Der Brutalist (2024)

DAS LEBEN IST EINE BAUSTELLE

5/10


© 2024 Universal Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA, UNGARN 2024

REGIE: BRADY CORBET

DREHBUCH: BRADY CORBET, MONA FASTVOLD

CAST: ADRIEN BRODY, GUY PEARCE, FELICITY JONES, JOE ALWYN, ISAACH DE BANKOLÉ, ALESSANDRO NIVOLA, RAFFEY CASSIDY, STACY MARTIN, EMMA LAIRD, MICHAEL EPP, JONATHAN HYDE U. A.

LÄNGE: 3 STD 35 MIN


Da stehe – oder besser gesagt sitze ich – im dunklen Kinosaal, und zwar so lange, dass mir der Allerwerteste schon schmerzt, vor einem Problem, das ich als Grundproblem bei der Betrachtung von Filmen erachte, die durch internationale Kritikerlorbeeren niemals auch nur anders betrachtet werden wollen als vollendet. Für zehn Oscars nominiert, begleiten Der Brutalist Pressestimmen, die wie folgt klingen: „Ein monumentales Meisterwerk von nahezu unendlicher Schönheit“, schreibt Christoph Petersen von filmstarts. „Der zehnfach nominierte Oscarfavorit ist jene Art von Film, wie es ihn nur alle paar Jahre im Kino gibt“, schreibt Jakob Bierbaumer im österreichischen Medienmagazin TV Media. „Ein Film voller Leidenschaft, der in seiner Kühnheit vertraute Sehgewohnheiten sprengt“, schreibt Ralf Blau in der aktuellen Ausgabe von cinema. Blau umschreibt den Film aber bereits schon etwas differenzierter und räumt ein, ihn sowohl minimalistisch als auch monumental zu erachten.

Bei solchen Lorbeeren wappnet man sich natürlich im Vorfeld, demnächst einem Kinoereignis beizuwohnen, das einem die Sprache verschlagen wird. Doch andererseits: Erreichen diese gezielt marketingtauglichen Lobhudeleien manchmal nicht genau das Gegenteil? Kann man denn glauben, was man liest? Macht dieser Review-Aktivismus Kinogeherinnen und Kinogeher, die diese Kunstform regelmäßig genießen und schon viel gesehen haben, nicht eigentlich skeptischer? Letzten Endes wäre Skepsis bei Sichtung eines minimalistischen Monumentalfilms wie Der Brutalist durchaus angebracht gewesen. Vielleicht, um nicht enttäuscht zu werden, wenn man im Vorhinein erwartet, künstlerisch und qualitativ, und das im positiven Sinn, geplättet zu werden. Filme wie Der Brutalist manipulieren und dekonstruieren die Erwartungshaltungen – die gibt es gerade hier in unterschiedlichsten Formen und Varianten. Letzten Endes ist Brady Corbets über einen langen Zeitraum erdachte und entwickelte Pseudo-Biographie genauso wie einer dieser brutalistischen Gebäude-Klötze, die der fiktive Flüchtling László Tóth bereits errichtet hat und errichtet haben wird: reduktionistisch, avantgardistisch, kühl und unnahbar. Tóth wird in Der Brutalist, der sich sonst allerdings vor historisch korrektem Hintergrund bewegt, in einer alternativen Realität zu einem weltweit angesehenen Zampano in Sachen Architektur. Das war er schon vor dem Krieg, und wird es wieder nach dem Krieg sein. Nur wo und wie, wird Corbet in diesem Film auf einer Länge von über dreieinhalb Stunden beantworten wollen. Ist diese Länge für diese Erzählung denn gerechtfertigt? Nein.

