nicht. Die anderen vergessen und wollen nicht. Selten ist es so, dass jene, die vergessen wollen, es auch tatsächlich tun. Zu tief stecken hier traumatischen Erfahrungen in der eigenen Biografie fest, zu sehr beeinflussen diese die Gegenwart. Jene, die vergessen, obwohl sie jede Erinnerung behalten möchten, leiden vermutlich an kognitiven Störungen, die zur Demenz führen. Oft wird diese Erkrankung mit älteren Menschen in Verbindung gebracht, doch Filmemacher Michel Franco sieht das anders. Er wirft Peter Sarsgaard als Saul in einen vernebelten Alltag, der allein nicht mehr zu meistern ist. Abhängig vom eigenen Bruder, erlebt er mal helle Momente, dann wieder Phasen der völligen Desorientierung. Und: Der Mann steht mitten im Leben. Auf der anderen Seite muss Sylvia (Jessica Chastain) als ehemalige Alkoholikerin, die schon seit dreizehn Jahren trocken ist, ein Trauma mit sich herumtragen, welches sich einfach nicht wegsperren lässt. Das hat auch starken Einfluss auf die eigene Tochter, die weder mit Freunden abhängen noch zu Partys gehen darf. Francos Romanze will es, dass sich beide – Chastain und Sarsgaard – auf einem Klassentreffen über den Weg laufen. Oder anders gesagt: Saul sucht Sylvias Nähe und folgt ihr aus welchen Gründen auch immer (später erfährt man auf einer geschickt eingeflochtenen Meta-Ebene, warum) bis vor ihre Haustür – wo er, bei Sturm und Regen, Wurzeln schlägt. Sylvia ahnt, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmt, allerdings nichts, was ihr bedrohlich werden könnte. Nächsten Morgen stellt sich heraus: Der Mann leidet an dementen Schüben, die ihn völlig aus der Bahn werfen. Ohne Betreuung geht es nicht, also nimmt Sylvia auf Bitten von Sauls Bruders den Job an, sich um ihn zu kümmern. Während also Erinnerung und Vergessen aufeinandertreffen, ziehen sich diese Gegensätze sehr bald an.

Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen nach Wie ein einziger Tag oder sentimentalem Taschentuchdrama, wenn ich nicht wüsste, dass Michel Franco hier nicht nur die Story ersonnen, sondern eben auch inszeniert hat. Dessen letzter Film – Sundown – Geheimnisse in Acapulco – kann, wenn man sich einlässt, zu einer speziellen Filmerfahrung werden – mit der dramaturgischen Taktik, fast die gesamte Laufzeit des Films seine Zuseher im Unklaren zu lassen, was Tim Roth wohl antreibt, um aus seinem bisherigen Leben auszusteigen und alle Verbindungen zu kappen. Dieses Mysterium steht und fällt mit der hypnotischen Gelassenheit und stillen Melancholie des Hauptdarstellers, den ruhigen, fast ereignislosen Szenen und dem vielen Platz, den Franco lässt, um eigene Ideen hineinzuinterpretieren. Bei Memory macht er es ähnlich. Die Art, wie Franco seine Filme reduziert, und wie er dabei nach eigenem System die Kamera einsetzt, mag bereits zu seiner unverkennbaren Handschrift geworden sein. Was dabei auffällt: Sobald seine Figuren in einen Konflikt geraten, zieht er sich zurück – wir sehen die Szene in der Totalen, distanziert und als stiller Beobachter. Sind die Gefühle im Reinen, hat Franco auch den Wunsch, sich zu nähern. Menschen, die negative Emotionen auslösen, stehen vorrangig mit dem Rücken zur Kamera oder werden erst gleich gar nicht gezeigt. Ein haarfeines, akkurates, psycho-symbolisches Konzept liegt hier vor, während – wie bei Sundown – all die Szenen in unerzwungener Konsequenz fast schon fragmentarisch aneinandergereiht werden. Nie werden diese auserzählt, sondern enden an dem Punkt, an dem wir selbst als Zuseher, ob wir wollen oder nicht, das Geschehen gedanklich ergänzen. Trotz der Bruchstücke – wie beim assoziativen Erinnern – entsteht so ein Ganzes, eine unaufgeregte, nicht karge, aber pietätvolle Erzählung, die mit lamentierender Schwermut nichts anzufangen weiß. Memory widmet sich einschneidenden Schicksalsschlägen, ohne die Schwere auszunutzen. Er erzählt sie anders, und probt damit das symptomatische Empfinden seiner eigenen Themen. Wie Film und Inhalt sich dabei ergänzen, ist wie Vergessen und Erinnern. In der Mitte liegt eine pragmatische Balance für ein gutes Leben.

