Bring Her Back (2025)

STÖRE MEINE KREISE NICHT

7/10


© 2025 Sony Pictures / A24


LAND / JAHR: AUSTRALIEN, USA 2025

REGIE: DANNY & MICHAEL PHILIPPOU

DREHBUCH: DANNY PHILIPPOU, BILL HINZMAN

KAMERA: ARON MCLISKY

CAST: SALLY HAWKINS, BILLY BARRATT, SORA WONG, JONAH WREN PHILLIPS, SALLY-ANNE UPTON, MISCHA HEYWOOD, STEPHEN PHILLIPS U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Danny und Michael Philippou, bekanntgeworden auf Youtube unter dem Label RackaRacka, können es abermals nicht lassen, die menschliche Seele nach dem Tod ins Diesseits zu bemühen. Sowas hat man früher gern gemacht, mit Séancen, hierzulande als „Tischerlrücken“ bekannt. Die beiden sind nicht etwa interessiert, zu wissen, was nach dem Ableben noch auf uns zukommt; wie das Sterben selbst sich anfühlt. Das ist eine Dimension, diese zu erforschen überlassen sie gerne anderen Leuten. Was die Philippous wollen, ist, die gestorbene Identität, sofern es denn noch eine gäbe, wieder in die uns eigene Realität zurückzuholen. Die Neugier, ob dies gelänge, siegt über die Achtung der Totenruhe, heiligt aber dennoch die Mittel zum Zweck, um ganz deutlich zu signalisieren, dass man an diesen Tabus nicht rütteln soll.

Dem Tod ins Handwerk pfuschen

In Talk to Me, ihrem Regiedebüt, das erfrischend kreativ und demnach auch mit entsprechender Härte an den Horror herangeht, dient ein okkultes Artefakt, in diesem Fall eine mumifizierte Hand, als Sprachrohr für tote Seelen. Dafür schlüpfen sie in den Körper eines lebenden Individuums, um sich zu artikulieren. Solche Spielereien haben natürlich einen Pferdefuß, das ganze geht schief, der Schrecken bricht sich Bahn. Interessant dabei: Hier haben wir es nicht mit bösen Dämonen, dem Teufel oder anderen finsteren Gesellen aus der Hölle zu tun, die uns wie in Conjuring einfach nur quälen wollen. Bei den Philippous sind die Toten die Toten, und sie benehmen sich auch wie solche – abgekoppelt und dahintreibend in eine andere Welt, von der sie nicht wissen, was sie verspricht, weil das Licht sie angeblich noch nicht erreicht hat, und die daher eine brennende Sehnsucht danach verspüren, wieder in ihr altes Leben zurückzugelangen. Ganz normale Behaviours für Verstorbene, in Versuchung geführt von jenen, die sie eigentlich nichts mehr angehen. Auch in Bring Her Back sind okkulte Praktiken relativ funktionabel – in der paranormalen Welt der Philippous ist das Know-How zur Überbrückung der Dimensionen längst praxiserprobt.

Das Thema der Selbstverletzung

Was es dazu noch braucht, ist Trauer. Bittere, unheilbare, irreversible Trauer, die keinen Trost findet, es sei denn, wie der Titel schon sagt: die Verstorbene kehrt zurück. Bis zum Hals in diesem Nährboden der Erschütterung steckt Sally Hawkins als überbordend liebevolle Pflegemutter, welche die beiden elternlosen Geschwister Piper und Andy bei sich aufnimmt. Überrumpelt von all der Gastfreundschaft, wundern sich beide vorerst nur wenig ob des seltsamen Verhaltens ihres Patchwork-Bruders Ollie, der sichtlich Schwierigkeiten hat, zu kommunizieren und generell recht apathisch wirkt. Der Zuseher weiß aber längst, dass der Grund dafür in der Pervertierung von Naturgesetzen liegt, die selbst dem Paranormalen inhärent sind. Diese zu verbiegen oder gar zu brechen, davor mahnt Bring Her Back mit expliziten Bildern, die weniger versierten und geübten Horrorkinogängern durchaus aufs Gemüt schlagen könnten, ist der Bodyhorror hier doch absolut State of the Art und das Realistischste, was man seit Langem zu sehen bekam. Auffallend ist dabei, dass die Philippous schon bei ihrem Vorgänger ihren Horror in der manischen Selbstverletzung orten, ein Thema, das andere Horror-Franchises lediglich als Selbstzweck auf die Spitze treiben. Apropos: Wären diese Gewaltspitzen nicht, wäre die enorm düstere Tragödie in seiner Tonalität mühelos gleichzusetzen mit Nicholas Roegs Wenn die Gondeln Trauer tragen. Nur der Spuk hält sich in Grenzen, der lässt sich, anders als in Talk to Me, diesmal nur erahnen. Viel eher brilliert die sowieso immer famose Sally Hawkins, diesmal völlig gegen ihr Image gebürstet, in einem Psychothriller, der die Klaviatur des Suspense mit variierender Wucht nachzuspielen weiß.

Regenschwerer Psychothriller

Viel schlimmer als das Okkulte wiegt dann doch die Dreistigkeit der Manipulation und der Intrige, in der die Figur des fast achtzehnjährigen Bruders Andy (Billy Barratt) immer mehr versinkt. Vermengt mit der wahrlich erschreckenden Performance des jungen Jonah Wren Phillips ergibt das einen zwar weitaus geradlinigeren und weniger komplexeren Film als Talk to Me, dafür aber lücken- wie atemloses Schauspielkino unter nicht nur emotionalem Dauerregen. Der ideale Film also für den Übergang von Halloween zu Allerheiligen – keine leichte Kost, gnadenlos morbid, andererseits aber unerwartet emotional, melancholisch und am Ende ungemein poetisch, als hätte Del Toro (The Shape of Water mit Sally Hawkins) letztlich noch seine Finger mit im Spiel.

Bring Her Back (2025)

The Holy Boy (2025)

DEN SCHMERZ UMARMEN

9/10


© 2025 Vision Distribution

ORIGINALTITEL: LA VALLE DEI SORRISI

LAND / JAHR: ITALIEN, SLOWENIEN 2025

REGIE: PAOLO STRIPPOLI

DREHBUCH: JACOPO DEL GIUDICE, PAOLO STRIPPOLI, MILO TISSONE

KAMERA: CRISTIANO DI NICOLA

CAST: MICHELE RIONDINO, GIULIO FELTRI, PAOLO PIEROBON, ROMANA MAGGIORA VERGANO, SERGIO ROMANO, ANNA BELLATO, SANDRA TOFFOLATTI, GABRIELE BENEDETTI, ROBERT CITRAN, DIEGO NARDINI U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN 


Man kann nur hoffen. Hoffen und beten, dass The Holy Boy demnächst die Chance bekommt, das Licht der großen Leinwand zu erblicken. Ein Jammer, wenn dem nicht so wäre, schließlich sollte ein Wunderwerk nicht nur das Nischenpublikum des Slash-Filmfestivals in seinen Bann gezogen haben, sondern auch alle darüber hinaus, die sich mit den großen Fragen des Menschseins beschäftigen. Was The Holy Boy (Original: Im Tal des Lächelns) erörtert, ist nichts, was sich zwischen Tür und Angel in einem Smalltalk erledigen lässt. Hier dringen die bohrenden Fragen nach dem Sinn und Zweck von allem tief in die Dunkelheit vor, um am Ende einen leuchtenden Funken Erkenntnis zu erblicken, den damals schon der Mann aus Nazareth entzündet hat. In diesem Funken steckt das essenzielle Credo einer weltumspannenden Glaubensgemeinschaft, es ist die Rede vom Leiden in dieser Welt, das es zu ertragen gilt.