Während das letzte Dreistunden-Epos, nämlich Der Graf von Monte Christo, trotz seiner Laufzeit fast schon nicht mehr wusste, wohin mit seiner Handlung, erhält Brady Corbet, der bereits Natalie Portman in Vox Lux als schwer fassbare Operrolle inszenierte, für sein Werk genug Raum, um sich auszudehnen und seine psychosoziale Nachkriegsstudie aufzublasen. Das tut er auch, er kleckert dabei nicht, sondern klotzt im wahrsten Sinne des Wortes. Der Baugrund ist enorm, man blickt in alle Richtungen bis zum Horizont und noch weiter. Im Zentrum dieser Fläche soll das Einzelschicksal eines jüdischen Architektur-Genies errichtet werden, dass fast schon verloren wirkt und die Traumata des Konzentrationslagers, des Weltkriegs und der Flucht in sich trägt. Es werden diesem László Tóth ganz andere Betonblöcke in den Weg gelegt werden, nämlich jene des Neuanfangs, der Integration und der Selbstbehauptung. Was man dabei nicht vergessen darf: Es gibt auch noch Ehefrau Erzsébet und die rätselhafte, weil anfangs mutistische Nichte Zsófia, die Schwierigkeiten haben, auszureisen. Auf die beiden muss László jahrelang warten, währenddessen aber belohnt ihn das Schicksal in Gestalt eines wohlhabenden Unternehmers namens Harrison Lee van Buren, der seine Zeit braucht, um zu begreifen, welchen Nutzen der Jude für ihn haben kann – und diesen als Haus- und Hofarchitekt für ein Mega-Projekt nahe Philadelphia engagiert.

Der Brutalismus selbst mag ein Architekturstil sein, der ab 1950 mit mehreren Ausrufezeichen hintendran darum bemüht war, im Stechschritt Richtung Moderne alles Gestrige hinter sich zu lassen. Dieses Gestrige war schließlich hässlich genug, also auf zu neuen Ufern. Ob es ein Stil war, der breitenwirksam Gefallen gefunden hat? Wohl eher weniger. Dafür aber hat diese Andersartigkeit mit Sicherheit fasziniert, kann man bei solchen Konstrukten – ähnlich wie bei Unfällen – einfach nicht mehr wegsehen. Dieses Gestrige hat die von Adrien Brody meisterhaft gespielte Figur schon in Europa versucht, hinter sich zu lassen, jetzt schleppt er die Innovation im Doppelpack mit einem zerrütteten Altleben in die neue Welt – in eine Gesellschaft, die längst nicht mehr das Land unbegrenzter Möglichkeiten verkörpert und jüdische Immigranten wie diesen da maximal duldet, sofern sie von Nutzen sind. Dieses toxische Kräftemessen zwischen Neuanfang und etabliertem Establishment rückt Corbet in den Mittelpunkt, braucht dafür Platz und den künstlerischen Willen, sowohl das epische Erzählkino eines Sergio Leone (Es war einmal in Amerika) oder Bernardo Bertolucci (1900 – Gewalt, Macht, Leidenschaft) stilistisch aufzugreifen als auch mit den Methoden weitestgehend unabhängiger Autorenfilmer bewährte Erzählstrukturen aufzubrechen.

Beide Ansätze stehen sich im Weg. Monumental an Der Brutalist bleibt lediglich die Laufzeit, der Konflikt zwischen Brody und Guy Pearce, der meines Erachtens nach seiner diabolischen Rolle des übersättigten Machtmenschen nur schwer das nötige Charisma entlockt, ist so bruchstückhaft wie alle anderen szenischen Teile des Films. Anfangs gelingt Corbet noch ein dramaturgischer Aufbau, er bringt die Situation ins Rollen, die Thematik rund um Cousin Attila (Alessandro Nivola) gestaltet sich vielversprechend und deutlich interessanter, doch Nivola verschwindet von der Bildfläche viel zu früh, während Felicity Jones viel zu spät auf der Bildfläche erscheint – auch sie stets bemüht, ihrer Rolle Würde, Verletzlichkeit und Inbrunst zu verleihen. Das Timing des Erscheinens und Abtretens so manchen Charakters lässt immer wieder eine Leere zurück, die Brody auffüllen muss, daher wirken viele Szenen wie Bauelemente auf einem Grundstück, die schon mal da sind, aber noch nicht verarbeitet werden können. Dazwischen wortlastige Dialoge ohne driftigem Mehrwert, sie treiben den Film in die satte Überlänge, ohne Notwendigkeit.

Selbst epische Filme so wie wir sie kennen haben eine gewisse dramaturgische Topographie, doch Der Brutalist lässt diese tiefen Täler und reizvollen Höhepunkte vermissen. Auch will er alles Mögliche in sein Werk hineinpacken, darunter nicht unwesentlich Lászlós Drogensucht. So gesehen wird Der Brutalist immer mehr zum Drogendrama und schwächelt dabei als Künstlerdrama mit Migrationshintergrund. Schon klar, das eine kann nicht ohne dem anderen, doch unterm Strich möchte Der Brutalist sein Publikum nicht abholen, sondern will erarbeitet werden. Der Oscar-Favorit ist somit ein sperriges, klobiges Baustellenkino, unfertig und lückenhaft, ein hartes Stück Arbeit, kein einfaches Werk – und nein, das soll es auch gar nicht sein. Doch die Wahrscheinlichkeit, letztlich irgendwann nicht mehr an dieser „Oper im Dschungel“ mitkonstruieren zu wollen wie seinerzeit Fitzcarraldo, ist dementsprechend hoch. Dabei von „nahezu unendlicher Schönheit“ zu schwärmen – dafür fehlt mir die Sichtweise und auch die Vorstellungskraft. Der Brutalist ist manchesmal, und vorallem in der Wahl seines Scores, gewaltig und großformatig, lässt Adrien Brody vor Kraft nur so strotzen, gilt aber wahrlich nicht als schön, genauso wenig wie der Baustil selbst.