Memory (2023)

La Bête (2023)

DEM TRAUMA HINTERHERGEJAGT

8/10


Labete© 2023 Arte Fránce Cinema


LAND / JAHR: FRANKREICH, KANADA 2023

REGIE: BERTRAND BONELLO

DREHBUCH: BERTRAND BONELLO, GUILLAUME BRÉAUD, BENJAMIN CHARBIT – NACH DER KURZGESCHICHTE VON HENRY JAMES

CAST: LÉA SEYDOUX, GEORGE MACKAY, GUSLAGIE MALANDA, ELINA LÖWENSOHN, DASHA NEKRASOVA, MARTIN SCALI, MARTA HOSKINS, JULIA FAURE, KESTER LOVELACE U. A.

LÄNGE: 2 STD 26 MIN


Ein lieber Verwandter von mir, der die Leidenschaft für Filme ähnlich auslebt wie meine Wenigkeit, hat die Werke Bertrand Bonellos mit einem Wort umschrieben, welches vor allem für sein jüngstes Werk treffender wohl nicht ausfallen könnte: Wundertüte. Was der Franzose, auf dessen Konto Nocturama oder Zombi Child geht, hier alles in seinen Psychotrip buttert, füllt vielleicht auch, wie Forrest Gump sagen würde, eine Schachtel Pralinen. Wundertüte schmeckt mir aber besser. Denn La Bête (engl. The Beast) ist weniger süß und wohlschmeckend wie Schokolade, dafür aber so verwunderlich wie ein absurder Traum, dessen Kern Referenzen in der Realität aufweist, von der man nicht so genau weiß, ob man ihr vertrauen kann. Lose inspiriert von Henry James Kurzgeschichte Das Tier im Dschungel setzte Bonello eine höchst eigentümliche Zukunftsvision in Gang, in der die französische Hauptstadt so aussieht, als wären wir abermals im Lockdown. Nicht nur das: Nur mit Maske – Gasmaske? – lässt es sich außer Haus gehen, soziale Interaktion ist ein Unding aus früheren Zeiten. Und Emotionen sowieso eine Frage der Unzulänglichkeit. Wir schreiben das Jahr 2044 – so zeigt es ein Insert. Künstliche Intelligenz scheint vieles aus unserem Alltag, wie wir ihn kennen, übernommen zu haben. Die nüchterne Vorgehensweise der High-Tech-Gehirne dient als Vorbild für den Menschen, der sich nicht mehr von seinen eigenen irrationalen Gefühlen leiten lassen darf und soll. Daher gibt es spezielle Sitzungen: es sind Reisen in frühere Leben, in denen Traumata nisten, die durchlebt werden müssen, um sie aufzulösen und zu zertrümmern wie einen Nierenstein. In dieser Welt des Bertrand Bonello ist Reinkarnation also Gewissheit und das Hindurchwirken früherer Leben der Grund für unkontrollierte Impulsivität, die dem Bestreben im Weg steht, sich den Verhaltensweisen künstlicher Intelligenz anzupassen – und eben nicht umgekehrt.

So liegt Léa Seydoux in einem mit einer gallertartigen Flüssigkeit gefüllten Becken und wartet darauf, in frühere Leben katapultiert zu werden, während eine Sonde in ihr rechtes Ohr fährt. Erinnerungen an die obskuren, biomechanischen Filmwelten eines David Cronenberg werden wach, doch allerdings nur in Anbetracht dieses Aspekts. Schon schreibt der Film das Jahr 1910, es ist das Jahr, als Paris überflutet wurde. Gabrielle, die Gattin eines Puppenfabrikanten, trifft während einer Festveranstaltung der Pariser Aristokratie auf einen Mann namens Louis Lewinsky, den sie zwar dem ersten Eindruck nach nicht kennt, er aber sie. Beim Gespräch erinnern sich schließlich beide an ein Zusammentreffen vor einem halben Jahr, und an eine dunkle Vorahnung von seitens Gabrielle, die damals schon wusste, dass sich eine verheerende Katastrophe anbahnen wird. In Verbindung steht diese Prophezeiung mit dem Auftreten eines Biests, eines monströsen Wesens, das Tod und Verderben bringt.

Dieser erste Teil eines höchst rätselhaften Films ist schon seltsam genug. Das kryptische Spiel der Erinnerung und der Vorahnung lässt Alain Resnais Letztes Jahr in Marienbad aufleben, nur nicht in Schwarzweiß. Die Flut wird kommen, doch das ist nicht die große Katastrophe. Dieser Schatten des Unbehagens beobachtet Bonellos Film von außen; es ist, als säße man mit einer abstrakten Entität im dunklen Nichts des Kinosaals. Es fühlt sich an, als wäre La Bête aus den Traumnotizen eines David Lynch entstanden. Ganz deutlich wird dieser Umstand beim plötzlichen Wechsel des Schauplatzes. Im Jahr 2014 in Santa Barbara, Kalifornien, ist Gabrielle immer noch Gabrielle, aber eine ganz andere Persönlichkeit – eine, die versucht, als Schauspielerin Fuß zu fassen. Irgendwo anders geistert Louis Lewinsky als ebenfalls jemand ganz anderer durchs Geschehen und filmt sich dabei in seinem Selbstmitleid, auf ewig die einsame Jungfrau zu bleiben.