Fühlt sich gut an 

Nun gut, ich ahne schon, spätestens jetzt dürfte ich wohl alle meine Leserinnen und Leser verloren haben, die mit den Themen Kirche und Religion so gut wie gar nichts anfangen können. Das würde dann , so hoffe ich, nicht jene betreffen, die eine agnostische Herangehensweise an diese Krux zu ihrem Modus Operandi erklären, sprich: die gerne die Kirche ums Kreuz treiben und, wenn es schon der Pabst nicht versucht, die Gegenwart mit den leider gar nicht zeitlosen Dogmen in Einklang bringen wollen. Der beste Stoff, den es da zu inhalieren gibt, dürfte eben jener Film sein, der durch die Hintertüre die Bühne streithafter Exegesen entert. Bibelfest muss man dabei aber wahrlich nicht sein, viel eher reicht das Bewusstsein, dass Glaubensgruppierungen in jedweder Form dazu missbraucht werden können, zum Opium für das Volk zu werden, zur Droge, die Tür und Tor öffnet für Manipulation und Gehirnwäsche. Irgendwann erkennt man sich dabei selbst nicht mehr, so, als wäre man gesteuert durch ein machtvolles System, das beim Triggern die ganze Klaviatur der Perfidität beherrscht. Doch was soll man tun, wenn der inszenierte Glaube die ersehnte Entlastung bringt, den Kummer wegbläst und den Geist ganz still werden lässt.

Big Hugs als Schmerzmittel

Ein Wunder ist also nicht nur der Film, sondern auch die seltsame Begebenheit in dieser punktgenauen Betrachtung einer Gesellschaft, die, stellvertretend für die gesamte Menschheit, die Schwermut des Lebens gegen eine Umarmung tauscht. Dabei reicht nur eine einzige, um zumindest eine Zeit lang sorgenfrei und unbekümmert und mit einem Lächeln auf den Lippen Gott einen guten Mann sein zu lassen. Diesen „Big Hug“ holen sich die Bewohner einer norditalienischen Kleinstadt bei einem blutjungen Jesus-Ableger, der gerade mal 15 Lenze zählt und unter elterlicher Strenge tagtäglich seine Wundertaten vollbringen muss. Einmal berührt, schon erstrahlt das Rundherum heller. Diese seltsame Erfahrung macht auch Sportlehrer Sergio (Michele Riondino), der nur vorübergehend einen Job in der örtlichen Schule annimmt, allerdings schwer an ganz eigenen privaten Problemen zu kauen hat. Sobald er aber bei Matteo in den Armen liegt, scheint die Bibel doch recht gehabt zu haben. Oder doch nicht? Gilt es nun doch nicht, den Schmerz zu umarmen, sondern sich dessen zu entledigen, ohne jemals damit durch zu sein und neu daraus zu erwachsen? Wo bleibt die Katharsis?

Seelenheil um jeden Preis

Was dann folgt, ist ein Twist, der das Sinnbild des barmherzigen Samariters so sehr demontiert wie Martin Luther den Ablasshandel, bevor die Reformationskriege begannen. Was die Ignoranz nicht nur der biblischen Weisheit gegenüber, gepaart mit Bigotterie, Selbstsucht und Missbrauch, gemixt als toxisches Potpourri, zuwege bringt, eröffnet eine Apokalypse im Kleinen, ein grimmiges Gleichnis in pompösen, geradezu mächtigen Bildern – sakral, expressiv wie ein Tanztheater, abgründig wie eine Alien-Invasion, die man nicht kommen sieht und erst dann begreift, wenn alles zu spät ist. Dabei fischt Regisseur Paolo Strippoli nicht nur im Genre des Horrors, sondern vorwiegend im Tragödienhaften epischer Stoffe. Durch die dramatische Dichte an Wendungen bäumt sich The Holy Boy zu einem gespenstischen, hochintelligenten Lehrstück auf, das die Leidensfähigkeit des Menschen gleichsam hinterfragt und verfechtet. Ein radikales Wunder von Film ist hier gelungen, unerbittlich, hochemotional und durchdacht bis zum Ende.

The Holy Boy (2025)

The Assessment (2024)

TROCKENTRAINING FÜR ENDZEIT-ELTERN

6/10


© 2024 Number 9 Film Assessment Limited


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2024

REGIE: FLEUR FORTUNÉ

DREHBUCH: DAVE THOMAS, JOHN DONNELLY

CAST: ALICIA VIKANDER, ELIZABETH OLSEN, HIMESH PATEL, INDIRA VARMA, CHARLOTTE RITCHIE, MINNIE DRIVER, LEAH HARVEY, NICHOLAS PINNOCK, BENNY O. ARTHUR, MALAYA STERN TAKEDA U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Wir ging der Spruch noch gleich? Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr. Erweitert auf das Dream-Team Eltern muss man in nicht allzu ferner Zukunft das längst abgedroschene Zitat leicht adaptieren, denn nennt man ein Kind sein eigen, ist der Rest eine unter der sengenden Sonne des fatalen Klimawandels zwar verdorrte, aber gemähte Wiese. The Assessment, kopflastige Science-Fiction von Debütantin Fleur Fortuné, macht Möchtegern-Eltern nämlich das Leben zur Hölle. Oder zumindest sieben Tage lang, denn während dieses einwöchigen Prozesses müssen sich aufeinander abgestimmte Paare einem langwierigen Test unterziehen, der diesen am Ende bestenfalls die Lizenz zur Elternschaft verleihen soll. Ausgetragen wird der Nachwuchs sowieso nicht mehr im Mutterleib, denn in dieser Zukunft, in der Pragmatismus, Effizienz und Einsparung soziale Agenden verdrängt, kommt das Baby tatsächlich mit dem Storch. Soweit aber wollen wir in diesem Szenario gar nicht denken. Es sind Mia und Aaryan, die wohl der Meinung sind, die besten Eltern von allen sein zu können. In einer nicht näher definierten, vom traurigen Rest der Welt abgekapselten Elite-Ökosphäre fristen beide recht isoliert nahe am Meer in einem Luxus-Bungalow ein recht langweiliges Leben und gehen dabei ihrer Arbeit nach. Kaum ist der Antrag auf Elternschaft durch, steht eines Tages Gutachterin Virginia vor der Tür – eine, wie es scheint, recht zugeknöpfte Strenge, die hohe Ansprüche stellt. Geschicklichkeitstests wechseln mit den Worst Case-Szenarien, in denen Tante Prüferin den Satansbraten gibt. Im Laufe dieses thrillerartigen Kammerspiels mit einigen Ausflügen an die stürmisch-triste Küste stellt sich heraus, dass die Dame denkbar ungeeignet scheint, um eine Prüfung wie diese zu leiten. Ganz andere Motive stehen dahinter, wenn es heisst, familienfreundlichen Paaren alles abzuverlangen.