Der Brutalist (2024)

Disco Boy (2023)

TANZEN IM RHYTHMUS DES GEGNERS

5,5/10


discoboy© 2023 FILMS GRAND HUIT – DUGONG FILMS – PANACHE PRODUCTIONS ET LA COMPAGNIE


LAND / JAHR: FRANKREICH, POLEN, BELGIEN, ITALIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: GIACOMO ABBRUZZESE

CAST: FRANZ ROGOWSKI, MORR N’DIAYE, LAETITIA KY, LEON LUČEV, MATTEO OLIVETTI, ROBERT WIECKIEWICZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Bevor die Vorstellung beginnt, folgender Verweis: Epileptiker seien gewarnt vor starkem Stroboskoplicht während der Ausstrahlung des Films. Tatsächlich sind die Szenen, die dem titelgebenden Disco Boy in Aktion zeigen, äußerst dünn gesät – und die blinkenden Lichter, die das Auge malträtieren, glänzen durch schonende Abwesenheit. Denn Franz Rogowski hat als Weißrusse Aleksej mit Ausdruckstanz vor rhythmisch kreisendem Gefolge herzlich wenig am Hut. Diesen Traum träumt jemand ganz anderer. Beide werden im Laufe der Geschichte aufeinandertreffen, diese Begegnung wird Lebenswelten über den Haufen werfen. Am Ende werden sich die Fremden geborgen fühlen und die Geborgenen fremd, es ist ein assoziatives Spiel mit Träumen, Erscheinungen und Astralreisen. Wenn man es auf US-banalen Fantasyklamauk herunterbrechen würde, wäre der vergleich mit Freaky Friday als Arthouse-Kinoversion für vermeintlich Intellektuelle gar nicht mal so verkehrt.

Mit dem Wechselspiel zwischen den Identitäten haben sich schon wunderbare Filmwerke machen lassen. Disco Boy gehört nicht zwingend dazu. Er nimmt seine Geschichte, obwohl humorbefreit, nicht ganz so ernst, wie er uns, seinem Publikum, weismachen will. Hinter dem Metaphysischen der Existenz liegt die banale Welt eines Zauberspiels, das mit im wahrsten Sinne des Wortes überaus augenscheinlicher Symbolik spielt.

Dieser Aleksej also schafft es über Polen bis nach Frankreich, dort treibt es ihn zuallererst ins Rekrutenbüro der Fremdenlegion. Dort, so sagt der Film, können selbst illegal Eingewanderte ihren Dienst in die gute Sache von Frankreichs Militärmacht stellen. Nach fünf Jahren des Überlebens winkt die französische Staatsbürgerschaft und ein wohlklingend frankophoner Name. Nur bis dahin heisst es ins saftige Gras des Dschungels beißen, wenn es zum Beispiel nach Nigeria geht, um französische Geschäftsmänner aus den Klauen der Rebellengruppe MEND (Movement of the Emancipation of Niger Delta) zu befreien. Aleksej macht seine Sache gut, alles sieht danach aus, als hätten wir es mit feuchtheißer Dschungelaction zu tun, doch der Schein trügt. Auf der anderen Seite steht schließlich Jomo (Korr N’Diae), Anführer der Gruppe und dessen Schwester Udoka (Laetitia Ky), die schon längst von hier fortwill. Beiden ist eigen, dass sie unterschiedlich gefärbte Augen haben, eines hell, das andere dunkel. Als Aleksej dann im Dickicht des nächtlichen Dschungels auf Jomo trifft, gibt’s für einen von beiden kein Morgen mehr. Was dann passiert, entzieht sich jeglicher Realität, wie so oft in diesem vom Geisterglauben und dem Transzendentem durchdrungenen Afrika, dass, auch schon wie in Omen, die Tore zu diversen Zwischenwelten offenhält.