Wie das alles zusammenpasst? Wie ein abstrakter Traum, den man als unangenehm empfindet, der sich nur schwer erschließen lässt. La Bête ist ein Film, der anfangs ordentlich Schwierigkeiten macht, sich mit ihm anzufreunden. Doch das muss man gar nicht. Vielleicht wäre es besser, sich nur darauf einzulassen, Erwartungshaltungen außen vor zu lassen, die Ungeduld anderen zu überlassen. Wie die Identitätswechsel in Mulholland Drive und die surrealen, alptraumhaften Bedrohungen, die Naomi Watts durchleben muss, so bietet auch Bonellos Existenz-Horror, der aber genauso gut spielerische Romanze und technologischer Thriller ist, das unheimliche Mysterium eines aus der Zeit gehobenen Ist-Zustandes, in dem Léa Seydoux mehrere Persönlichkeiten in sich trägt. George McKay als Verehrer, Eindringling und bekannter Unbekannter ist da nicht weniger gespenstisch. Doch anders als David Lynch, der sich aus Science-Fiction sowieso nicht viel gemacht hat (sieht man mal von Dune ab), fügt Bonello noch eben diese Komponente hinzu: das stalkende, manipulative Bewusstsein einer abgründigen Technologie.

Ob das schon alles war? Natürlich nicht. Auch das Thema Film im Film – wie bei Lynch – bietet eine zusätzliche Ebene, das Unbehagen wächst, die Wundertüte reißt auf, das Innenleben zersplittert auf dem Kachelboden wie eine Ming-Vase. Tausend Scherben, und doch gehören sie alle zusammen, ergeben ein Ganzes und führen zu einer erschütternden Erkenntnis, die Seydoux als sagenhaft gute Scream Queen, gefangen im Alptraum, einen markerschütternden Urschrei entlockt, als wäre ein gigantischer Gorilla drauf und dran, sie zu packen. La Bête ist vieles, vor allem aber ein Erlebnis, das in seinem wechselnden Rhythmus aus kostümierter Opulenz, Zukunftsangst und psychopathischer Hässlichkeit erschaudern lässt.

La Bête (2023)

Wald (2023)

IN DER EINSCHICHT LIEGT DIE KRAFT

7,5/10


wald© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE: ELISABETH SCHARANG

DREHBUCH: ELISABETH SCHARANG, INSPIRIERT VOM GLEICHNAMIGEN ROMAN VON DORIS KNECHT

CAST: BRIGITTE HOBMEIER, GERTI DRASSL, JOHANNES KRISCH, BOGDAN DUMITRACHE, LARISSA FUCHS, DAGMAR SCHWARZ, HEINZ TRIXNER, HEINRICH MAYR, MIEL WANKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Das im Norden Österreichs gelegene Waldviertel – ein dicht bewucherter Teil des Bundeslandes Niederösterreich, sagenumwoben und voller kulturhistorischer Hot Spots – sieht stellenweise tatsächlich so aus, als wäre man in Schweden oder Finnland – sanfte Hügel, Birkenpopulationen, natürlich jede Menge Nadelwald. Ein Eldorado für Baummeditationen und um Kraftquellen anzuzapfen (sofern man einen Zugang dazu hat). Kleine Dörfer säumen quadratkilometergroße Flächen des Grüns, und sobald die Tage kürzer werden, zieht Nebel auf. Da möchte man meinen, Geister herumspuken oder neolithische Ahnen aus dem Moor kriechen sehen. Metaphysich, sagenhaft. Im Selbstfindungs- und Psychodrama Wald, frei nach dem Roman von Doris Knecht, ist die magische Idylle etwas, das sich zu erschließen lohnt. Allerdings ist der Weg dorthin einer, der an verbohrten Dörflern und Menschen aus der Kindheit vorbeiführt. Er führt an Ablehnung, enervierendem Hass und scheinbar irreversibler Kränkung vorbei. Dort stehenzubleiben, wo es für den Moment kein Weiterkommen gibt, ist eine Eigenschaft, die Marian erst nach und nach lernen muss. Oder wiedererlangen. Denn sie kennt das verschrobene Volk hier, sie kennt die Leute, die sich entweder selbst nichts gönnen oder alles haben wollen, weil sie – wie in Wilhelm Penys und Peter Turrinis Alpensaga – unaufgefordert alle Regeln diktieren. Diesen Regeln muss Folge geleistet werden, so meint es immerhin Franz, einer der Gesichter, die Marian gut kennt, zumindest sieht sie Ähnlichkeiten in einem Konterfei, dass damals zwanzig Jahre jünger war.

