Styx

SCHIFFE VERSENKEN FÜR ALTRUISTEN

7/10

 

styx© 2018 Benedict Neuenfels, Filmladen

 

LAND: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2018

REGIE: WOLFGANG FISCHER

CAST: SUSANNE WOLFF, GEDION WESEKA ODUOR U. A.

 

Willkommen in der Unterwelt. Bevor wir in den Hades vordringen können, müssen wir einen Fluss überqueren, der das Totenreich neunmal umfließt. Schwimmend geht das nicht, dazu braucht es einen Fährmann. Charon heißt er, und er will einen Obulus, eine Münze. Die legten die alten Griechen auf die Zunge des Toten, damit er eingeht in das Reich der Finsternis, in welchem schon Orpheus und Eurydike vorgedrungen und niemals wieder zurückgekehrt waren. Der Fluss, dessen Name ist Styx, übersetzt Wasser des Grauens. Styx ist auch der Name einer Göttin, der Tochter von Okeanos. Abgeleitet davon: Ozean. Auf solchem kurvt der Segler Asa Gray, unterwegs von Gibraltar nach Asuncion, einer kleinen Insel südlich von Sankt Helena, unberührtes Paradies und schon seinerzeit Faszinosum von Charles Darwin, der hier angelegt hat. Die Ärztin Rike, die macht sich alleine auf den Weg, wie vor einigen Jahren Robert Redford in All is Lost. Doch Redford, der konnte dem Sturm auf offener See nicht standhalten. Rike, gespielt von Theaterschauspielerin Susanne Wolff, schafft es zwar, Wind und Wetter zu trotzen, ist aber ungefähr auf der Höhe der Kapverdischen Inseln einer ganz anderen Katastrophe ausgesetzt, die nicht weniger verheerend ist. Und für die es eigentlich keine Lösung gibt, zumindest nicht für das kleine Boot, konzipiert für maximal zwei Personen.
Dieses Unglück ist ein havarierter Fischkutter, bis über die Grenze der Belastbarkeit vollbeladen mit Flüchtlingen, die, dehydriert und am Ende ihrer Kräfte, verzweifelt rufen und winken, ins Wasser stürzen, untergehen. Das ist ein menschliches Desaster, das können wir uns nicht vorstellen. Das kann sich Ärztin Rike genauso wenig vorstellen. Besonnen, wie sie ist, funkt sie die Küstenwache an. Mayday Mayday, heißt es. Der Notruf wird gehört, Hilfe ist am Weg. Doch das rettende Schiff, das kommt nicht. Und die junge Nautikerin muss eine Entscheidung treffen, der sie nicht entkommen kann. Denn was sie erst später merkt: Das Gewässer des Styx, das liegt unter ihr, gluckert in kleinen Wellen um den Bootskiel herum. Chiron fragt nach dem Obulus. Doch den gibt es nicht. Nicht für alle.

Der Österreicher Wolfgang Fischer hat ein konzentriertes, und doch episch weites Kammerspiel entworfen, selbst verfasst und gedreht. Gesprochen wird wenig, fast ausnahmslos über Funk. Sein Film Styx ist in Zeiten wie diesen höchst brisant, vermeidet es aber, was bei Filmen wie solchen leicht passieren kann, den Moralapostel zu spielen oder gar auf zu simple Art und Weise den erhobenen Zeigefinger zu recken. Was Fischer will, ist ein Gleichnis errichten, auf instabilem Grund. Eine Parabel über Ignoranz und Zivilcourage. Über die Selbstlosigkeit des Einzelnen im Angesicht einer humanitären Katastrophe und der eiskalten Erbarmungslosigkeit vieler, nämlich jener, die eine Nation erst ausmachen, die wiederum von einer dem Fremden ablehnenden Politik geprägt wird, unter dem Vorwand, erstmal auf sich selbst schauen zu müssen. Es sind die Flüchtlinge, die keiner will, für die niemand verantwortlich ist, da wir schließlich nicht als Weltenbürger auf die Welt gekommen sind, sondern als Patriot eines Staates, der sich künstlich abgrenzt. Dass unser Planet im Grunde gar keine Grenzen hat, sieht niemand mehr. Das sehen vielleicht nur die, die über die Weite segeln, wie einst Odysseus, wie einst Christoph Kolumbus oder Magellan. Der Mensch ist in Fischers Styx längst nicht mehr von gleicher Wichtigkeit. Flüchtlinge werden zu Untermenschen, sie werden wieder zu Sklaven eines Ungleichgewichts. Mittendrin eine wohlhabende Weiße, die als einzige den Obulus hat, um in die Unterwelt vorzudringen. Aber will sie das denn? Das ist nicht die Frage. Sie muss. Weil es menschlich ist. Weil genau das uns besonders macht.

Styx führt zu einem völlig anderen Umkehrschluss als das thematisch sehr ähnliche, französische Seglerdrama Turning Tide mit François Cluzet. Weil Sytx mehr erzählen will. Fischer sucht einen gemeinsamen Nenner der Beschützenden und zu Schützenden, und dabei wagt er sich durchaus vor in den Versuch einer metaphorischen Darstellung, die auf den ersten Blick ratlos zurücklassen könnte, mit ein bisschen Abstand aber den Eindruck erweckt, zu Ende gedacht zu sein. Styx ist kein filmisches Mahnmal, vielmehr eine Reinigung des Blickes und ein Wiederfinden des Anstands. Ein kluger Film, der sich zwischen den Bildern liest. Und der die Segel so setzt, um am Weltproblem nicht vorbeizuschippern.

Styx

45 Years

DIE FRAU VON FRÜHER

4/10

 

45years© 2015 Filmladen

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 2015

REGIE: ANDREW HAIGH

CAST: CHARLOTTE RAMPLING, TOM COURTENAY U. A.

 

Charlotte Rampling geht mit dem Hund spazieren – und es ist eine herbstliche Welt, in der sie es tut. Kalt und grau ist es, man atmet klare Luft, das Denken zieht so seine Bahnen. Dieser Herbst, der hat sich auch in eine Beziehung eingeschlichen, die schon mehr als 40 Jahre währt – genauer gesagt 45, aber das lässt sich ohnehin aus dem Titel ablesen. Mit 40 hätte ein großes Fest stattfinden sollen, eine Erneuerung des Eheversprechens, doch dazu kam es nicht, wahrscheinlich aus Krankheitsgründen. Ein zweiter Anlauf also – mit 45 auf der ehelichen Habenseite ist man sowieso noch nicht viel weiser als mit 40, somit macht das keinen Unterschied mehr. Was einen Unterschied macht, das ist ein Brief aus der Schweiz. Denn Gatte Jeff, der verlor vor einem halben Jahrhundert die Liebe seines Lebens, bei einer Bergtour durchs Gebirge. Ein Unfall, tragisch und traumatisch – die Leiche wurde nie gefunden. Bis jetzt. Und mit dem Finden derselbigen schleicht sich plötzlich ein Gedanke ein, der sich so egozentrisch, herbeigeholt und abstrakt anfühlt, dass es fast unmöglich scheint, daraus einen Film zu machen.