Elternführerschein jetzt! Angesichts der Art und Weise, wie Erziehungsberechtigte oft ihre Kinder im Griff haben oder eben gar nicht, sondern selbige nur in die Welt setzen, um das eigene Image aufzupolieren, weil sie Job mit Familie für alle sichtbar spielerisch unter einen Hut bringen wollen, wären verpflichtende Fortbildungen angesichts frappierender Ahnungslosigkeit längst an der Zeit. The Assassment nimmt sich dieses Themas an, wenngleich nicht immer mit der notwendigen Präzision und Ernsthaftigkeit. Viele Fragen stehen im Raum, die allesamt faszinierend genug sind, um diesem eigenwilligen und betont düsteren Dreiecksdrama so manch zukunftskritischen Gedanken abzugewinnen. Im Vordergrund steht die im Kontext einer verlorenen Welt verortete Kompetenz, die Folgegeneration anzuleiten. Kindheiten wie diese sehen in Zukunft anders aus als jene, die wir selbst erlebt haben oder wir unmittelbar unserem Nachwuchs mitgeben konnten. Und dennoch kaspert sich Alicia Vikander als undurchsichtige Femme fatale mit profanen Rollenspielen durch einen angezettelten Nervenkrieg, in welchem „Scarlett Witch“ Elizabeth Olsen und Himesh Patel mit konservativem Hausverstand gerade noch mitfechten können. Fleur Fortuné liegt aber sichtlich mehr daran, die eigenen Egos gegeneinander auszuspielen als tatsächlich die Erziehungspolitik einer nahen Zukunft zu hinterfragen. Das merkt man, da das Skript einige Plot Holes mit sich bringt, die am Ende des Films für Verwunderung sorgen und die Plausibilität der Ausgangssituation deutlich in Frage stellen. Ist The Assessment dann eigentlich nur eine Metapher? Worauf genau?

Bevor Fortuné und ihre Skript-Autoren es vergessen, muss natürlich, um als zeitgeistiger Problemfilm nah am Puls der Entwicklungen zu stehen, die Komponente künstlicher Intelligenz genauso mitschwingen wie der sich längst überholt habende Klimawandel. Wie man als wohlbetuchtes Ehepaar mit Kinderwunsch in einer mit falschen Prioritäten überforderten Zukunft seinen Sinn findet, mag The Assessment in satten Interieur-und Landschafts-Settings mit Für und Wieder ausloten – die breit gefächerten Ambitionen lenken aber vom eigentlichen Thema ab, das gut und gerne und eigentlich ausschließlich tiefer hätte gehen können.

The Assessment (2024)

Der Graf von Monte Christo (2024)

WER ZU SPÄT KOMMT, BESTRAFT DIE ANDEREN

7,5/10


© 2024 Panda Lichtspiele


LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE: MATTHIEU DELAPORTE, ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE

DREHBUCH: MATTHIEU DELAPORTE, ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE, NACH DEM ROMAN VON ALEXANDRE DUMAS

CAST: PIERRE NINEY, ANAÏS DEMOUSTIER, BASTIEN BOUILLON, ANAMARIA VARTOLOMEI, LAURENT LAFITTE, PIERFRANCESCO FAVINO, PATRICK MILLE, VASSILI SCHNEIDER, JULIEN DE SAINT JEAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 58 MIN


Verrat, Befreiung, Selbstfindung und Rache: Den Roman von Alexandre Dumas dem Älteren, der ungefähr in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben wurde, mag man fast schon als zweite Bibel ansehen für jene, die weniger das große Abenteuer suchen als vielmehr kurz davor stehen, angesichts prekärer Umstände aufzugeben. In Der Graf von Monte Christo steckt die ganze Wut eines Übervorteilten und Verratenen, steckt eine Welt voll der Ungerechtigkeiten – wohl kaum einem anderen literarischen Werk wohnt so sehr die Sehnsucht nach Gerechtigkeit inne, die nicht Rache genannt werden will. Rache ist viel zu plump für diesen Grafen, sie verbrennt viel zu schnell. Schließlich hätte man sie alle auch zur Strecke bringen können, diese falschen Freunde und korrupten Machtmenschen, die völlig skrupellos und bar jeder Moral die Unliebsamen und Schwachen aus dem Weg räumen. Doch der Graf hat anderes vor. Was wäre gewesen, hätte es in dieser Geschichte die Insel Monte Christo gar nicht gegeben? Hätte der frischgebacken Kapitän Edmond Dantès, der vom Nebenbuhler und besten Freund aufs Kreuz gelegt wird, jemals aus eigener Kraft diese Genugtuung erlangen können, die er letztendlich erlangen wird?

Gefühlt jeder kennt die Geschichte des Gefangenen, der sich mithilfe eines weisen italienischen Geistlichen zum Intellektuellen mausert, um dann dank glücklicher Zufälle aus seiner Isolation zu entkommen. Abbé Faria, so hieß der geheimnisvolle Häftling und Mentor Edmonds, erzählt dem um seine Existenz Gebrachten von einer geheimnisvollen Insel, von den letzten Templern und einem unermesslichen Schatz tief im Berg. Märchenhafter kann das Ganze kaum sein. Und dennoch ist es nicht mehr als ein Jackpot, ein gewaltiges Glück, so viel kann einer in einem Leben gar nicht verwerten, es sei denn, genauso viel Pech im Vorhinein hält die Balance. Mit dieser Balance kann Edmond leben und plant von langer Hand die große, schleichende Vergeltung, um all jenen das Herz zu brechen, die sein Schicksal verschuldet haben.

Und Frankreich, das feiert die letzten Jahre schon die Wiederauferstehung des französisch-klassischen Literaturfilms, der Bezug nimmt auf all die ikonischen Werke jenes Mannes, der schon Die drei Musketiere für ewig ins kulturgeschichtliche Erbe Europas hat eingehen lassen. Was für das DC- und Marvel-Universum James Gunn, sind in der alten Welt Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière. Sie sind es, die Dumas‘ Musketier-Klassiker in formschöne zwei Teile verpackt haben, die wiederum von Martin Bourboulon 2023 dynamisch und erdig verfilmt wurden – Romain Duris, Vincent Cassel oder Francois Civil sind nur einige aus dem illustren Cast. (Nebenbei bemerkt: Delaporte und Patellière sind auch die Schöpfer der Erfolgskomödie Der Vorname) Und jetzt das – jetzt gibt es das wohl komplexeste Ensemblestück in einer dreistündigen, hochkomprimierten Deluxe-Fassung; in opulenter, aber niemals zu pompöser Ausstattung. In atemberaubenden Kostümen und mit einer ganzen Reihe an Schauspielerinnen und Schauspielern, die man allesamt bereits von irgendwoher aus anderen Filmen kennt – nur welche genau, das weiß man nicht. Die Gesichter sind aber vertraut, meist hinter Bärten verborgen oder im historischen Kontext aufgedonnert. Bei Anaïs Demoustiers liebreizendem Lächeln könnte man sich, sofern gesichtet, an Der Sommer mit Anaïs erinnern. Anamaria Vartolomei kennt man aus dem Venedig-Gewinner 2012 – Das Ereignis. Laurent Lafitte und Pierfrancesco Favino – Italiens gegenwärtig wohl bekanntestes Schauspielergesicht im regulären Dienst – sind sowohl Nemesis als auch Schutzengel. Und Pierre Niney? Er (u. a. die Hauptrolle in Francois Ozons Frantz) wagt die „Mission Impossible“ dank einer raffinierten Masken-Technologie, die, würde man es realistisch betrachten, zur damaligen Zeit niemals so funktioniert hätte. Wie Der Graf von Monte Christo es hinbekommt, sich täuschend echt zu verwandeln, ist fast schon ein phantastisches Element in einem ohnehin schon sehr hochidealisierten moralistischen Epos, für welches man ein gewisses Maß an Unmöglichkeit als plausibel ansehen sollte. Dann, nur dann gelingt diese wuchtige Oper der Manipulation anderer Leute, deren wunde Punkte zur Zielscheibe werden.