Marian, eine mit Preisen ausgezeichnete, renommierte Journalistin, die an einem Ort wie diesen, dem Waldviertel, im Grunde nichts verloren zu haben scheint, hofft, zumindest das wiederzufinden, was sie wieder auf Spur bringt. Es ist das geerbte Haus ihrer Großeltern am Rande des Waldes und zehn Kilometer vom Dorf entfernt; ein alter, baufälliger Hof mit muffigem Inneren als Zeitkapsel eines verklärten Damals der Kindheit. Alles ist noch so, wie es früher war, nur das Dach ist undicht und Strom gibt’s längst keinen mehr. Genau dort, allen Bequemlichkeiten entsagend, sucht Marian die Geborgenheit von Leuten, die es nicht mehr gibt – bis auf eine. Jugendfreundin Gerti, die in sowohl unmittelbarer als auch ferner Nachbarschaft die Rückkehr eines verräterischen Lebensmenschen mit Wut im Bauch beäugt, ist Marian doch damals, nach dem Tod der Mutter, einfach verschwunden. Die Kunst ist es nun, die Mauer der Ablehnung zu durchbrechen, die von beiden Seiten langsam, zögerlich, aber doch, praktiziert werden wird, einen ganzen Herbst, einen ganzen Winter lang. Der Wald, dunkel und düster, aber nichts Böses wollend, sondern therapierend, sieht dabei zu. Die kultivierten Landschaften, das konservierte Gestern, und zwischendrin das Trauma eines Terroranschlags, ergeben das erfrischend ungefällige Gemälde eines fulminanten Heimatfilms.

Das in spätsommerlichen Farben gemalte Vergangene trifft auf eine kaltschnäuzige, pragmatische Gegenwart, das Landleben wurde bislang selten so grob aus dem Stein gehauen wie hier. Die Idylle eines Dorfes fehlt ganz, Elisabeth Scharang reduziert den Mikrokosmos auf das von Alkoholdunst getränkte Innere einer Gaststube, was nahezu beklemmend wirkt. Das inhärente Gedächtnis einer solchen wird auch in Lars Jessens Mittagsstunde befragt, ein ähnlicher, stiller, auf Metaebenen wandelnder Blick auf ein kryptisches Damals.

Befreit hingegen bleibt die Weite der Felder und die Möglichkeit, sich trotz des möglichen Abstands näher zu kommen. Die Idee hinter diesem Homecoming-Drama setzt Scharang in meisterlicher Effizienz in die Praxis um. Sie bündelt, was das österreichische Gemüt bewegt und wie es tickt, sie greift auf eine Weise den vor knapp drei Jahren in Wien wie aus dem Nichts hereingebrochenen Amoklauf eines Terroristen auf, sie holt sich Brigitte Hobmeier als unprätentiöses, authentisches Sprachrohr für eine ganz persönliche, aber niemals einsame Katharsis, die sie mit einer gewohnt greifbar agierenden Gerti Drassl teilt. Johannes Krisch ergänzt schließlich in gewohnter Qualität das Trio einer unfreiwilligen Selbsthilfegruppe der Angeknacksten, die letztlich vieles gemeinsam haben und sich in einem unverhofften Revival einander stärken. So bleibt Wald längst kein schwermütiges Bewältigungsdrama mehr, sondern die wunderschöne, wenn auch unbequeme Geschichte einer Freundschaft. Und über die Verantwortung Menschen gegenüber, die das eigene Leben irgendwann, und sei es auch nur für kurze Zeit, bereichert haben.

Wald (2023)