Der Film wurde gemacht, vom Briten Andrew Haigh, und widmet sich nichts anderem als den Was-wäre-wenn-Gedanken einer älteren Dame, deren Komplex, das Opfer einer möglichen zweiten Damenwahl zu sein, den ganzen Spaß am entspannten Herbst des Lebens nimmt. Da frage ich mich nicht nur einmal im Film: Was genau ist Filmcharakter Kates Problem? Dass ihr Mann ein Leben vor ihr hatte? Dass die Gespräche abends im Bett ausnahmsweise mal von der Vergangenheit handeln? Von der ersten großen Liebe? Ehrlich gefragt – wer hat schon seine erste große Liebe letzten Endes wirklich gehelicht? Oder wähnt sich immer noch in trauter Zweisamkeit mit einer Liebe, deren Flamme so lodert wie am ersten Tag? In den seltensten Fällen. Wenn doch, dann Hut ab. Realistisch betrachtet kann ich es kaum glauben. Denn Liebe ist etwas, dass sich stetig wandelt, und niemals so bleibt wie am ersten Tag. Dauerhafte Liebe, das ist ein nachhaltiger, inniger Zustand einer sich längst bewährten Zuneigung, die gar nicht viele Worte braucht. Das ist Geborgenheit, Sicherheit, ein Aufeinander-Verlassen. Diese Liebe, die Jeff damals wohl empfunden hatte, war anders. Eine dieser ungestümen Erfahrungen, ein Durchbrennen – von kurzer Dauer, intensiv und wunderschön, keine Frage. Aus damaliger Sicht: die Liebe des Lebens. Aus der Zeit und dem damaligen Kontext gerissen etwas, dass rückblickend gar nicht mehr beurteilt werden kann. Hätte diese Liebe gehalten, wäre Katya, so hieß das Mädchen, damals nicht verunglückt? Wer weiß, das sind Spekulationen, Hypothesen, irrlichternde Gedanken, die keinen Halt besitzen. Für Charlotte Rampling als eine im Ego gekränkte Ehefrau sehr wohl. Und das nach 40 Jahren? Wo ist das Vertrauen hin?

Das Stigma, nur die zweite Wahl gewesen zu sein, lässt Ursache und Wirkung, lässt die sich verändernden Zeiten und das Weiterentwickeln einer längst vertrauten Person ziemlich außen vor, ignoriert es sogar. Zweite Wahl wäre es gewesen, hätte Jeff beide Frauen zur gleichen Zeit gekannt. Doch dem war nicht so. Gattin Kate kann den Unterschied nicht erkennen, ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt – und dadurch überraschend unsympathisch. Wäre ich Gatte Jeff, würde ich mich gekränkter fühlen als umgekehrt. Denn Misstrauen und Eifersucht wiegt schwerer als das Bejammern einer verschütteten Milch, die wohl süßer war als jede andere, aber nicht zwingend wohlschmeckender.

45 Years ist ein betuliches, stilles, kleines Kammerspiel, vorwiegend ein Zwei-Personenstück, das schauspielerisch tadellos funktioniert. Jedoch ist mir selten ein Film wie dieser untergekommen, dessen Prämisse sich mir so querlegt wie hier. Und eigentlich nichts erzählt, was auch nur irgendwie bereichert. Vielleicht ist das Drama bewusst so ausgelegt, aber das scheint mir dann doch nicht so gewollt.

45 Years

Willkommen in Marwen

MINIMUNDUS FÜR DIE SEELE

6,5/10

 

Untitled Robert Zemeckis Project© 2019 Universal Pictures International Germany

 

LAND: USA 2019

REGIE: ROBERT ZEMECKIS

CAST: STEVE CARRELL, LESLIE MANN, DIANE KRUGER, MERRITT WEVER, GWENDOLINE CHRISTIE, ELZA GONZÁLES U. A.

 

Einem Schulfreund von mir, dem ist ähnliches passiert. Wurde zu später Stunde an einer Imbissbude von seltsamen Typen bedrängt, die ihn auf einen Pfefferoni einladen wollten. Nach dankender Ablehnung dann eine wie aus heiterem Himmel ungebändigte Entladung hasserfüllter Aggression. Die Folge: Gesichtsfrakturen, Spitalsaufenthalt, Gerichtstermine und ein Trauma, das lange nachhält. Und überwunden werden kann, wenn man nicht allein bleibt. Therapie, Familie und Freunde, das alles kann vieles wieder gut machen, auf dem Weg zurück in den Alltag. Manch einer aber scheint so sehr zu verzweifeln, so sehr erniedrigt und gebrochen worden zu sein, dass die Erschaffung einer erdachten Reserve-Welt das einzig probate Mittel scheint. Wie bei Mark Hogencamp. Der ist einer, der war mal Illustrator mit begnadetem Talent. Und einer, der gerne Frauenschuhe trug, am liebsten High Heels. Genau weiß Hogencamp das auch nicht mehr. Aber was weiß er schon, oder besser gesagt was weiß er noch, nachdem ihm Neonazis auf offener Straße das Gedächtnis aus dem Kopf geprügelt haben. Kellnerin Wendy hat ihn dann gefunden. Und das Leben wurde ein anderes, ganz anders als zuvor.

Klingt fast ein bisschen nach In Sachen Henry. Wer sich noch erinnern kann – Harrison Ford wurde da zwar nicht halbtot geschlagen, allerdings wurde ihm in den Kopf geschossen. Willkommen in Marwen hätte eine ähnliche Leidens- und Genesungsgeschichte werden können – bewegt sich aber auf ganz anderen Pfaden und lässt sich nur bedingt mit Mike Nichols Drama vergleichen. Dieser tatsächlich existierende Hogencamp, der wusste zwar noch, wer er war, doch die feinmotorischen Skills für seine Arbeit, die waren dahin. Stattdessen hielten Furcht, Schmerz und Ohnmacht Einzug in das Leben einer wie ausgewechselten Persönlichkeit. Und irgendwann waren sie dann da: Puppen. So groß wie Barbies und meistens weiblich. Und jede von ihnen ein Äquivalent zu real existierenden Frauen, die nach besagtem Tag X an seiner Seite blieben. Letztendlich auch die neue Nachbarin, die rothaarige Nicol. Diese Puppen – die sind aber längst mehr als nur der Ausdruck einer Leidenschaft fürs Sammeln. Sie sind die Bewohner einer fiktiven belgischen Stadt namens Marwen zur Zeit des zweiten Weltkriegs. Marwen – das setzt sich zusammen aus Mar für Mark und Wen für Wendy, seiner Lebensretterin. Bedroht wird die dörfliche Idylle im Vorgarten von gewaltbereiten, fiesen Nazi-Schergen, die ungefähr das platte sinistere Charisma der Schurken aus Inglourious Basterds haben. Wer in dieser erträumten und auf Foto gebannten Parallelwelt aber zuletzt lacht, lacht am besten – Marks letztes Fünkchen Widerstand in Gestalt des mutigen US-Piloten Captain Hogie, eine Art John Wayne als Beschützer seiner selbst und all der Bewohner Marwens. Und dieses Minimundus für die Seele, dieser schreinartige Kurort, der zieht sich bis in die eigenen vier Wände und dominiert Hogencamps ganzes Dasein.

Allerdings – und das ist ein wichtiger Unterschied – nicht auf eine Weise, die mit einer Flucht vor der Realität gleichkommt. In Filmen wie Pans Labyrinth, Sucker Punch oder Mirrormask suchen vorwiegend junge Mädchen in einer von ihnen erdachten Welt als inhärenter Teil die Lösung für ihr Problem. Ebenso in Sieben Minuten nach Mitternacht oder I Kill Giants interagieren die psychisch Leidenden mit Wesen, die nur in ihrer Vorstellung existieren. Oder sagen wir so – sie sind überzeugt davon, dass sie existieren, für den Moment, ohne diese Realität hinterfragen zu wollen. Mark Hogencamp betrachtet seine Welt stets von außen, er ist Fotograf, ein Beobachter, er erdenkt das Abenteuer, welches wir sehen, als normalen kreativen Prozess, wie jeder andere Künstler auch, der Geschichten erfindet, um erlittene Kränkung zu bannen und auf eine verfremdete, simplifizierte Weise wiederholt durchzuspielen.