Es wäre aufgrund der Fülle an Handlung das Konzept einer Miniserie deutlich entspannter gewesen, doch das Schicksal der Drei Musketiere, von welchen der zweiteTeil sang- und klanglos in der Versenkung verschwand, wollte keiner nochmal wiederholen. Drei Stunden lassen sich also zwar nicht immer bequem, aber auf hohem Level und ohne Leerlauf als packendes Epos verknuspern, aufgeladen mit hochdramatischem Score, begleitet von einer virtuoser Kamera und in atemlosem Stakkato. Dass dabei die Übersicht etwas abhandenkommt, bleibt den vielen französischen Namen geschuldet und hängt von der Geistesgegenwart des Zusehers ab, jeden auch noch so beiläufig ausgesprochenen Namen sofort seinem Konterfei zuzuordnen. Das braucht Anlaufzeit.

Zu guter Letzt: Dass es Der Graf von Monte Christo in einer noch längeren Fassung geben könnte, scheint möglich, sind doch manche Figuren, vorrangig jene der angeblichen Patentochter des Grafen, dargestellt von Vartolomei, scheinbar grundlos mit im Spiel. Man fragt sich lange, was sie hier zu suchen hat, am Ende bleiben Delaporte und Patellière die Antwort darauf nicht schuldig, wenn auch etwas spät.

Der Graf von Monte Christo (2024)

Führer und Verführer (2024)

DAS VOLK ALS MITTEL ZUM ZWECK

7/10


fuehrerundverfuehrer© 2024 Zeitsprung Pictures SWR Wild Bunch Germany / Stephan Pick


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: JOACHIM A. LANG

CAST: ROBERT STADLOBER, FRITZ KARL, FRANZISKA WEISZ, DOMINIK MARINGER, MORITZ FÜHRMANN, TILL FIRIT, CHRISTOPH FRANKEN, KATIA FELLIN, OLIVER FLEISCHER, MARTIN BERMOSER, EMANUEL FELLMER, RAPHAELA MÖST, HELENE BLECHINGER U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Da steht einer wie Herbert Kickl, so gesehen und gehört schon des Öfteren, zuletzt auf dem von der FPÖ okkupierten Viktor-Adler-Markt, und bedient sich als meisterlicher Demagoge dem Narrativ emotional getriggerter Angstzustände, um das Volk für sich zu gewinnen. Es geht hier niemals um Fakten oder um ein konstruktives Programm zur Bewältigung jener Missstände, die andere Parteien angeblich verursacht haben. Es geht darum, Feindbilder zu schaffen und das Volk zu instrumentalisieren. Für Macht und für eine rechtsgerichtete Agenda, die, würde keiner kontra geben, zu einem Horrorszenario ausarten würde.

Dass so ein Wahnsinn möglich war, lag zu einem beträchtlichen Grund an Leuten wie Joseph Goebbels, die Propaganda als zweiten Vornamen tragen und ganz genau wissen, wie Medien die Massen manipulieren können. Das weiß einer wie Kickl auch. Und so ergeht sich dieser eine ganze Generation später in wortgewaltigen Slogans und subversiven Zweizeilern, die sich gerne mal auch reimen können. Goebbels hat damals das gleiche gemacht. Und wofür? Für Adolf Hitlers Erz-Agenden, die sich um zwei Dinge drehten: Um die Auslöschung der Juden, und um die Expansion des deutschen Reiches. Die Deutschen brauchen Raum, so der Braunauer. Und anders als in vielen anderen Filmen, von Charlie Chaplins Great Dictator bis zu Oliver Hirschbiegels Der Untergang, setzt Joachim A. Lang (Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm) den wohl medientauglichsten und weltbekanntesten Despoten auf eine Weise in Szene, als wäre er der gemütliche Onkel von nebenan, der in seiner privaten Bastion am Obersalzberg seine Entourage um sich schart, seine getreuen rechten und linken Hände, die einmal neben, dann wieder vis à vis des Führers sitzen dürfen. Von der Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich bis zu den Selbstmorden im Führerbunker (die allerdings inszenatorisch ausgespart werden) reicht der semidokumentarische Streifzug durch eine Epoche. Nicht ganz, aber fast ausschließlich aus der Sicht der bösen Jungs, deren kranke Weltbilder nicht in erster Linie Thema des Films sind.

Die sind genauso gegeben wie in The Zone of Interest. Auf dieser Weltsicht errichtet, zeigt sich bei Jonathan Glazer der normale Alltag einer Nazi-Familie, die über Ausschwitz regiert. In Langs Film ist Dreh- und Angelpunkt der Propagandaminister. Wir sehen dabei Robert Stadlober mit schwarz gefärbtem Haar, Hinkebein und markanter Aussprache. Und dennoch ist der Österreicher wohl einer der augenscheinlichsten Fehlbesetzungen der letzten Zeit. Was andererseits aber nicht heisst, dass er seine Sache nicht gut macht. Stadlober hat sich noch nie so ins Zeug gelegt, er wettert und hetzt und mobilisiert die Massen, meist in brauner Uniform und die eigenwilligen Gesten der historischen Figur perfekt nachahmend. Vergleicht man seine Goebbels-Interpretation mit jener von Ulrich Matthes, wird klar: Da liegen Welten dazwischen. Wie Chaplin Hitler darstellt, so stellt Stadlober Goebbels dar: Als bizarre Mad-Karikatur eines Frauenhelden und hochtalentierten Propaganda-Virtuosen, der seinen Job nicht immer gut macht. Doch auch entlang des Weges der Überzeichnung gelangt man irgendwann zum Bildnis eines bedrohlichen Extremisten.

Diese Bedrohung vermittelt auch Fritz Karl als Hitler höchstselbst. Auch er steht anfangs unter dem Verdacht, fehlbesetzt zu sein. Letztlich zählt seine Performance zu den authentischsten, die sich von comichaften Manierismen verabschieden. Ein gemächlicher Politiker, der anfangs richtig bieder erscheint, offenbart sich im Laufe des Films als fanatischer, egomanischer Soziopath. Die erschreckende Demaskierung funktioniert besser als der Versuch, die Mechanismen von Propaganda und die Macht der Bilder und Worte zu analysieren. Dort kehrt Joachim A. Lang nur nach, wo längst aufgeräumt wurde. Mitunter ist sein Inszenierungsstil ein unfokussierter, der mal da, mal dort das NS-Regime als pädagogisches, doch simples Leitwerk für Ahnungslose zerpflückt und zerfranst. Natürlich kann Lang die Sicht des Bösen auf die Welt, welches in seiner weltfremden Blase existiert – ein Umstand, der zu vermitteln gelingt – ganz so wie Hitlers Schriftstück Mein Kampf nicht ohne Kommentare der aufklärerischen Seite einfach dastehen lassen. Zeitzeugen melden sich zu Wort und geben dem Werk seine Bestimmung. Archivaufnahmen, die nur schwer zu ertragen sind, lassen das Grauen hochkochen, finden sich allerdings auch in jeder noch so ambitionierten Universum History-Dokumentation wieder. Was Lang da gelingt, ist, rahmensprengendes Basiswissen an einen roten Faden zu heften, der Goebbels Charakter zwar beleuchtet, aber ungern in medias res geht und sich nur vage in die Eingeweide des Systems begibt. Weil man all diese Wucht nicht stemmen kann.