Causeway

FLUCHT ZURÜCK NACH VORNE

5/10


causeway© Apple TV+


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: LILA NEUGEBAUER

CAST: JENNIFER LAWRENCE, BRIAN TYREE HENRY, LINDA EDMOND, JAYNE HOUDYSHELL, FRED WELLER, NEAL HUFF U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Mit einem tristen Indie-Drama wurde die Welt auf sie aufmerksam – zu einem tristen Indie-Drama kehrt Jennifer Lawrence nun zurück. Causeway ist ihr jüngstes Werk, und es erscheint in den dunklen Wintermonaten zeitgerecht auf dem Streamingdienst Apple TV+, denn dieser hat anscheinend ein Faible für Filme wie diese, die in unterschiedlicher Qualität einmal wirklich beeindrucken (wie das Sci-Fi-Drama Schwanengesang) oder lieber lethargisch bleiben, wie eben in diesem Fall. Ein Stück erarbeitete Lebensweisheit wie diese kann mitunter nur so tun, als hätte sie mehr auszusagen als ein kommerziell orientierter Comic-Blockbuster, denn diese sind ja schon allein aufgrund ihres Schwerpunkts auf Schauwerte gleich vorverurteilt, was Tiefe anbelangt. Sieht man allerdings genauer hin, können introvertierte Dramen wie dieses ihre wahre inhaltliche Ratlosigkeit auch nicht mehr kaschieren. Da kann Jennifer Lawrence noch so traumatisiert und emotional verkümmert ins Narrenkästchen blicken – der Film wird dadurch nicht griffiger oder gehaltvoller. Er bleibt zumindest inhaltlich von so geringer Spannkraft wie die Wasserspiegel der vielen Swimmingpools im feucht-tropischen Süden der USA, die Jennifer Lawrence alle reinigen muss. Doch warum nur tut sie das?

Lawrence spielt Lindsay, eine körperlich wie neuronal in Mitleidenschaft gezogene US Army-Ingenieurin, die bei einem Routineeinsatz in Afghanistan aufgrund eines Hinterhalts der Taliban schwer verletzt wurde. Der Unfall führte zu einer Gehirnblutung, die wiederum zur körperlichen Beeinträchtigung, die nur nach langen Monaten der Reha wieder so einigermaßen in den Griff zu bekommen war. Die Bilder des Schreckens von damals mindert das nicht – umso schwerer ist es, sich selbst genug zu motivieren, um, wieder daheim, zumindest vorübergehend ein neues Leben anzufangen, bis es wieder an die Front gehen kann. Denn das will sie, trotz oder gerade wegen dieser erschütternden Erlebnisse, die ein ziviles Dasein fast schon unmöglich machen. Dummerweise muss sie sich bei Muttern einquartieren – das Verhältnis zwischen den beiden pendelt zwischen zerfahren und vorsichtiger Annäherung, wobei schon einiges zu viel im Argen liegt, um länger in der Obhut der Vergangenheit bleiben zu wollen. Wie es der Zufall so will, trifft Lindsay auf den Mechaniker James (Brian Tyree Henry, zuletzt gesehen als Killer Lemon in Bullet Train), der ein ähnliches Schicksal mit sich herumträgt.

Klar wird aus dieser Begegnung mehr. Und auch aus der neuerlichen Zusammenkunft zwischen Mutter und Tochter. Causeway ist ein Aufarbeiten des Vergangenen und eine Suche nach einem Neuanfang. Für einen Indie-Film wie diesen klingt der Plot mittlerweile etwas abgenutzt und reicht gerade mal für eine Ausgangssituation, um unterschiedliche Ansätze darin zu entdecken. Das eindringliche Antikriegsdrama Brothers, ob als dänisches Original oder Remake mit Tobey Maguire und Jack Gyllenhal, ist ähnlich akzentuiert, entwickelt aber eine bedrohliche Eigendynamik. Die Tragikomödie Red Rocket von Sean Baker hat zwar keine traumatischen Kriegserlebnisse zu bieten, erzählt aber ebenfalls von Vergangenheit und Neuanfang auf erfrischend spitzbübische Weise. Familien spielen dabei immer eine Rolle, ob dysfunktional oder Geborgenheit bietend. Was Lila Neugebauer in ihrem ersten Langfilm daraus macht, scheint ein bisschen sehr gedankenverloren. Natürlich, Lawrence nimmt sich zurück und gibt sich ganz ohne Schminke und sonstige Accessoires bemüht natürlich. Brian Tyree Henry ist da schon chargierender, spontaner in seinen Emotionen, auch glaubhafter. Doch beide sind souverän in ihrer Arbeit, treten aber in der Entwicklung ihrer Figuren fast bis zuletzt auf der Stelle.

Für Langeweile sorgt Causeway aber dennoch nicht, was den beiden Darstellern geschuldet ist. Schauspielkino also für einen ruhigen Filmabend, der wenig Erhellendes bietet, seine Zuseher aber wissen lassen möchte, mit anscheinend viel Schwermut auch genug Gehaltvolles kommuniziert zu haben. Das lässt sich schnell glauben – in Wahrheit bringt das Thema für einen Langfilm viel zu wenig ins Rollen.