Robert Zemeckis, Schöpfer von Klassikern wie Forrest Gump, kennt sich mit realen Schicksalen und Grenzgängern auf alle Fälle gut aus. Und er hat eine Vorliebe dafür, mit Motion Capture zu experimentieren. Die Legende von Beowulf oder der Weihnachtsfilm Der Polarexpress waren erste Pionierarbeiten auf diesem mittlerweile ums x-fache verfeinerten Gebiet der Charakter-Animation. Mit dem Fotokünstler Hogencamp hat Zemeckis die Biographie eines Menschen aufgegriffen, der seine Katharsis selbst gewählt hat und sich so therapieren konnte. Interessant auch, wie Zemeckis sich selbst zitiert, vor allem seinen Klassiker Zurück in die Zukunft, als Wunschtraum dafür, Geschehenes ungeschehen zu machen. Im Ganzen ist die True Story für ihr Genre ungewohnt bunt, dabei durchaus berührend und irgendwie kurios, aber niemals belächelnd. Ein kleines Psychodrama aus der Vorstadt, mit einem sagenhaft guten Steve Carrell, der wie ein Protagonist aus einer Episode von Elisabeth T. Spiras Alltagsgeschichten mit seinem dackelgroßen Jeep voller Figuren die Straße entlangstolpert. Das sind an sich sehr persönliche, verletzliche Momente, die das animierte Puppentheater, das irgendwann sogar die Realität durchdringt, wie einen schützenden Vorhang umgibt. Dieser Vorhang, der mag, kennt man die Hintergründe nicht, relativ dick aufgetragen sein und nicht dem Zweck entsprechen. Mit dem trashigen Miniaturdrama, dass sich parallel oder als Teil von Hogencamps Psychogramm abspielt, kann man sich entweder identifizieren, es verstehen oder fragwürdig finden. Doch der Weg zur Befreiung von den eigenen Dämonen muss nicht gefallen. Sondern vor allem eines: er muss heilen.

Willkommen in Marwen

Oh Boy

MEIN LEBEN IST MEIN KAFFEE

7/10

 

ohboy© 2012 Filmladen

 

LAND: DEUTSCHLAND 2012

REGIE: JAN-OLE GERSTER

CAST: TOM SCHILLING, MARC HOSEMANN, FRIEDERIKE KEMPTER, JUSTUS VON DOHNÁNY, MICHAEL GWISDEK, ULRICH NOETHEN, FREDERICK LAU U. A.

 

Ich bin süchtig. Und zwar nach Kaffee. Das gebe ich offen und ehrlich zu, und wenn ich frühmorgens keinen Kaffee bekomme, kann ich mich gleich wieder niederlegen. Das ist eine Gesetzmäßigkeit, der ich wohl  jeden Tag für den Rest meines Lebens folgen werde. Dass Leute morgens lieber Tee statt Kaffee trinken, das kann ich nicht verstehen. Muss ich auch nicht. Jeder hat so sein Ding, und auch der Endzwanziger Niko, mit dem wir in Jan-Ole Gersters Stimmungsfilm viel zu spät aus den Federn kommen. Da bleibt nicht mal mehr Zeit für die Freundin, die daneben im Bett liegt. Und Kaffee geht sich auch keiner mehr aus. Was für ein ungnädiger Anfang eines Tages, der noch allerhand Seltsamkeiten mit sich bringt. In einzelnen Episoden, die untereinander eigentlich nichts miteinander zu tun haben, und nur Taugenichts Tom Schilling gemächlich wirbelnden Strömungen  gleich als roten Faden dahintreiben lassen. Beginnend mit einem Termin beim Psychologen, der Nikos Zurechnungsfähigkeit attestieren und folglich den abgenommenen Führerschein wieder aushändigen soll, begegnet der junge Tagträumer sich selbst überschätzenden Freunden, unglücklichen Nachbarn, nahen Verwandten und Schulkolleginnen, die auf den ersten Blick viel zu fremd sind. Was aber das Unbequemste des ganzen lieben langen Tages aber darstellt, und sich wie ein Steinchen im Schuh je nach Lage unangenehm bemerkbar macht, ist die Unmöglichkeit, einen Kaffee zu bekommen. Dieses Genuss-Vakuum ist wie ein Fluch für den Orientierungslosen. Der sich selbst keine Ziele setzt, sich zu nichts entschließt und es niemanden wirklich recht machen kann.

Tom Schilling hat in dem perspektivlosen Jüngling seine Paraderolle gefunden. Und Jan-Ole Gerster im frühen Jim Jarmusch womöglich sein Vorbild. Nicht von ungefähr ist Oh Boy in teils grobkörnigem, teils dem Stil urbaner Reportagefotografie nachempfundenen Schwarzweiß gehalten, ganz so wie Jarmuschs Werke Down by Law oder auch Coffee & Cigarettes. In letzterem treffen sich unter anderem Bill Murray und Steve Buscemi zum Schwatzen, während literweise das schwarze Gold fließt und geraucht wird, als gäbe es kein Morgen mehr. Und eigentlich sonst auch kaum mehr Handlung. Oh, Boy verlässt sich aber nicht nur auf seine Stimmung. Die Figur des Niko ist wie ein Freeze Frame der Generation What, eine Momentaufnahme, ein Verharren vor der freien Wahl der Möglichkeiten, ein Zögern vor der Gefahr, das Falsche aus dem Leben zu machen. Seit es in unserer westlichen Welt alles gibt, und wir machen können was wir wollen, ist die Vielfalt der Selbstverwirklichung der eigentliche Hemmschuh für manche, die sich zu nichts entschließen können. Und die vor einer Vielzahl offener Türen innehalten, um noch schnell mal am Glimmstängel zu ziehen, unverfängliche Gelegenheiten am Schopf packen oder sich vom Freundeskreis einfach mittragen lassen. Wenn das Geld dann auch noch durch die Finger rinnt, so wie die Zeit und der Tag, dann hilft nur noch Improvisation, oder die Reduktion des Willens auf das Einfachste – auf Kaffee, Zwiesprache mit sich selbst, und Gedanken, die genauso zollfrei und schrankenlos sind wie das Streben nach Erfolg in einem erfolgsbestimmten gesellschaftlichen Kontext, der gar nichts mehr anderes duldet. Schilling setzt sich diesem Selbstbeweisen noch nicht aus – oder vielleicht sogar niemals. Wie es wird, weiß weder er noch all die anderen. Dabei blickt der Junge nur um sich und sieht, was die anderen bewegt. Er selbst aber bleibt wie das Zentrum eines Karussells an Ort und Stelle – und wundert sich, wer alles seinen Weg kreuzt. Dabei hat er selbst keinen bestimmten.

Diese Leichtigkeit, dieser Flow ins Unbestimmte, ist, wie bei Jim Jarmusch, der Reiz dieses Großstadtmosaiks, dieser Liebeserklärung an Berlin, voller Melancholie und manchmal auch Mitleid. Voller Lässigkeit und irgendwie über den Dingen hängend, wie Wim Wenders´ Engel Damiel. Dabei sind die einzelnen Begegnungen in ihrem Dialog und ihrer Wechselwirkung verdichtet genug und entbehren nicht einer gewissen Faszination für das scheinbar Improvisierte und Unmittelbare. Vielleicht ist diese Unmöglichkeit des Steuerns durch den Tag genau das, was auch Niko fasziniert. Mich erfüllt das mit Sympathie und Verständnis für einen Loser, der eigentlich noch gar nichts verloren hat. Und sich womöglich nur Zeit nimmt. Zeit für einen Kaffee. Irgendwann, am Ende des Tages.

Oh Boy

The Sisters Brothers

WILDER WESTEN, UND KEINER GEHT HIN

6,5/10

 

The Sisters Brothers© 2018 The Wild Bunch

 

LAND: FRANKREICH, BELGIEN, RUMÄNIEN, SPANIEN 2018

REGIE: JACQUES AUDIARD

CAST: JOAQUIN PHOENIX, JOHN C. REILLY, JAKE GYLLENHAL, RIZ AHMED, RUTGER HAUER U. A.