So bleibt das Kratzen an der Oberfläche, doch selbst direkt darunter modert ein Verderben, dass wie Sonnenbrand immer wieder akut werden kann. Diesen unmittelbaren Schrecken angesichts aktueller weltpolitischer Tendenzen als Geschichte abzutun, fällt schwer. Denn diese wiederholt sich. Und macht Führer und Verführer zu einem unbehauenen Stein, der durch die Membran der eigenen Convenience-Blase fliegt. Das hinterlässt trotz der Defizite Eindruck und Unbehagen.

Führer und Verführer (2024)

Verlorene Illusionen (2021)

DIE INFLUENCER VON DAMALS

7/10


verloreneillusionen© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

REGIE: XAVIER GIANNOLI

DREHBUCH: XAVIER GIANNOLI & JACQUES FIESCHI, NACH DEM ROMAN VON HONORÉ DE BALZAC

CAST: BENJAMIN VOISIN, CÉCILE DE FRANCE, VINCENT LACOSTE, XAVIER DOLAN, SALOMÉ DEWAELS, JEANNE BALIBAR, GÉRARD DEPARDIEU, ANDRÉ MARCON U. A.

LÄNGE: 2 STD 24 MIN


Honoré de Balzac hat es schon immer gewusst. Und wir – wir wissen das auch nicht erst seit Inseratenaffären, Chat-Nachrichten und sympathisierenden oder antipathierenden Zeitungsartikeln, die die einen pushen und die anderen fallen lassen. Wer Geld hat, schafft an. Und hat das, soweit man zurückblickt, so schon immer praktiziert. In der Verfilmung des Romans Verlorene Illusionen aus dem neunzehnten Jahrhundert und geschrieben von niemand geringerem als Honoré de Balzac, gibt es keine Untersuchungsausschüsse oder Gerichtsverhandlungen wegen falscher Aussagen. Es gibt keine Prozesse wegen Rufschädigung oder übler Nachrede. In diesem Sündenpfuhl namens Paris ist niemandem, der Einfluss hat, auch nur irgendetwas heilig. Wer den Schaden hat, hat den Spott, wer die richtigen Beziehungen, der kann sich so lange hofieren lassen, bis andere mehr bieten, bessere Beziehungen haben oder einfach die schiere spitzbübische Freude daran finden, ohne Rücksicht auf Verluste die Gesellschaft nach Gutdünken zu manipulieren, bis nicht mehr erkennbar scheint, was eigentlich dessen Meinung war.

In dieses freie Spiel der Kräfte, in diesen Ring, in dem jeder gegen jeden kämpft, Bündnisse schließt, um sie wieder zu brechen – in diese Urgewalten aus Einfluss und Redefluss wirft sich der junge, noch nicht sehr wohlhabende Dichter und Schreiberling Lucien (Benjamin Voisin) dank der gönnerhaften Verliebtheit seiner Mäzenin Louise de Bargeton (Cécile de France), die, und das darf keiner wissen, mit dem knackigen Feschak längst eine Liaison hat. Im frühen 19. Jahrhundert können amouröse Verbindungen zwischen unterschiedlichen Klassen das Gefälle im Ansehen nicht überwinden, und da Louise de Bargeton keine Lust auf jedwede Ächtung hat, bleibt das Gspusi geheim. Wie Felix Krull, der vorgab, etwas zu sein, was er nicht hat, stehen Lucien dank seiner Mäzenin manche Türen offen, um in der Haute Volée mitzumischen. Bald wird bekannt, dass der Möchtegern-Literat weniger mit seinen sperrigen Gedichten auf sich aufmerksam macht, als vielmehr mit seiner spitzen Feder, die tief in die süffisante Polemik taucht, um Snobs und VIPs zu diskreditieren. Die Zeitungen sehen sowas gerne, die Leserschaft zerreißt sich die Mäuler, der Content wird zum Gesprächsstoff – und Lucien wird bald ganz oben angekommen sein. Was einen dort oben erwartet, ist erstens von kurzer Dauer und zweitens aus fast jeder moralischen Erzählung wie das Amen im Gebet: Wer hoch steigt, wird tief fallen. Und bald nutzen ihm all seine Beziehungen nichts mehr, nicht mal die mit dem resoluten Verleger Dauriat, dem Gerard Depardieu im wahrsten Sinne des Wortes Gewicht verleiht.

Eine gewisse opulente Schwere kann man Xavier Giannolis Schicksalsschwarte von einem Film auch nicht wirklich absprechen. Statt gekleckert wird geklotzt, es biegen sich die gebohnerten Parkettböden in schmucken Hallen unter der Last des fein rausgeputzten Wer-bin-ich-wer-war-ich-Establishments, es trägt Benjamin Voisin als Lucien sein für die Öffentlichkeit erdachtes Ich zur Schau, als gäbe es kein Morgen mehr. Jenseits dieser Herrenhäuser und Prunkräume wird die Hauptstadt Frankreichs zu einem alle Werte über Bord werfenden Sodom und Gomorrha der Influencer und Follower von anno dazumal, zu einer geschichtlichen Anti-Nostalgie in üppigen Bildern, bei der man mit Erschrecken – obwohl man es längst gewusst hat – feststellt, dass die Welt niemals anders war. Dass seit jeher Meinungen gemacht wurden, Fake News verbreitet und Verlierer, die aus irgendwelchen Gründen auch immer plötzlich büßen müssen, durch den Dreck gezogen werden. Einen fast schon investigativen Gesellschaftsroman hat Balzac da geschrieben, Giannoli tischt uns die entsprechenden Bilder dazu auf, zusammengepresst auf ohnehin noch zweieinhalb Stunden, und dennoch zum Bersten voll mit Intrigen, Begehrlichkeiten und gnadenlosem Anarcho-Kapitalismus, der das ganze Räderwerk erst zum Laufen bringt. Es läuft bis heute.

Verlorene Illusionen (2021)

Saltburn (2023)

YOUR HOME IS MY CASTLE

7/10


Saltburn© 2023 Amazon Content Services LLC


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: EMERALD FENNELL

CAST: BARRY KEOGHAN, JACOB ELORDI, ROSAMUNDE PIKE, RICHARD E. GRANT, ARCHIE MADEKWE, ALISON OLIVER, CAREY MULLIGAN, PAUL RHYS, EWAN MITCHELL U. A.

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Es gibt Schauspieler, die, egal wie klar definiert ihre zu spielenden Charaktere auch sein mögen, stets einen gewissen Zweifel in Anbetracht ihrer Ambitionen hegen. Weil man Unterschwelliges, Durchtriebenes vermutet. Eine psychopathische Komponente, ein unaufgearbeitetes Trauma – schlicht etwas Verstörendes, das irgendwann ans Licht will. Zu diesen Darstellern zählen durchaus Joaquin Phoenix, ganz besonders Joel Edgerton (zuletzt in Master Gardener) und Barry Keoghan, der für seine Rolle des mit schlichtem Gemüt ausgestatteten Dominic Kearney aus The Banshees of Inisherin für den Oscar nominiert wurde. Diese Ehrung verschaffte dem sonst aus Giorgos Lanthimos Thriller The Killing of A Sacred Deer bekannten Iren auch eine Rolle in Emerald Fennells neuen, längst heiss diskutierten Film, der eben auf der Streaming-Plattform amazon prime seine Premiere erlebt: Saltburn.