Causeway

Das Geheimnis von Neapel

NAPOLI, IL MIO DESTINO

6/10


dasgeheimnisvonneapel© 2010-2018 PROKINO Filmverleih GmbH

LAND / JAHR: ITALIEN 2017

REGIE: FERZAN OZPETEK

CAST: GIOVANNA MEZZOGIORNO, ALESSANDRO BORGHI, ANNA BONAIUTO, ISABELLA FERRARI, BIAGIO FORESTIERI U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Neapel sehen… und von der schönsten Seite erleben. Ganz ohne Müllberge, ganz ohne Mafia, ganz ohne schwelende Hitze oder gar vom nahegelegenen Vesuv ausgehender Vibrationen. Dafür mit viel Kunst, klassisch verklärten Gesichtern auf Marmorbüsten. Engen Gassen und Zimmern mit Aussicht aufs Meer. Da kommt fast schon Urlaubsstimmung auf. Das Mediterrane hat schließlich was. Es ist aber nicht so, dass Neapel nicht auch – wie der Titel des Films schon sagt – seine Geheimnisse birgt. Das tun Rom, Florenz, Ravenna und wie diese Städte alle heißen, genauso. Darüber weiß zum Beispiel Dan Brown ganze Romane zu schreiben. Dieses Mysterydrama hier gräbt zwar nicht nach verschwundenen Artefakten und verborgenen Geheimbünden, dafür aber nach verschütteten Traumata, die verwoben sind in einen urbanen Mikrokosmos, aus welchem es schwer wird, zu entkommen. Denn die Pathologin Adriana liebt, was sie gleichermaßen verabscheut. Ein obskures Dilemma.

Dabei scheint sich alles so zu entwickeln, wie der eine oder andere Erotikhriller aus den Neunzigern, der im Zuge des Basic Instinct-Hypes aus dem Boden geschossen war. Zwei fremde Personen – eine Frau und ein Mann – tauschen Blicke. Die sagen mehr als tausend Worte. Begehren liegt in der Luft. Der geheimnisvolle Mann verplant daraufhin gleich die ganze Nacht – die Frau nimmt dankend an. Heiße Sexszenen, zerwühlte Laken. Es geht ordentlich zur Sache. Bis der Morgen kommt, und Adriana voller Vorfreude ob des nächsten Treffens den Tag gerade mal so hinbiegen kann. Doch Andrea, der geheimnisvolle Fremde, taucht an vereinbartem Ort nicht auf. Tags darauf landet dieser als übel zugerichtete Leiche in der Pathologie. Tragisch, so ein  kurzes Glück. Adriana versinkt in Betroffenheit. Bis sie wiederum Wochen später das Gefühl hat, an Geister glauben zu müssen.

Zwischen Federico Fellini, Polanski und italienischer Soap Opera: Regisseur Ferzan Ozpetek (Hamam – das türkische Bad) lässt unter der Prämisse „Eine Stadt – ein Drama“ den Faktor des Mysteriösen sehr bald von der Leine. Vom zu erwartenden Erotikthriller heißt es sehr bald Abschied nehmen. Gondeln tragen aber auch keine Trauer, denn zum parapsychologischen Reißer lässt sich Das Geheimnis von Neapel auch nicht motivieren. Giovanna Mezzogiorno geistert als pathologische Pathologin durch ein kaum Position beziehendes, vages Melodram, dessen seltsame Wege flankiert sind vom Lifestyle einer italienischen Kunst-Schickeria. Augenhöhe sucht man mit diesen Randfiguren vergebens, allerdings hat man bald eine Ahnung, wohin die Irrungen der aus allen Wolken gefallenen Frau letztendlich führen könnten. Und wieder verlässt Ozpetek das geliehene Genre, kehrt dabei aber zurück an den Anfang. Im Großen und Ganzen scheint da ein Storytwist die geduldsprobende Ratlosigkeit etwas zu tilgen.

Viel schlauer ist man am Ende wiederum auch nicht, doch gerade diese schwelgerische Skepsis gegenüber der Wirklichkeit versetzt dem schicken Psychotrip die lang erwartete spielerische Note.

Das Geheimnis von Neapel

The Woman in the Window

WENN DAS DIE NACHBARN WÜSSTEN

3,5/10


womaninthewindow© 2021 Twentieth Century Fox / Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: JOE WRIGHT