 

Eine Überschlagsrechnung im Western-Genre ergibt, dass wohl die meisten Vertreter ihrer Gattung vorwiegend gut und gerne an einer Hand abzählbare bewährte Topics als dramaturgischen Unterbau heranziehen: Das sei mal allen voran die Motivation der Rache. Schillerndes und zeitloses Beispiel natürlich: Spiel mir das Lied vom Tod. Gier spielt auch noch eine tragende Rolle (The Good, the Bad and the Ugly), und zuletzt natürlich die Diskrepanz zwischen Weißen und Indianern, so wie erst letztes Jahr in dem elegischen Gewalt- und Versöhnungsdrama Hostiles mit Christian Bale. Zwischendurch gibt es aber auch Filme, die das Genre des amerikanischen Heimatfilms, wenn man so will, konterkarieren und ihm Seiten abgewinnen, die bislang selten in Betracht gezogen wurden. Die Coen-Brüder hatten mit ihrem makaber-melancholischen Episodenfilm The Ballad of Buster Scruggs (Oscarnominierung 2019 für das beste Drehbuch) die ausgetretenen Stereotypen der einsamen Cowboys verwildern lassen, und stattdessen ganz andere Schneisen geschlagen. Das Ergebnis war bemerkenswert. Der Franzose Jacques Audiard hat das verschwitze Halstuch eines John Wayne oder den speckigen Hut eines Clint Eastwood auf eine ähnliche Art von innen nach außen gekehrt. Obwohl es anfangs nicht den Anschein hat, dass da etwas ganz anderes auf uns zukommt.

The Sisters Brothers sind zwei Erfüllungsgehilfen, deren Begegnungen mit ihrer Zielperson relativ endgültig sind. Auftragskiller, wenn man so will, getarnt hinter dem bequemen Charme Durchreisender, die ihren Killerinstinkt im Griff haben und drohnengleich nur dort zuschlagen, wo die Koordinaten ihres Auftrages hinweisen. Die beiden wirken recht kauzig, leicht unterschätzbar. Beauftragt von einem mysteriösen Commodore (in einer seiner kleinsten Rollen: Rutger Hauer), reisen sie von Oregon in den Süden, um einem jungen Goldsucher namens Warm habhaft zu werden, der angeblich eine Formel für eine chemische Substanz besitzt, die Flussgold sichtbar werden lässt. Der Detektiv John Morris (hinter dichtem Bartwuchs versteckt: Jake Gyllenhal) ist bereits längst unterwegs – und soll den Jungspund finden.

Das unvermeidliche Gipfeltreffen aller vier Protagonisten findet natürlich statt, und nach klassischer Adam-Riese-Rechnung im Western-Genre führt wahrscheinlich ein astreiner Shootout zu geordneten Verhältnissen – wäre da nicht dieses Umdenken, das zumindest einige der Figuren ziemlich nachhaltig beschäftigt. John C. Reilly als Bruder Eli hat schon mal alle Gedanken voll zu tun, sich eine Zukunft jenseits von Mord und Totschlag vorzustellen. Da winkt schon das eine oder andere Mal der materielle Gegenentwurf eines gepflegten Lebens in Form einer Zahnbürste oder einer Klosettspülung, die den introvertierten Revolverhelden zu Begeisterungsstürmen hinreißen lässt. Diese Zahnbürste ist es auch, die das Räderwerk entgegengesetzter möglicher Lebensentwürfe überhaupt erst zum Laufen bringt. Das es im Westen auch anders gehen kann, ist nur noch eine Frage der Entscheidung. Des Willens. Und dem Einfluß auf andere, die das vielleicht nicht so wollen. Dieses Umdenken berauscht auch den Goldjungen Riz Ahmed. Seine Chemie ist zwar tödlich giftig, aber effizient – darüber hinaus aber steht mit all dem leicht gewonnene Reichtum die Idee einer pazifistischen Gesellschaft im Raum, die den Altruismus und das Miteinander als tägliches Soll erfüllt sehen will. Das sind natürlich Ideale, die haben in einer Welt aus Raubeinen und faustrechtlerischen Glücksrittern eigentlich nichts verloren. Doch – warum eigentlich nicht? Wie wäre das, ein achtsames Miteinander?

Patrick deWitt hat diesen Roman aus dem wilden Westen als ein Hinterfragen widerstandslos platzierter Figurenklischees konzipiert. Jacques Audiard hat dafür den richtigen Cast vereint. Obwohl das lustvolle Brechen von Erwartungshaltungen die narrativen Lassoschlingen zu zaghaft auswirft. Da scheint es, dass dem Franzosen manchmal die Zügel aus der Hand gleiten, da bekommt The Sisters Brothers eine gedankenverlorene, orientierungslose Eigendynamik. Da weiß keiner mehr, wohin man eigentlich will, was man eigentlich will. Und überhaupt: wer genau? Das Leben zu überdenken, das mag natürlich ähnliche Leerläufe nach sich ziehen, bis das Quergedachte wieder sattelfest obenauf sitzt. Das liest sich vielleicht besser, als es sich ansehen lässt. Trotz Joaquin Phoenix, der wie die weniger infantile Macho-Version eines Terence Hill einen Bud Spencer an seiner Seite hat, der will, dass Frau schöne Worte zu ihm sagt. Und ihm etwas schenkt, dass aus Liebe den Besitzer wechselt. In diesen stillen Szenen der Sehnsucht nach einem Ort der Ruhe und Geborgenheit gelingen dem eigenwilligen Western die besten Momente.

The Sisters Brothers

Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

DIE WAHREN ABENTEUER SIND IM KOPF

7,5/10

 

wieichlernte© 2019 Filmladen

 

LAND: ÖSTERREICH 2019

REGIE: RUPERT HENNING

DREHBUCH: ULI BRÉE, RUPERT HENNING

CAST: VALENTIN HAGG, KARL MARKOVICS, SABINE TIMOTEO, ANDRÉ WILMS, GERTI DRASSL, UDO SAMEL, WERNER FRIEDL, MARIANNE NENTWICH U. A.

 

Das Salto-Rückwärtskind mit Paketperücke – Die Wirklichkeit die Wirklichkeit trägt wirklich ein Forellenkleid. Und überhaupt sind die wahren Abenteuer nur im Kopf – Zeilen aus den Liedern und Texten von André Heller, seines Zeichens schillernder Poet, Phantast und kindlicher Kaiser, der es neben diversen Zaubergärten und Folklore-Projekten sowohl hier als auch jenseits des Mittelmeeres zu stilbildendem Ansehen gebracht hat. Natürlich verhält es sich mit André Heller aber auch so: man mag ihn und seine dekorative Metaphysik, oder man mag ihn eben nicht. Nun, ich muss ganz ehrlich sagen – ich mag ihn. Heller ist ein auffallend kreativer Kopf, er vereint zahlreiche Formen der Kunst auf eine gauklerhaft sichtbare, selbstverliebte Weise, die sich einer unverhohlenen, fast schon jovialen Arroganz nähert. Noch dazu, und das muss ich Heller hoch anrechnen, hat er das klassische Kasperltheater in der Wiener Urania vor dem letzten Vorhang bewahrt. Wer, wenn nicht er, hätte sich der streitbaren Zipfelmütze noch annehmen können? Zu so jemandem wie André Heller muss man aber auch erst mal werden. Womöglich auf eine Art, die in seiner autobiographisch gefärbten Erzählung Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein beschrieben wird. Wieviel davon er selbst erlebt hat, und wieviel davon einfach die Geschichte einer Familie ist, aus der Sicht des Jüngsten, das kann nur Heller selbst beurteilen. Ich darf also interpretieren, und zumindest glauben, was wohl alles dem zwölfjährigen André, der in genannter Erzählung als Alter Ego Paul Silberstein auftritt, wirklich wiederfahren ist. Jedenfalls stimmt es schon, dass Heller einer Süßwarendynastie entstammt. Doch wenn ich jetzt anfange, dessen Biographie zu recherchieren, würde dies am eigentlichen Thema vorbeilaufen, nämlich, Rupert Hennings filmgewordenes Jahrmarktspektakel näher zu bewundern. Denn um André Heller, um den geht es dann doch nur zweitrangig.