Fremde in der Fremde, die in die Fremde gehen. Giaccomo Abbruzzese erzählt in seinem Spielfilmdebüt eine entrückte Fabel mit schönen, aber uninspirierten Bildern. Afrikanischer Kitsch trifft auf Expendables, ein selbstbewusster Stil will sich nicht so recht durcharbeiten durch all das fantastisch-reale Flirren. Es ist ein Effekt, den man ab und an in den Filmen von Werner Herzog entdeckt – sperrige Sequenzen mühen den Zuseher ab, obwohl der Plot per se gar keine Anstrengung erfordert. Prätentiös wäre das richtige Wort, Bescheidenheit in diesem astralen Konflikt entspricht nicht den Sehnsüchten der beiden Männer, um die es hier geht. Die Sehnsucht nach einem alternativen Lebensentwurf und die Möglichkeit, diesen auch zu praktizieren, treibt die Fremden alle um. Viel mehr weiß Abbruzzese dann nicht mehr zu berichten. Weit vor Mitte des Films wird klar, welche Richtung das metamorphe Schicksal einschlagen wird. Viel Mühe macht sich Disco Boy nicht, im Streben nach einer schmucken Fassade für sein Existenzdrama scheut der Film aber nie zurück. Die Möglichkeit, etwas tiefer in diesen Kosmos einzudringen, wird verweht, als hätte Disco Boy zwei eigene Türsteher, die unsereins nicht einlassen. Gerne hätte ich mehr von Udoka erfahren. Schöner wäre es gewesen, Rogowski und eben jene aparte Gestalt im Gewissenkonflikt aufeinandertreffen zu lassen. Das Simple jedoch obsiegt. Der Look, obgleich unnahbar, sitzt. Erfüllte Sehnsüchte fühlen sich anders an.

Disco Boy (2023)

Ich Capitano (2023)

MOSES DER MIGRANTEN

6,5/10


ichcapitano© 2023 Greta De Lazzaris / X Verleih AG


ORIGINALTITEL: IO CAPITANO

LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN 2023

REGIE: MATTEO GARRONE

DREHBUCH: MATTEO GARRONE, MASSIMO GAUDIOSO, MASSIMO CECCHERINI, ANDREA TAGILAFERRI

CAST: SEYDOU SARR, MOUSTAPHA FALL, ISSAKA SAWAGODO, HICHEM YACOUBI, DOODOU SAGNA, KHADY SY, VENUS GUEYE, CHEICK OUMAR DIAW, BAMAR KANE U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Willkommen im Flüchtlingszeitalter. Dabei gab es dieses Phänomen der Migration schon, seit es Menschen gibt, betrachte man nur die Umwälzungen während der Völkerwanderung. Heutzutage sind es wieder mal Kriege im Nahen und europäischen Osten, die dazu geführt haben, dass von Syrien bis in den Iran Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen. Die Rede ist von Flüchtlingen, die gar nicht anders können, als ihre eigene Haut retten zu müssen. Und dann gibt es jene, die weder verfolgt noch diskriminiert noch anderweitig bedroht werden, aber dennoch nicht hinnehmen wollen, in einem Land zu leben, das keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten bietet. In Anbetracht dieser ernüchternden Umstände erscheint das nicht allzu ferne Europa als ein Land, in dem Milch und Honig fließen, als gelobter Boden, auf dem alles machbar scheint. Ganz egal, wer oder was Entwicklungsländern dieses Bild vermittelt – das Ideal eines paradiesischen Europas kann so nicht stimmen. Aufklärungsarbeit hinsichtlich dessen zu leisten, was Europa im Idealfall versprechen könnte und wieviel gleichzeitig auch nicht, könnte manchen Young Adult wie in Matteo Garrones Film vielleicht nochmal darüber reflektieren lassen, was im eigenen Land nicht vielleicht doch alles möglich wäre – und ob es die Reise ins Ungewisse wirklich lohnt, um dann, irgendwo weit weg von Heimat, Familie und allem Vertrauten, in einem Asylheim auszuharren, während der Traum von Reichtum und Ruhm zusehends verblasst.