DREHBUCH: TRACY LETTS, NACH DEM ROMAN VON A. J. FINN

CAST: AMY ADAMS, GARY OLDMAN, JULIANNE MOORE, ANTHONY MACKIE, WYATT RUSSELL, FRED HECHINGER, JENNIFER JASON LEIGH, TRACY LETTS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Wenn ich schon vermute, dass die verschrobene Dame von vis a vis andauernd rüberäugt, werde ich mir a) entweder Vorhänge zulegen oder b) einfach die Jalousien runtertun. Kann ja kein Problem sein. Aber nein: aufgrund eines vagen exhibitionistischen Drangs sieht die Familie von gegenüber, die womöglich einige Geheimnisse birgt, keinerlei Notwendigkeit dazu. Ein höchst obskures Verhalten – und schon mal ein sehr offensichtlicher Fehler im von Schauspieler Tracy Letts verfassten Drehbuch, der auch hier – ohne in den Credits erwähnt zu werden – Amy Adams‘ Therapeuten gibt. Die wiederum leidet als Anna unter Agoraphobie und würde einen Lockdown überhaupt nicht spüren, gäbe es einen. Sie hütet also das Haus, und nicht nur die Wohnung, denn Adams besitzt eine mehrgeschossige Immobilie, in der gerade mal ein Junggeselle (Wyatt Russell aus The Falcon and the Winter Soldier) zur Miete wohnt. Adams Figur wirkt ziemlich durch den Wind – was sie den ganzen Tag macht, weiß keiner. Oder vielleicht doch – nämlich aus dem Fenster sehen und mit Fotoapparat und Binokular das Treiben im Haus gegenüber ausspionieren. Vielleicht ist es, so wie bei James Stewart aus Das Fenster zum Hof, einfach aus einer situationsbedingten Langeweile heraus, die sie vors Fenster bannt. Eine kleine Abwechslung bietet das Auftauchen des Sohnes von gegenüber und auch dessen Mutter, gespielt von Julianne Moore, die so wirkt als wäre sie auf einem glückseligmachenden Drogentrip – dauergrinsend und überdreht. Eines weiteren schönen Tages allerdings beobachtet Anna das Unvermeidliche: einen Mord an just jener Frau, die erst kürzlich zu Besuch war. Das passiert natürlich schön vor dem Fenster, damit die ganze Nachbarschaft das Ereignis mitbekommt. Schockschwerenot, die Polizei muss her! Und schon ist nichts mehr, weder die Wirklichkeit noch sonst was, wie es vorher war. Eigentlich kein Wunder, suhlt sich die Kinderpsychologin außer Dienst doch tagtäglich in einem Mix aus Wein und rezeptpflichtigen Tabletten, die additiven Alkohol grundlegend verneinen.

Hitchcock, schau runter! Wie sehr erinnert dich dieser Film wohl an deinen eigenen? Und für wie gut würdest du ihn finden? Du würdest vielleicht mal auf der Habenseite die wandelbare Amy Adams sehen. Das stimmt – als vom Schicksal gezeichnete, psychisch ziemlich in Mitleidenschaft gezogene Housesitterin wandelt sie durch ihre Gemächer, an der einen Seite die Katze, an der anderen das Weinglas. Die Grundlage für ein Kammerspiel mit doppeltem Boden wäre geschaffen. Auch all die anderen Co-Stars wie Gary Oldman, der gefühlt auch keine Angebote mehr ausschlägt wie seinerzeit Christopher Lee, liefern saubere Arbeit. Wofür sie sich jedoch bemühen, ist ein relativ überschaubares, wenn nicht gar enttäuschendes Soll. Dabei sitzt Joe Wright im Regiestuhl, von welchem man bereits einige souveräne Arbeiten kennt. Im Falle von The Woman in the Window ließe sich noch so gut Regie führen – es würde alles nichts helfen, wenn der Plot nicht will. Denn dieser hier bremst sich selbst aus. Das macht er, indem er nicht nur einen Psychothriller alter Schule erzählt (mit ganz eindeutigen, auch visuellen Referenzen an Hitchcocks Klassiker), sondern auch Amy Adams‘ Leidensgeschichte. Ein knackiger Thriller konzentriert sich auf den expliziten Schrecken seines Verbrechens und den nachhaltig verstörenden Folgen. The Woman in the Window tut sich schon von Beginn an schwer, dramaturgisch aufzuräumen, damit alles seinen Lauf nehmen kann. Stattdessen nimmt er den eigentlichen Storytwist vorweg, irgendwann in der zweiten Hälfte des Films, um dann nochmal einen weiteren, wenig plausiblen Twist zu bemühen, der das längst zum Stillstand gekommene Szenario noch retten soll.

Vor kurzem gab es einen ähnlichen Film – Stunde der Angst mit Naomi Watts. Auch sie psychisch sichtlich angeschlagen, verlässt sie die Wohnung nicht und fürchtet sich vor einem Serienkiller, der in der Gegend sein Unwesen treibt. Hier arbeitet Alistair Bank Griffins ganz bevorzugt mit dem seelischen Dilemma der Protagonistin, während sich der Krimi-Plot begleitend unterordnet. Auch kein Meisterwerk, aber deutlich besser als dieses leider in den Keller krachende Konstrukt eines versuchten Selbstbeweises in Sachen Suspense.