Eigentlich, und überhaupt, geht es um die Kraft des eigenen Willens, des noch so seltsamen Ichs und der unwirtlichen Verrücktheit des Lebens. Aus keiner Perspektive lässt sich das besser betrachten als aus der eines Kindes. Mit Ausnahmen, natürlich. In Die fabelhafte Welt der Amelie ist es eine junge Frau, die den Alltag zu etwas Poetischem verklärt. Mitsamt Häschenwolken, sprechenden Nachtischlampen und kauziger Schüchternheit. Aber kindliche Gemüter stecken in allen von uns, manchmal mehr, manchmal weniger. Also ist das Alter der Filmheldin oder des Filmhelden in diesen Belangen gar nicht mal so ausschlaggebend. Bei sich selbst Kind zu sein, das ist etwas, das die Essenz unserer Persönlichkeit zu fassen bekommt, das ist ein loderndes Bündel an Energie, die uns ausmacht und uns das machen lässt, was wir lieben. Das kann uns auch keiner nehmen, das ist eigentlich unkaputtbar und geschützt vor allerlei Widrigkeiten von außen. Dieses „Bei sich selbst Kind zu sein“ ist das, was sich entwickelt und für immer manifestiert, wenn wir noch unter Kuratel der Erwachsenen stehen, uns krümmen oder emporgehoben werden. Dieser Paul Silberstein, der muss sich anfangs krümmen, hat allerlei Ängste und Sorgen und hasst den Internatsalltag in der Klosterschule. Am Schlimmsten jedoch ist neben der verachtenden Diktatur der katholischen Geistlichkeit – für die sich der Film viel Zeit und Wut nimmt – der über allem wie ein Damoklesschwert schwebende Patriarch, der Horror einer Vaterfigur. Die Mutter, die verliert sich in resignativen Tagträumen, der ältere Bruder in der tröstenden Zweidimensionalität seiner Briefmarken.

Rupert Henning, Autor der Brüder-Trilogie und oftmaliger Bühnenpartner von Erwin Steinhauer, hat ein für österreichische Begriffe völlig unübliches und merkwürdiges Stück Leinwandkino entworfen, das dem Wortschatz eines Andre Heller gerecht wird und den funkelnden Hundling einer Coming of Age-Erzählung zwischen den grotesken Märchen eines Jean-Paul Jeunet und den schwelgerischen Eskapaden eines Emir Kusturica oder György Pálfi tänzeln lässt. Die Hermesvilla im Lainzer Tiergarten, die bietet für das Schicksal der Familie Silberstein eine wahrlich barocke Kulisse, so verziert und entrückt wie ein Grimm´sches Hexenhaus, darin die dunkel getäfelten Flure und die hallenartige Leere einer ignoranten Kälte, die vor allem von Vater Karl Markovics ausgeht. Der Schauspieler mutiert in ein bizarres Zerrbild eines vom Krieg traumatisierten Tyrannen, während Sabine Timoteo einen geheimnisvoll stillen Wahnsinn an den Tag legt. Erstaunlich wieder mal: der junge Valentin Hagg als zentrale Figur dieses teils schauerlichen, teils entzückenden Theaters einer Kindheit. Der Zwölfjährige outet sich hier als unbeugsamer, gewinnender Revoluzzer, der die Sympathien auf seiner Seite hat. Dessen Gedanken wir hören und den wir als Einzigen in seinem Handeln verstehen können. Der sich aber nicht in eine irreale Welt zurückzieht wie das Mädchen Ofelia aus Pans Labyrinth, sondern diese Welt herüberholt in die uns allen vertraute und einzige Realität.

Lange dauert dieser Film, aber diese Zeit muss er sich nehmen. Denn zu lernen, bei sich selbst Kind zu sein, geht nicht von heute auf morgen. Das passiert, wenn irgendwann mal alle Stricke reißen, wenn die Not Mutter neuer Gedanken wird. Und mehr noch: ganzer Gedankenkonstrukte, die mit so wegweisenden Prämissen wie Werde nicht wie all die, die du nicht sein möchtest zum Zirkus des Lebens laden. Auf und davon! ist die Devise des kleinen Paul. Diese Selbstfindung ist mitreißend, mitunter abstoßend und bizarr. Und manche Episoden, die wie Seifenblasen lose umherschwirren und kaum was bezwecken, hätten nicht sein müssen. Aber bei all den Abenteuern im Kopf, die für niemanden lesbar im Buche stehen, ist das versponnene Epos so eigenartig betörend und duftend wie der erste nachtschlafende Frühlingstraum bei offenem Fenster, wenn der Winter einer farblosen Disharmonie unter den wärmenden Lichtern einer Heller´schen Akrobatik dahinschmilzt.

Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

Körper und Seele

DIE HEILIGE MARIA DER SCHLACHTHÖFE

7/10

 

koerperundseele© 2017 Alamode Film

 

LAND: UNGARN 2017

REGIE: ILDIKO ENYEDI

CAST: ALEXANDRA BORBÉLY, MORCSÁNYI GÉZA, RÉKA TENKI U. A.

 

Ein verschneiter Wald im Nirgendwo. Es ist still, kein Verkehrslärm stört die Idylle. Inmitten junger Bäume und vor dem reinen Weiß frisch gefallenen Schnees stehen zwei Tiere – ein Hirschbock und eine Hirschkuh. Ein zartes, friedliches Bild. Sie stecken ihre Köpfe zusammen, berühren ihre Wangen, sanft und voller Achtsamkeit. Man erkennt – die beiden gehören zusammen. Was auch immer sie verbindet – es muss stark sein, transzendent, und jedem Zweifel erhaben. So vollkommen dieses Bild auch ist – in Wahrheit ist es nur ein Traum. Und sind Träume wirklich Schäume, wie man sagt? Oder ist es einfach eine andere Realität? Was würde Sigmund Freud dazu sagen? Zu diesem Film? Denn diesen Traum, den träumt in diesem ungarischen Liebesdrama nicht nur einer allein, sondern noch jemand anderes. Ein Traum für zwei. Und beide träumen haargenau das gleiche. Es ist nicht so, dass sie nur ähnliches träumen. Nein – da ist die Rollenverteilung eindeutig determiniert. Der Hirschbock ist der astrale Avatar von Endre, des Finanzdirektors eines Schlachthofes irgendwo in Ungarn. Und die Hirschkuh – sie verkörpert Maria. Die akribisch genaue Fleischkontrolleurin will allerdings nicht so genannt werden. Und auch nicht angesprochen. Und am wenigsten berührt. Denn Maria ist nicht wie alle anderen. Sie könnte an einer Form des Autismus leiden, klar diagnostiziert wird das in diesem Film aber nicht. Sie hat ein eidetisches Gedächtnis und hat Schwierigkeiten, sich sozial zu integrieren. Natürlich ist sie ist eine Außenseiterin, mit ihren hellblonden Haaren und ihrer stoischen Art fast schon ein engelsgleiches, unnahbares Wesen, dass ihr Arbeitsumfeld eher verstört als fasziniert. Oder beides? Endre jedenfalls ist erst dann so richtig von Maria angetan, als beide herausfinden, dass sie im Traum miteinander verbunden sind.

Würde der polnische Meisterregisseur Krzysztof Kieslowski noch leben, er hätte genau diesen oder einen ziemlich ähnlichen Film gemacht. Wer sein Meisterwerk Die zwei Leben der Veronika kennt, der wird wissen, was ich meine. Kieslowski war ein Virtuose, wenn es darum ging, zwischenmenschliche Gefühle auf eine Ebene zu transferieren, die das Raum-Zeit-Gefüge unserer Realität durchbrechen. In der irrlichternd-orchestralen Filmpoesie von Kieslowski entdeckt Irene Jacob eine Doppelgängerin, mit der sie emotional verbunden ist. Von so einer schicksalhaften Kohärenz sinniert auch Körper und Seele – und baut seinen zaghaften cineastischen Annäherungsversuch genau darauf auf. Diese Metaebene, die sich jeglicher rationalen Nüchternheit entzieht, ist gerade dadurch, dass sie nicht widerlegt werden kann und den X-Faktor für sich nutzt, ein philosophisches, wenngleich fatalistisches Gedankenspiel über Bestimmung und einer Seele, die multiversal existiert.