Das klingt ein bisschen nach Sommer, Sonne und Salzwasser – ist es aber nicht. Saltburn ist das feudale, gigantische Anwesen der Familie Catton – so residieren müsste man mal! Das sind andere Zustände, die wohl kaum jemand von uns Normalbürgern jemals erlebt hat, außer man bucht eine Führung durch die Gemächer irgendeines der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Schlosses und kann sich an den edel ausgestatteten und mit sündteuren Wandgemälden behangenen Prunkräumen einfach nicht sattsehen. So ein herrschaftliches Paradies steht und fällt mit einer Entourage an Dienern und Lakaien, anders lässt sich Saltburn schließlich nicht erhalten. In diese Blase platzt Barry Keoghan. Diesmal ist er ein schlichter Student aus Oxford, muss auf eine entbehrungsreiche Kindheit zurückblicken und leidet unter dem höchst problematischen, asozialen Lebenswandel seiner Eltern, die nichts auf die Reihe bekommen, außer ihren Sohnemann Oliver auf die Universität zu schicken. Dort ist der junge Mann ein Außenseiter – bis er durch Zufall den allseits beliebten Felix trifft. Was eine Fahrradpanne so alles bewirken kann – man glaubt es kaum. Das Glück des einen scheint auf das des anderen abzufärben. Bald sind beide gute Freunde, Oliver im Kreise der Elite aufgenommen. Und da das Schicksal diesem Oliver nach wie vor eher bescheiden mitspielt, verstirbt auch noch dessen Vater. Um seinen neuen, vielleicht manchmal etwas nervigen Freund zu trösten, lädt er ihn über die Sommerferien auf besagtes Anwesen ein – nach Saltburn. Dort lernt Oliver Felix‘ Familie kennen: die dem Reichtum und der Langeweile unterworfenen, etwas dekadenten Eltern (realitätsverloren: Rosamunde Pike und Richard E. Grant), die promiskuitive Schwester und andere Nutznießern wie Oliver – dem ein Leben in Saus und Braus und im fast schon blaublütigen Wohlstand plötzlich offen steht. Alles ist möglich, alles ist zu haben. Man muss nur wissen, wie.

Dass während dieses Sommers alles eitel Wonne bleibt und der in den Tag hineinlebenden Gesellschaft bis zum Herbst hin die Sonne aus dem Allerwertesten scheint – davon kann man mal getrost ausgehen, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein kann. Schließlich hat Emerald Fennell in Promising Young Woman Carey Mulligan als emanzipatorischen Racheengel auf die Männerwelt losgelassen. Man darf erwarten, dass Saltburn in eine Richtung geht, die in die Dunkelheit führt – in der Intrigen, Manipulation und gute Miene zu bösem Spiel bald zur Tagesordnung gehören. In diesen zwielichtigen Dunstkreis passt Barry Keoghan wie die Made im Speck. Sein Counterpart auf Augenhöhe: Jacob Elordi, der eben als Elvis Presley in Sofia Coppolas Priscilla so richtig brilliert.

Es scheint fast so, als wäre Saltburn die Geschichte einer verbotenen Liebe – in die Richtung gehend, die etwa Guadagninos Call Me By Your Name einschlägt. Weit gefehlt. Fennell zelebriert, obwohl ihr Film in den Nuller Jahren spielt, den modernen Zeitgeist, die perfide Methodik egomanischer Ich-Gesellschaften, die, permanent um sich selbst rotierend, das höchste Gut darin sehen, aller sozialer Interaktion entledigt, das Elysium einzig im erstickenden Reichtum zu erfahren. Materialismus und Soziopathie, obsessive Liebe für den eigenen Zweck. Das gegenseitige Ausspielen aller Figuren in diesem Reigen gibt sich der Zentrifugalkraft einer Eskalationsspirale hin, und je weiter Saltburn voranschreitet, umso mehr lässt der Film eine präzise durchdachte Realität zurück, um sich einer tiefschwarzen, geradezu galligen Groteske hinzugeben, die wir zuletzt ungefähr ähnlich scharf gewetzt in Bong Joon-hos Parasite gesehen haben. Von der Immer-mehr- und Noch-besser-Gesellschaft erzählt Fennell, von den Talenten eines Mr. Ripley, der in Patricia Highsmiths Büchern alle und jeden so weit abrichten konnte, um auf den Schultern jener emporzusteigen. Die Symbolik ist bei Saltburn aber noch intensiver. Das Parasitäre, das In-Sich-Einverleiben der beneideten Elite findet seinen Ausdruck im Vampirismus, im sexuellen Fetisch. Die Blicke Barry Keoghans, meistens wie die eines Unschuldslamms, lassen ganz plötzlich das Blut in den Adern gefrieren. Seine Performance ist so unberechenbar wie subversiv – und doch weiß man bald, sehr bald schon, und zwar ganz genau, wie der Hase wohl weiterlaufen wird.

Vielleicht gerät Saltburn letzten Endes zu plakativ, wird die feine Klinge dann doch noch schartig und arbeitet den humorigen, fiesen Thriller entsprechend ab, ohne sich und andere noch überraschen zu wollen. So homogen alles begonnen hat, so derb endet es. Filme wie diese, die sich immer mehr steigern, müssen mit diesem Manko klarkommen. Saltburn gelingt es trotzdem, als verfluchte Immobilie, als vom Unglück heimgesuchtes Gemäuer, zum verlockenden Verweilen einzuladen. Solange, bis es zu spät ist. Denn den Absprung verpasst man garantiert.

Saltburn (2023)

Club Zero (2023)

NEIN, MEINE SUPPE ESS‘ ICH NICHT!