The Woman in the Window

Pelikanblut

MACH MICH FERTIG, KINDERSEELE

7/10


pelikanblut© 2020 DCM


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2019

BUCH / REGIE: KATRIN GEBBE

CAST: NINA HOSS, KATERINA LIPOVSKA, ADELIA-CONSTANCE OCLEPPO, MURATHAN MUSLU, SOPHIE PFENNINGSTORF, DIMITAR BANENKIN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Manchmal ist man beim Nachwuchs mit seinem Latein am Ende. Die Nerven liegen blank, es kribbelt der kreisrunde Haarausfall und alle errungenen Erkenntnisse zur pädagogisch richtigen Erziehung sind plötzlich wie weggeblasen. Liegt natürlich auch am eigenen hausgemachten wie auch immer gearteten Stress. Dazu kommt der Kinderstress – und die Fetzen fliegen. Am Kind sieht man erst, wie Menschen überhaupt ticken, was sie quält und motiviert. Am Kind sieht man aber auch das eine oder andere Mal, wie sehr magisches Denken die Grenze zwischen Realität und Imagination verschwimmen lässt. Da kann es manchmal sein, dass Kinder einem wirklich das Gruseln lehren. Denn diese, so Berichten aus dem Kindergarten zufolge, sehen immer wieder mal Dinge, wo gar keine sind. So, als hätten sie das Füßchen in der Tür zu einer anderen Dimension, die sich für uns Erwachsene längst geschlossen hat. Kann sein, dass diese Tür im hohen Alter wieder aufgeht. Zwischendurch aber ist das Hier und Jetzt schwierig genug. Keine Zeit für Metaphysisches. Vielleicht auch, weil es die Welt, wie wir sie verstehen, über den Haufen werfen würde.

Mit Systemsprenger hat Pelikanblut, der letztes Jahr im Rahmen von Flash – dem Wiener Festival des phantastischen Films – zu sehen war, alleridngs nur sehr wenig gemein. Nora Fingscheidt erzählt ihren Film um die schwer erziehbare Helena Zengel aus einem ganz anderen Blickwinkel, bleibt beobachtend, dokumentarisch. Katrin Gebbe (u. a. Tore tanzt) hingegen geht da noch einen Schritt weiter und schickt ihr Problemkind auf einen Survivaltrip durch die emotionale Postapokalypse. Dabei hat das fünfjährige bulgarische Mädel das Riesenglück, von Nina Hoss adoptiert zu werden, die im Film eine idealistische, alleinstehende Pferdetrainerin namens Wiebke gibt. Allein auf weiter Koppel will sie sich scheinbar selbst davon überzeugen, den fehlenden Vater spielerisch kompensieren zu können, indem sie mit Raya ihr zweites Kind adoptiert.Die Freude über das zusätzliche Mutterglück weicht aber bald zähneknirschendem Abklopfen der eigenen erzieherischen Fähigkeiten, als der zugegeben nicht sehr sympathisch wirkende Blondschopf anfängt, die Einrichtung zu demolieren und in rasender Wut sogar das Kinderzimmer abzufackeln. Wiebke sieht sich gezwungen, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen – Experten raten ihr, das Kind in eine entsprechende Einrichtung zu geben. Zum Leidwesen der Erstadoptierten bringt es Mama aber nicht übers Herz und greift dabei lieber zu allen anderen möglichen Mitteln, um das scheinbar irreparable Defizit des gestörten Kindes auszugleichen.

Mitunter stelle ich durchaus in Zweifel, dass die Beweggründe zu Mamas rücksichtsloser Übersteigerung der eigenen Alltagskapazitäten nicht dafür gedacht waren, die erdadoptierte Mustertochter in ihrer Einsamkeit nicht verzweifeln zu lassen. Die hätte den Zuwachs am allerwenigsten nötig gehabt. Und natürlich: erziehungstechnisch ist bei Nina Hoss‘ Mutterfigur noch reichlich Luft nach oben, und man wundert sich manchmal gar nicht, dass manche Dinge so dermaßen aus dem Ruder laufen. Doch bei welchem Elternteil, mich nicht ausgenommen, wäre das anders. Die meisten von uns sind schließlich keine Pädagogen. Irgendwann aber ist in Pelikanblut der Punkt erreicht, an welchem der Film das herkömmliche Kinderzimmer verlässt und eine ganz andere Richtung nimmt. Ich will nicht sagen die des Horrorfilms, denn Horror wäre zu hoch gegriffen. Viel eher würde ich Pelikanblut vor allem in der zweiten Hälfte als dem Subgenre des Gothic-Grusels verwandt sehen, allerdings auf eine romantisierte Art und Weise, fast wie aus einem Roman von Daphne Du Maurier, die in ihren Werken stets immer mehr angedeutet als explizit ausformuliert hat. Das finden wir auch in Katrin Gebbes Film als eine beunruhigende, metaphysische Komponente, allerdings nahtlose eingebettet in einen soliden Realismus, der klassischem Kinderhorror wie Das Omen den Rücken kehrt. Ein gewagter und geglückter Genre-Sampler, der so sicherlich noch nicht da war.

Pelikanblut