Gegenwärtig gibt es neben Alptraumdeuter David Lynch, der wohl eher in die verdrängten Nischen unserer Wahrnehmung vordringt, noch Filmschaffende wie Mike Cahill, die sich mit Vorbestimmung, Tanszendenz und der Unsterblichkeit unserer Seele beschäftigen. Cahill schuf Werke wie I Origins oder das Gedankengespinst Another Earth, wo die Philosophie eines Kieslowski weitergesponnen wird. Die Ungarin Idliko Enyedi entwirft mit Körper und Seele einen ähnlich autarken, zeit- und wortlosen Raum: eine vertraut wirkende Dimensionskapsel als Treffpunkt zweier Seelen, die wie der Vorort zu einem möglichen Jenseits anmutet. Das ist Metaphysik in seiner schönsten Form. Weniger schön ist die andere Seite der Waagschale – die des Körpers. Da eignet sich nichts besser als ein Schlachthof, der das Lebewesen auf seine physische Beschaffenheit reduziert, aber nicht, ohne Mitleid zu empfinden. Vor allem die Beobachtungen des Arbeitsalltags beim „Verarbeiten“ der Nutztiere könnten tierschutzmotivierte Vegetarier womöglich verstören – wer Bildern von sprudelndem Blut und abgetrennten Rinderköpfen aus dem Weg gehen möchte, sollte Enyedis Film vielleicht nicht unbedingt auf seine Watchlist setzen. Diese Körperlichkeit, die zieht sich als Antipode zur geheimnisvollen Traumebene durch den Film. Die wertvolle fleischliche Hülle von Tier und Mensch bleibt ein nicht zwingend austauschbares Gefäß für viel mehr und vor allem für Dinge, die wir nicht fassen können. Die sich wissenschaftlich nicht niederwerfen lassen, die Liebe nicht als chemischen, sondern als einen höheren Prozess verstehen. Der den Körper aber dennoch für unsere wahrnehmende Welt unabdingbar werden lässt.

Die Bilder aber, die Enyedi zeigt, sind was sie sind, sie bleiben unkommentiert, sind teils magisch, teils nüchtern und dokumentarisch. Körper und Seele erinnert an Thomas Stubers Supermarktromanze In den Gängen – von den Personen, von der alltäglichen Pflicht her, von den Berührungsängsten untereinander. Hier wie dort geht es um Einsamkeit und der Schwierigkeit, Vertrauen im Gegenüber zu finden. Kieslowski hätte Körper und Seele wohl noch magischer, noch verspielter werden lassen, hätte Ildiko Enyedis Inszenierungsstil etwas von seiner stockenden Schwermut genommen, die er manchmal hat. Die sich aber durch Alexandra Borbélys so faszinierende wie ungelenke Entdeckungsreise in die Welt der intimen Nähe in verstohlene Leichtigkeit wandelt. Eine Leichtigkeit, die dem instinktiven Fühlen von Tieren und Menschen folgt. Ohne Worte und am besten frei von Gedanken, die vielleicht alles zerstören könnten.

Körper und Seele

Vice – Der zweite Mann

DIE STAATEN BIN ICH

8,5/10

 

vice© 2019 Universum

 

LAND: USA 2019

REGIE: ADAM MCKAY

CAST: CHRISTIAN BALE, AMY ADAMS, STEVE CARELL, SAM ROCKWELL, EDDIE MARSAN, JESSE PLEMONS U. A.

 

Fahrenheit 9/11, oder 11/9 – wie auch immer. Mit Adam McKays Rückblick auf die politischen Umstände in den USA von den 90ern bis nach der Jahrtausendwende wird es deutlich wärmer, wenn nicht gar so heiß, dass man sich sämtlicher Scheuklappen, die womöglich erschreckende Zusammenhänge verbergen, entledigen möchte. Vice – Der zweite Mann schlägt gefühlt alle scheinbar so launigen wie persönlich gefärbten Dokusoaps eines Michael Moore um Längen, schon alleine von der Konzeption her, und ist die deutlich bessere Wahl, wenn es darum geht, die Mechanismen politisch motivierter Egomanen zu entbeinen. Vice, das ist nicht unbedingt in erster Linie die dramaturgische Passform für erlesene Schauspielkunst. Das ist es auch, aber nicht vorrangig. Vice, das ist natürlich auch eine Meinung, so wie Michael Moores Filme Meinungen vertreten. Fakten auf eine reine Objektivität herunterzubrechen, damit tut sich das Genre des erhellenden Dokumentarfilms ohnehin schwer, obwohl der Anspruch auf Unbefangenheit ein erfüllter sein will. McKay gelingt es, die Chronik der Ereignisse rund um einen schattenhaften Regierungs-VIP zumindest auf solche Art in die teils frei interpretierte True Story einzustreuen, dass sie einem Modul gleich immer noch bei Bedarf entnehmbar bleibt, wie das Corpus delicti bei einem Prozess. Natürlich kann ich mich der Richtigkeit all der Fakten nicht versichern, dazu fehlt mir die Zeit, das überlasse ich Leuten, die so tun, als wären sie Journalisten vom Kaliber eines Bob Woodward oder Carl Bernstein, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich das auch bei Adam McKay glauben. Aber Adam McKay ist ein Komiker, einer, der die erogenen Zonen der Macht ertasten kann und messerscharfe Satiren schreibt, der mit Tina Fey gemeinsam gearbeitet hat, der ähnlich unserer Staatskünstler im ORF reingewaschener Politik das Wilde herunterräumt und dabei fast schon investigativ wirkt. Diese als Semidokumentation getarnte Teilbiographie eines stillen Wüterichs ist keine reine Satire an sich, denn dann hätten wir eine Burleske wie The Death of Stalin. Eine reine Satire aus Vice zu machen wäre aber auch am Ziel vorbei, denn erschreckenderweise braucht McKay in seinem Film kaum wirklich Raum, um dramaturgischen Übertreibungen Luft zu machen. Wie schwer sich Satire tun kann, den unglaublichen Begebenheiten der realen Regierungsgeschichte Nordamerikas den Rang abzulaufen, in diesem Punkt lässt Vice ziemlich tief blicken.