5/10


clubzero2© 2023 Coop99


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, VEREINIGTES KÖNIGREICH, DEUTSCHLAND, FRANKREICH, DÄNEMARK 2023

REGIE: JESSICA HAUSNER

DREHBUCH: GÉRALDINE BAJARD, JESSICA HAUSNER

CAST: MIA WASIKOWSKA, SIDSE BABETT KNUDSEN, ELSA ZYLBERSTEIN, MATHIEU DEMY, FLORENCE BAKER, KSENIA DEVRIENDT, LUKE BARKER, SAMUEL D. ANDERSON, GWEN CURRANT, AMIR EL-MASRY, AMANDA LAWRENCE, LUKAS TURTUR, CAMILLA RUTHERFORD U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Wohl der einzige Filmemacher, der es wirklich schafft, trotz strenger Formalitäten, übertriebener Bühnenhaftigkeit und einer immensen Affinität für streng komponierte Tableaus seine Geschichten auch aus emotionaler Sicht zum Leben zu erwecken, ist Roy Andersson (meisterhaft: Songs from the Second Floor). Niemand ist vergleichbar mit ihm, nicht mal der bis zum Exzess gehypte andere Andersson, nämlich Wes, der seine Popup-Bühnen gerne bekannten Stars überlässt, die ihm die Tür zum Studio einrennen. Vielleicht ist bei Roy Andersson die Wahl des Mediums als Kurzgeschichte die Besonderheit, auf die es ankommt, um das Publikum auch enstprechend abzuholen. Bei Jessica Hausner, die ähnlich fixe Vorstellungen zu ihren Filmen hat und weit im Vorfeld genau weiß, wie wo wer zu stehen hat und wie wo was zu platzieren ist, überstrahlt die Liebe zum Dekor so gut wie alles. Die Themen sind dabei zweitrangig, in diesem Fall wäre es die dunkle Dimension der Essstörung, des Mitläufertums und des Gruppenzwangs. Ja, vielleicht auch des Glaubens und der damit verbundenen Radikalisierung für eine Sache, die nur dann stellvertretend für den Sinn des Lebens herangezogen werden kann, wenn die manipulative Agenda auseichend greift. Wir sind nicht weit entfernt von Sektentum und religiösem Fanatismus – Mechanismen wie diese, um seine Schäfchen zu rekrutieren, müssen natürlich im Rahmen der schulischen Weiterbildung auch an die zu Lernenden weitergegeben werden, mitunter gerne im Religions- oder Ethikunterricht. Ein Film wie Club Zero könnte dabei helfen. Im Grunde nämlich ist Hausners neues, im Wettbewerb um die Goldene Palme mitgeritterter Film, genau das: Schulfernsehen, leicht verständlich in seiner Grundstruktur, doch erschreckend oberflächlich in seiner Darstellung. Fürs Anschauungsbeispiel reicht’s womöglich. Für einen abendfüllenden Spielfilm, der auf gewisse Weise zum Nachdenken anregen hätte sollen, allerdings nicht.

Dabei hat Jessica Hausner, wie schon bei ihrem Vorgänger Little Joe, auf einen internationalen Star zurückgreifen können – auf Mia Wasikowska, die sich seit Tim Burtons Alice Im Wunderland einer gewissen globalen Bekanntheit erfreuen kann. Wasikowska, mit blonder Mireille Mathieu-Frisur, im monochromen Hosenrock und farblich abgestimmter Bluse, was alles zusammen selbst wie eine Uniform wirkt, schreitet sie hoch erhobenen Hauptes durchs Schulgebäude. Sie ist Ernährungsberaterin, vertreten mit einem Kurs für achtsame Ernährung – was ja prinzipiell nichts Schlechtes ist, ganz im Gegenteil. Doch Miss Nowak – wie sie sich nennt – will natürlich etwas ganz anderes. Wenn man so will, ist sie, nicht näher charakterisiert, der Guru einer nicht näher definierten Sekte, die, auch nicht näher definiert, keinen oder mehrere Anhänger hat, so ganz glauben will man ihr letztendlich keine ihrer Aussagen. Die Mädels und Jungs allerdings, die hängen sofort an ihren Lippen, wollen abnehmen oder Punkte sammeln fürs Stipendium; wollen was Gutes für sich oder die Umwelt tun. Alles sehr ambitioniert, doch Miss Novak treibt es bald zu weit. Denn nicht umsonst heisst dieser Film hier Club Zero. Nichts essen will gelernt sein. Das Licht steht dabei nicht auf der Speisekarte.

Und so lässt Hausner ihr Ensemble übers Set spazieren, setzt es an den Tisch oder huldigt einander im Sitzkreis. Lila Hosen, Kniestrümpfe, gelbe Hemden. Alles sehr ausgesucht, alles inmitten einer nüchternen, skandinavischen Architektur, ins Bild rückt nur, was auch vorher abgesprochen war. Dann allerdings heisst es Action und die Lehrkraft drückt auf die Taste ihrer akustischen Beispielsammlung, analog zum Lehrbuch eines Englischkurses. Die Listening Comprehension beginnt, Wasikowska und Co rezitieren in laienhafter Intonation ihre Skript-Zeilen, dazwischen genügend Zeit, um all die Wörter auch sickern zu lassen, damit der Content nicht verloren geht. Warum tut Hausner das? Warum lässt sie ihr Ensemble auftreten, als wären sie rekrutiert für den öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag im Vormittagsprogramm – befangen, gestelzt und gekünstelt? Die daraus entstandenen Erkenntnisse stürzen durch offene Türen, wirklich weiter kommt man mit dieser Conclusio nicht.

Zugegeben, die von wuchtigen Percussion-Klängen untermalten Szenen haben ihre Unverwechselbarkeit gefunden – einmal hinsehen, und man weiß, es ist Hausner. Doch wie bei Anderson trägt eine übertriebene Künstlichkeit kaum dazu bei, den Figuren Tiefe, der Geschichte Strenge oder der zu vermittelnden Message die nötige Dringlichkeit zu verleihen.

Club Zero (2023)

Bird Box: Barcelona (2023)

DEN BLICK RISKIEREN

6,5/10


birdboxbarcelona© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: SPANIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: ÁLEX & DAVID PASTOR

CAST: MARIO CASAS, GEORGINA CAMPBELL, ALEJANDRA HOWARD, NAILA SCHUBERTH, LEONARDO SBARAGLIA, LOLA DUEÑAS, DIEGO CALVA, GONZALO DE CASTRO, MICHELLE JENNER U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Da brauchen wir nicht lange überlegen: Gegner, die man nicht ansehen kann, haben zumindest mal die Pole Position. Solche Kreaturen gibt es seit der Antike, nehmen wir doch nur mal die Medusa. In den Altwiener Sagen trieb der potthässliche Basilisk in den Gewölben unter der Stadt sein Unwesen – der direkte Blick auf diese obskure Mischung aus Reptil und Gockelhahn ließ so manchen Möchtegernhelden zu Stein erstarren, es sei denn, die ganz cleveren unter den Mutigen hatten einen Spiegel dabei. In Nikolai Gogols Wij-Alptraum gibt es ein Monster mit todbringenden Augen, auch das von Plinius dem älteren erstmals erwähnte Wesen namens der Katoblepas hatte diesen in die Knie zwingenden Blick. Die Conclusio lautet: Ansehen ja, vorausgesetzt, es merkt sonst keiner.

Treibt man diese Sehgewohnheiten an die Spitze, landet man eventuell bei jenem verheerenden Endzeitszenario, das aus Susanne Biers Netflix-Horror Bird Box – Schließe deine Augen bekannt ist. Lethale Entitäten haben die Erde bevölkert – erblickt man diese, will man umgehend Selbstmord begehen, am besten mit den Mitteln, die gerade zur Hand sind. Effektive Gegenmaßnahmen gibt es keine, präventiv gesehen lässt sich aber auf einige Anomalien in der Umgebung achten. Wenn sich an kaum zugigen Tagen kleine Windhosen emporzwirblen, dann kann schon um die nächste Ecke das Verderben lauern, das noch dazu mit den Stimmen der Toten redet und die Gefühle so manch panisch agierender Menschleins derart manipuliert, dass diese schließlich die Augen öffnen. Bird Box nennt sich das ganze deshalb, weil Vögel eine ganz besondere Sensibilität für Aggressoren dieser Art entwickelt haben. Sie flattern wie verrückt, wenn das Böse naht. Doch ist es das wirklich, das Böse? Jene, die sehen können, meinen: Nein.

Doch warum können sie das? Und warum beseelt sie der Drang zur Missionierung so derart stark, dass sie die letzten Überlebenden aus ihren Häusern zerren, um sie unter Anwendung von Gewalt sehen zu lassen. Allein die Vorstellung, etwas erblicken zu müssen, was ich nicht will, scheint endlos grausam. Natürlich ist das Folter.