Die Skandale ausgehend vom 11. September und George W. Bushs Machtdemonstration ist uns allen – eben auch spätestens seit Moores polemischem Fahrenheit 9/11 – weitestgehend bekannt. Dass der Irak vorrangig aus wirtschaftlichem Interesse okkupiert wurde und auch der Terrorist az-Zarqāwī erst durch die USA selbst erstarkte, wie zuvor schon Osama Bin Laden (der im Afghanistankrieg von den USA bis an die Zähne bewaffnet wurde), entlockt kaum mehr ein überraschtes Aha.  Dass Adam McKay seine Version des George W. aber keineswegs (wie auch all die anderen Persönlichkeiten) dem Gespött preisgibt und ihm sprichwörtlich die Hosen runterzieht, während er vor dem Volk predigt, kommt dann doch unerwartet. Der von Sam Rockwell erstaunlich gut imitierte Präsidenten-Cowboy bleibt maximal ein Naivling, eine Marionette, die glaubt, autark zu handeln, dabei aber von unsichtbaren Kräften geführt wird, deren Oberhaupt der scheinbar unscheinbare Dick Cheney sein könnte, ein lakonischer Kauz von Politiker, der sich, wäre nicht seine Frau Lynne gewesen, in jungen Jahren womöglich in den Notstand gesoffen hätte. Wir wissen, es ist anders ausgegangen, und Cheney wird sich mit dem harmlos scheinenden Äußeren eines bequemen Onkels an die Spitze der Macht aalen, wie einst und vor vielen hundert Jahren ein gewisser Thomas Cromwell, der König Heinrich VIII regieren hat lassen, allerdings nach seinem Gutdünken, und stets nah am Verrat an seinem Herren über selbigem hinwegentschieden hat, nur um sich dann wieder auf dessen angebliche Entscheidungen zu berufen. Cromwell war der Mann im Hintergrund, und gleichzeitig das Schreckgespenst einer sündenbockenden Henkerspolitik. Wir sehen: Geschichte wiederholt sich, und auch das finstere Erbe mittelalterlicher Machtgier war mit im Gepäck der ersten europäischen Siedler nach Übersee. Die Schemata sind also die gleichen, nur Cromwell wird selber Opfer seiner Politik, während Cheney scheinbar die Absolution von irgendwo oben erhält, um seine Interessen zu wahren. Mit höherer Gerechtigkeit hat das Ganze gar nichts mehr zu tun, die gibt es nicht in McKays sezierendem Drama, das die Absurdität der Tatsachen in galligen Sarkasmus kleidet, nur um nicht überzuschnappen in Anbetracht einer Paranoia auslösenden Willkür von wenigen, die das Land der unbegrenzten Möglichkeiten matt setzen. Bleibt nur noch ein Gott, der Blitze schleudert – aber das tut er nicht. Diese Ohnmacht hat schon Karl Kraus in seinem Opus Magnum Die letzten Tage der Menschheit bis zum Exzess beschrieben – und tatsächlich finden sich in Vice Szenen, die den Visionen des kritischen Denkers entnommen sein könnten. Wenn Cheney mit Rumsfeld, Wolfowitz und Powell fein diniert und das Menü, bestehend aus Angstmache, Folter und der Theorie der einheitlichen Exekutivmacht wählt, dann wähnt man sich in einer der bizarren Szenen von Kraus´ Tragödie in 5 Akten. Wenn Cheney und Ehefrau Lynn im ehelichen Bett plötzlich anfangen, in shakespeare’schen Floskeln zu sprechen, erreicht Vice satirische Spitzen von einprägsamer Wucht und schafft erst durch solche Übertreibungen, die unerhörte, scheinbar willkürliche Niedertracht wie das pochende Herz Dick Cheneys mit beiden Händen zu fassen. Das ist schon bitteres, intelligentes Kino mit Verstand und nagendem Gewissen, dazu noch ohne viel liberaler Gutmenschtümelei des Verfassers.

Was Christian Bale betrifft – der hat zum Glück nicht so viel Makeup benötigt wie letztes Jahr Gary Oldman in Die dunkelste Stunde. Bale ist ja bekannt für seine Bereitschaft zum Jojo-Schauspieler, breiter kann das Spektrum an Rollen kaum sein, wenn wir uns auf der einen Seite mal Filme wie The Machinist oder Rescue Dawn hernehmen, wo der gebürtige Waliser als Schatten seiner selbst dahinvegetiert – und auf der anderen Seite eben Filme wie Vice, wo Bale womöglich mit wenigen Kniffen bis zur Unkenntlichkeit adaptiert und mit Schmerbauch den feisten Polit-Kalifen gibt. Das ist schon eine Sensation, was da geht – und womit eigentlich das ganze Ensemble spielfreudig miteifert, wobei Sam Rockwell und Steve Carell als werteverachtender Rumsfeld Performance-Gigant Bale fast schon die Show stehlen.

Vice ist, obwohl er in der jüngeren Geschichte nach Schuldigen fischt, gerade mit dieser Vergangenheit, aus der wir lernen sollten, ein klug konstruiertes Meisterwerk, dass die Schuppen von den Augen friemelt, dass die eigene rosarote Brille putzt und mit Komplementärverstand die schmeichelnde Farbe der eigenen Verdrängung wegfiltert. Zu Recht für den Oscar als bester Film nominiert, ist dieses großartige Stück Politkino im Gewand einer Art Lebensbeichte ein wichtiger, wenn auch peinlich berührender Knüppel zwischen den Beinen einer „Weltpolizei“, die eigentlich ihr Amt missbraucht hat.

Vice – Der zweite Mann

The Happy Prince

LAST DAYS OF BEING WILDE

6/10

 

happyprince© 2000 – 2018 Concorde Filmverleih GmbH

 

LAND: DEUTSCHLAND, BELGIEN 2018

REGIE: RUPERT EVERETT

CAST: RUPERT EVERETT, COLIN FIRTH, EDWIN THOMAS, COLIN MORGAN, EMILY WATSON, TOM WILKINSON U. A.

 

Da siecht er dahin, der große Künstler. Im Hotel d´Alsace in Paris dämmert er seinem Tod entgegen, unter Beisein eines Priesters, seines engsten Vertrauten und zwei Waisenbrüdern von der Straße, die Oscar Wildes Geschichte zu Ende hören wollen. Nämlich die vom Glücklichen Prinzen. Irgendwann aber kann sich der einst so hochgelobte und verehrte Dichter nicht mehr artikulieren. Und stirbt an einer Encephalitis, zugezogen durch eine chronische Mittelohrentzündung. Die letzten Jahre im Exil waren allerdings auch schon schlimm genug, und entsprechend entbehrlich. Von Frau und Kind getrennt, von seiner Heimat Großbritannien geächtet und von seiner gesellschaftlich verbotenen Liebe zum gleichen Geschlecht zerrissen, vegetiert die wohl unglücklichste Persona Non Grata der Literatur in heruntergekommenen Vierteln von Paris und in Neapel vor sich hin, schreibt Briefe, sonst aber nichts mehr. Wegen Unzucht mit männlichen Prostituierten ins Gefängnis geworfen, kommt der Schöpfer des Dorian Gray (übrigens sein einziger Roman) und des Gespenstes von Canterville nach zwei Jahren Zwangsarbeit gebrochen und gesundheitlich angeschlagen vom Regen in die Traufe.

Der britische Theaterschauspieler und Wilde-Kenner Rupert Everett, der unter anderem auch schon in dessen Drama-Verfilmungen An Ideal Husband (Golden Globe!) und The Importance of Being Ernest die Hauptrollen verkörpert hat, widmet sich frei fabulierend und mit fotographischer Raffinesse den letzten Lebensjahren einer offensichtlich für Everett selbst sehr inspirierenden Ikone. Nicht nur übernimmt der ebenfalls homosexuelle Künstler, der sich in jungen Jahren zwecks Geldbeschaffung selbst prostituierte, die Regie für diese sehr persönliche Hommage, sondern gleich auch die Hauptrolle und macht Stephen Fry – der schon einmal, und zwar in Wilde, den eitlen Dandy mit Hang zur freien Liebe verkörpert hat – ernstzunehmende Konkurrenz. Fry hat in Brian Gilberts Film aus dem Jahre 1997 den Dichter bis zu seinem Exil nach Paris begleitet – die finsteren letzten Jahre allerdings spart er aus. Genau da setzt The Happy Prince an – und taucht seinen Abgesang, seine Anti-Biographie, seinen Kreuzweg eines Künstlers in ein emotionales Wechselbad an assoziativen Bildern, trottenden Silhouetten und spukhaften Erscheinungen, die sich nach dem Gewesenen und Verschwundenen sehnen. Everett gelingt die Verkörperung des Gebrochenen erwartungsgemäß schmeichlerisch, theatralisch überhöht, erschafft dadurch aber auch etwas rehabilitierend Heilendes, einen versöhnlichen Abschied, mit all seinen dunklen Momenten und offenen seelischen Wunden.