Und so lebt die Menschheit im Blindflug vor sich hin und ist nur in den eigenen vier Wänden sicher, doch selbst dort sind blickdichte Vorhänge ein guter Rat. Vor fünf Jahren konnten Invasionsfilm-Interessierte den verzweifelten Versuchen von Sandra Bullock beiwohnen, mit ihren beiden Kindern eine als Festung aufgezogene Insel der Seligen zu erreichen, dabei bestand Bird Box zum Großteil nur aus Rückblenden und hielt überdies keinerlei Erkenntnisse parat, was diese Wesen angeht. Schadensminimierung und Survival als Film, jedoch unbefriedigend resignativ. Das sollte mit dem europäischen Spin-off Bird Box: Barcelona nun anders werden.

Zeitgleich zum Original, aber sonst mit keinem Bezug zum Schicksal Bullocks und ihrer Schützlinge, bricht auch in Spanien die Hölle los – wie überall auf der Welt. Leute killen sich, wo es nur geht. Entweder werfen sie sich vors Auto, bauen Totalschäden oder massakrieren sich, wenn das nicht schon genug war, mit den scharfkantigen Resten ihrer Fahrzeugtrümmer. Einige Zeit später – der beklemmende Zustand gehört bereits zum Alltag – streunt Sebastián (Mario Casas) gemeinsam mit seiner Tochter durchs zusammengebrochene, verwüstete Barcelona fernab jeglicher Sehenswürdigkeiten. Wie sich bald herausstellen wird, bedient sich dieser perfiden Tricks, um Mitbürger aus ihren Verschlägen zu locken, denn Sebastián ist einer, der sehen kann. Er und viele andere seiner Sorte sind als sektenhafte Prediger unterwegs, die militant ihr Ziel verfolgen. Klar ist es schwierig, einen Film wie diesen um einen Protagonisten herum zu errichten, der eigentlich auf der anderen Seite stehen sollte, doch das ist genau der Clou an der Sache, die Bird Box: Barcelona zu einem im Vergleich zum Erstling inhaltlich weitaus ergiebigeren und ambivalenteren Science-Fiction-Trip konvertiert, der so einige allseits bekannte Tropen aus dem Genre invertiert.

Die Gebrüder Álex und David Pastor, die bereits 2009 mit ihrem Pandemie-Roadmovie Carriers Erfahrungen mit dystopischen Szenarien sammeln konnten, werfen so einiges in ihren Skript-Pool, dem sie habhaft werden können. Und dass ihrer Meinung nach so manche Erwartungen des Publikums unterwandern soll. Der Schrecken ist allerdings nach wie vor nicht sichtbar – diesen Freiraum zu sichern, um die eigene Fantasie anzustrengen, mag nun ein unverrückbares Merkmal dieses Franchise sein, sollte es noch einen dritten Teil geben, der sich letztendlich damit beschäftigen wird, wie man diesen Kreaturen beikommt. Diesmal aber ist es das Sehen und Nicht-Sehen, die Läuterung eines Auserwählten, gar schlimmen Fingers, der am Ende des Tages den moralischen zu Gesicht bekommen wird. Das mag zwar auch vorhersehbar sein – und ist es auch – doch packt Bird Box: Barcelona seinen Trip in ein kompaktes Handlungsnetz, aus dem kaum etwas dramaturgisch Essenzielles durch die Maschen schlüpft.

Bird Box: Barcelona (2023)

Every Breath You Take

GESTÖRTE VERHÄLTNISSE

3/10


everybreathyoutake© 2021 Originals Factory


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: VAUGHN STEIN

CAST: CASEY AFFLECK, MICHELLE MONAGHAN, SAM CLAFLIN, INDIA EISLEY, VERONICA FERRES U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Mich würde brennend interessieren, wie denn die originale Drehbuchfassung von Schreiberling David Murray ausgesehen haben mag. Mit Sicherheit nicht so, wie sie dann tatsächlich abgesegnet worden ist. Schade darum. Vor allem auch schade, weil sich Oscarpreisträger Casey Affleck und Michelle Monaghan ganz andere Filme verdient hätten. Das Problem ist wie so oft bei den Tonnen an Scripts, die da jährlich über die Studiotische gehen: die Urfassung scheint fürs Publikum nicht gefällig genug. Natürlich sind viele auch unausgegoren und bedürfen einer Anpassung. Einige sind auch wirklich mies, da hilft nicht mal mehr eine Revision durch andere. Warum allerdings Drehbücher dahingehend verschlimmbessert werden, indem verbrauchte Formeln aus Plots, die wir bereits aus den Achtzigern kennen, zum Kitten dramaturgischer Schwächen herangezogen werden, bleibt unbeantwortet.

Immerhin – einen Teil des nötigen Kleingelds für diesen Film hat gar Veronika Fernes beigesteuert – und sich gleich eine Nebenrolle reserviert, in welcher sie auf Augenhöhe mit Casey Affleck kommuniziert. Hilft aber alles nichts: Every Breath You Take (Danke an The Police an dieser Stelle) ist ein Psychothriller, der etwas trist und unter bewölktem Himmel dazu einlädt, im Bett zu bleiben. Diese Tristesse ist ja prinzipiell mal kein Fehler, da sie zumindest mal die Gefühlslage der Protagonisten widerspiegelt, die als Ehepaar den Tod ihres Sohnes zu betrauern haben. Klar kommt man über sowas nie hinweg, zumindest hält noch die pubertäre Tochter nach außen hin ein gewisses Familienidyll aufrecht. Papa Affleck ist, gefangen in seiner Melancholie, noch dazu Psychiater, der eines Tages den überraschenden Selbstmord einer seiner Patienten, einer jungen Frau, akzeptieren muss. Wenig später drängt sich deren verschollener Bruder ins Bild, der nicht weiß wohin mit dem Erbe und irgendwann, keiner hat es kommen sehen, bei Familie Psychiater ein und ausgeht, sehr zur Freude der Tochter, die den verständnisvollen Schönen (ein stereotyper Sam Claflin) fast schon auf penetrante Weise anhimmelt. Als Zuseher merkt man bald: da kann was nicht stimmen. Denn immer, egal in welchem Psychothriller, ist der oder diejenige, die völlig grundlos das Vertrauen eines arglosen Haushalts gewinnen will, selten aus Gutherzigkeit auf so einem Trip. Die wahren Gründe sind mannigfaltig, aber auch da gibt es einen gemeinsamen Nenner: den des Psychopathen.

Alles kein Geheimnis, und so viel manipulatives Gebaren von außerhalb fällt bei einer dysfunktionalen Familie wie dieser auf fruchtbaren Boden. Es wundert nur, dass diese noch nie einen Hollywoodthriller gesehen hat, sonst würde ihr manches bekannt vorkommen. Und so entwickeln sich die Dinge, wie sie zu erwarten sind, und Casey Affleck würde wahnsinnig gerne mal entspannen, so kraftlos will er den Haussegen gerade richten, wenn schon Monaghan nichts dazu beiträgt, außer dass sie leidet und sich nach Liebe sehnt. Wer jetzt noch nicht in die Küche gegangen ist, um sich ein zweites Bier zu holen, ohne die Pausetaste zu drücken, wird womöglich beim Showdown wieder auf der Couch sitzen. Der fällt so dermaßen hanebüchen aus, dass er gleich das ganze mühsam errichtete, schwerfällige Kartenhaus aus grauem Familiendrama mitreißt und unter seinen Klischees begräbt.

Every Breath You Take