Erbaulich ist The Happy Prince natürlich nicht. Von einer klassischen Biographie ist auch keine Rede. Everetts Film ist wie ein wehmütiges Requiem, voller Respekt vor dem Leiden und Lieben einer öffentlichen Person, die höchsten Ruhm erfahren und den tiefsten Fall ertragen hat. Und das in einer Zeit, in der soziale Medien praktisch nicht vorhanden und Shitstorms noch lange nicht ihr schlecht artikuliertes Unwesen treiben. Feigheit vor der Schmähung anderer gab’s aber schon damals nicht. Wo jemand zum gesellschaftlichen Freiwild wird, ist die Meute schnell vereint. Eine Eigenschaft, typisch Mensch – und die Oscar Wilde an den Pranger bringt. So gesehen lässt sich in dieser psychosozialen Nachtgeschichte sowohl der Zerfall einer Berühmtheit beobachten als auch das Sitten- und Unsittenbild eines endenden Jahrhunderts. Rupert Everett mittendrin, verhaftet in einer Illusion vergangener Tage, später dann in Resignation und Agonie. Für Hardliner literaturgeschichtlicher Schwermut ein fast schon voyeuristisches Endspiel, gemeinsam mit Brian Gilberts weitaus gefälligerer Formulierung einer Lichtgestalt sind das konsequent zu Ende erzählte Fakten eines Lebens aus Licht und stark kontrastierender Schatten.

The Happy Prince

Can you ever forgive me?

FAKE IT OUT!

6/10

 

CAN YOU EVER FORGIVE ME© 2018 Twentieth Century Fox Film Corporation All Rights Reserved

 

LAND: USA 2018

REGIE: MARIELLE HELLER

CAST: MELISSA MCCARTHY, RICHARD E. GRANT, MARC EVAN JACKSON, BEN FALCONE U. A.

 

Würde ich Melissa McCarthy treffen, würde ich womöglich erkennen, dass sie gar nicht so viel anders ist als in ihren Komödien. Womöglich spricht sie, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Sagt was sie denkt, lässt sich nicht gängeln, dafür aber gerne provozieren. Und kann sicher auch ordentlich keifen. Filmemacher Ben Falcone, ihr Mann, hat das ideale Händchen für die Dame – ob das, was dabei herauskommt, anderen gefällt, ist ambivalent. In den USA kommt McCarthy ausnehmend gut an. Ihr derbes Auftreten unterhält die breite Masse – hierzulande finden wohl deutlich weniger Leute ihre ulkigen Eskapaden entsprechend witzig. Das liegt aber auch an den Filmen, die ihr an den Leib geschneidert werden. Wie hieß noch gleich diese Krimikomödie, wo sich die mollige Lady eine Einkaufstüte über den Kopf zieht? Tammy – eigentlich ein zweifelhaftes Vergnügen, wie all die anderen flapsigen Komödien unter der Fuchtel ihres Gatten. Und den Muppets-Sexkrimi The Happytime Murders habe ich mir gleich ganz verkniffen, laut den Unkenrufen diverser Rezensenten eine gute Entscheidung.

Nach all diesem Einheitsbrei klamaukiger Eskapaden war es für die von all dieser Routine gelangweilte Wuchtbrumme wohl an der Zeit, sich selbst zu beweisen, dass es auch anders gehen kann. Dass nicht nur schmissige Oneliner und slapstickhafter Overkill die einzigen Skills sind, die McCarthy beherrscht. Da gibt es doch noch die Nische mit den anspruchsvollen Rollen, die, wenn es sich anbietet, sogar noch auf wahren Begebenheiten beruhen. Mal ausprobieren! Was soll schon schiefgehen bei einem Film wie diesen, den das Leben schrieb, das wieder einmal für die kuriosesten Geschichten sorgt, die drehbuchtechnisch überhaupt verfasst werden können.

Can you ever forgive me? ist erstens die Verfilmung eines Bestsellers, und zweitens die Chronik eines meisterhaften Verbrechens. Und damit meine ich nicht das edelmütige Kavaliersvergehen wie der Diebstahl edler Artefakte, das die Oceans-Clique in diversen Hochglanzmovies verharmlost haben. Damit meine ich die Kunst des Fälschens und Feilschens. Wer kommt schon auf die Idee, die Korrespondenz von Marlene Dietrich, Noël Coward oder Dorothy Parker um einige knackig formulierte Statements zu erweitern? Wenn die wüssten, was ihnen in den Mund gelegt wurde. Womöglich hätten sie sich amüsiert gezeigt. Und hätten gestaunt, wie viel Kohle so ein Stück Papier, geschrieben auf diversen alten Schreibmaschinen und auf brüchig getrimmt, in Sammlerkreisen eigentlich machen kann. Rein durch Zufall kommt die erfolglose Biographin Lee Israel, die ihre Miete nicht mehr zahlen kann und eben fristlos entlassen wurde, weil sie eben spricht, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, auf diese moralisch fragwürdige Idee, alle Welt hinters Leselicht zu führen. Doch es ist eine Idee, die, wenn es jemand realisieren kann, relativ schnell zu reichem Ertrag führt. Und wo die Gelegenheit Diebe macht, sind manche davon auch Fälscher. Wie Lee Israel eben, aneckende Außenseiterin mit Köpfchen, die gemeinsam mit dem schwulen Lebenskünstler Jack die Sache mit den Fake-Briefen zum flächendeckenden Geschäft werden lässt.

Was Lee Israel während ihrer selbst bezeichneten „schönsten Zeit ihres Lebens“ eigentlich noch nicht wusste, ist, dass diese der Stoff für ihren späteren Durchbruch werden wird. Mit Can you ever forgive me? landete die Journalistin einen Bestseller. Ihre kriminelle Ära hat sich also im Nachhinein nochmal bezahlt gemacht. Marielle Heller (The Diary of a Teenage Girl) hat Melissa McCarthy eine Frisur Marke Vetter It verpasst, die gute Frau in relativ geschmacklose Sackkleidung gesteckt und zwischen resignierendem Trotz und resoluter Improvisation fahrig umherirren lassen. Keine Frage, die bislang genrefixierte Komödiantin macht ihre Sache gut, und in ernsten Rollen wie dieser hat sie eindeutig mehr Charisma als in ihren sonst üblichen kurzlebigen Zerrbildern emanzipierter Aufmüpfigkeit. Zu sehen, mit welcher Hingabe ihre Version der Lee Israel die Tuchent der Moral dehnt, streckt und wendet, und damit aus dem Schatten ihrer eigenen Existenzangst tritt, entbehrt nicht einer gewissen verschwörerischen Sympathie, so misanthropisch die Betrügerin auch sein mag. Ihr bis ins Detail durchdachtes Konzept der Fälschung erinnert an Dr. Fritz Knobel und dessen Hitler-Tagebücher, den Uwe Ochsenknecht in Helmut Dietls Schtonk! so süffisant verkörpert hat. Nur was in Schtonk! noch die Satire einer True Story war, gerät in Can you ever forgive me? zur trottoirschlendernden, relativ schmucklosen Dramödie zwischen Buchhandlung und Zinshaus und kämpft oft mit der Zugkraft seines Plots. Dann ist der in graubraunen Straßenstaub getauchte Film ungefähr so spannend wie das Abstauben antiquarischer Ladenhüter. Dazu stiehlt Schauspielkollege Richard E. Grant McCarthy fast schon die Show – mit seinem windigen, exaltierten Auftreten als drogenvertickender, charmanter Taugenichts zeichnet er den realen Charakter des Jack Hock detailverliebt nach. Da wirkt unsere – so wie Grant – für den Oscar nominierte Hauptdarstellerin zwischendurch manchmal von der Ambition, ihrer Rolle gerecht zu werden, sichtlich überfordert. Möglich aber, dass das Lügen und Betrügen so sehr an den Neven zerrt, dass alle Beteiligten am Ende froh sind, wenn alles ans Licht kommt. Dass die gefälschten Briefe aber irgendwann mal mindestens genauso viel wert sein werden wie die Originale der Künstler, wage ich vorsichtig zu prophezeien. Und damit meine ich ganz besonders Dorothy Parkers Brief aus dem Jenseits.

Can you ever forgive me?