Diese naive Vorstellung vom Leben in Saus und Braus als Star der Musikbranche treibt den 16jährigen Seydou dazu an, gemeinsam mit seinem Cousin Moussa die Hauptstadt des Senegal und somit auch die Familie zu verlassen, um ein besseres Leben zu beginnen. Dabei ist jenes in Afrika nun mal nicht das Schlechteste. Zugegeben, das Zuhause könnte ein Upgrade vertragen, beim Lebensstandard gäbe es Luft nach oben. Doch mit Ehrgeiz, Willenskraft und all dem Ersparten, dass Seydou und Moussa ohnehin zur Seite gelegt haben, könnte man es auch im Senegal zu etwas bringen, Beziehungen gäbe es genug. Den beiden ist das zu wenig. Europa ist das Ziel, und dafür würden alle Gefahren dieser Welt sie nicht aufhalten. So beginnt eine abenteuerliche Reise quer über die Nordhälfte des afrikanischen Kontinents – über Mali, den Niger bis nach Libyen und von dort sollte es per Flüchtlingsboot nach Italien gehen. Eine Entbehrung folgt der nächsten, der Marsch durch die Wüste wird zu einem Gewaltakt und eine Probe auf Leben und Tod. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, werden Seydou und Moussa von libyschen Banditen überfallen, der eine kommt ins Gefängnis, der andere wird in die Sklaverei verkauft. Eine Prüfung folgt der nächsten, am Ende mag Seydou die Verantwortung tragen für ein Schiff voller Menschen. Ich Capitano wird der Teenager über die Köpfe seiner Schützlinge brüllen – er wird sich fühlen wie Moses, der eine Gefolgschaft ins gelobte Land führt.

Matteo Garrones entbehrungsreiches, üppig bebildertes Roadmovie war dieses Jahr für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Eine Auszeichnung, die gerechtfertigt ist? Es kommt darauf an, zu welchen Gedankengängen das Werk inspiriert.

Garrone ist einer, der in seinen Werken stets in sattem Naturalismus schwelgt, der nicht selten in rauer Gewalttätigkeit mündet. Seine Macht-Parabel Dogman ist schwere Kost, alternativ dazu gelingt ihn mit seinen düster-vernebelten Interpretationen barocker italienischer Märchen (Das Märchen der Märchen) und Collodis Volksklassiker Pinocchio eine Abkehr von schmeichelnder Lieblichkeit hin zu einem blutig-bizarren Maskenball. Ich Capitano zögert an manchen Stellen auch nicht, deftig auszuteilen, was insbesondere die Darstellung der libyschen Gefangenschaft betrifft. Darüber hinaus aber könnte man Garrones Direktheit fast schon vermissen. Die Reise seines alttestamentarischen Auserwählten überwindet zwar allerhand Hürden, doch die helfende Hand von etwas übergeordnet Schamanistischem scheint den jungen Seydou voranzuschubsen. Knallharter Kinorealismus sucht man vergeblich, auch wenn sich alles und zumindest visuell so anfühlt, als wäre es das. Ich Capitano ist immer noch entrückt magisch, wie eine leicht verschobene, beinharte Realität, und es ist nie klar zu sagen, ob die metaphysischen Elemente des Films Garrones Universum tatsächlich durchdringen oder nur Träumereien sind.

Letztlich ist es kaum zu glauben, dass diese Odyssee wirklich gelingt. Als zu simpel stellt der Film manches dar, der Hang zur Romantisierung ist unverkennbar. Was aber nicht heisst, dass Ich Capitano nicht weiß, wie er sein Publikum packt. Die Fahrt übers Meer gestaltet sich als kakophonisches Chaos aus darbenden Menschen, denen Seydou den Segen bringt. So etwas in Szene zu setzen bedarf Können, und Garrone sind dahinsichtlich meisterhafte Momente wohlwollenden Pathos gelungen, der sich dadurch in Zaum hält, das Schicksal einer Eroberung Europas nicht auszuerzählen.

Ich Capitano (2023)

Der Mann, der seine Haut verkaufte (2020)

DIE FREIHEIT DER KUNST

6/10


dermannderseinehautverkaufte© 2020 eksystent filmverleih


LAND / JAHR: TUNESIEN, FRANKREICH, BELGIEN, DEUTSCHLAND, SCHWEDEN 2020

BUCH / REGIE: KAOUTHER BEN HANIA

CAST: YAHYA MAHAYNI, DEA LIANE, KOEN DE BOUW, MONICA BELLUCCI, RUPERT WYNNE-JAMES, HUSAM CHADAT U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Wenn man länger drüber nachdenkt, verwundert es einerseits nicht – andererseits fühlt es sich nicht ganz richtig an: Dass Kunstwerke mehr wert sind als ein Menschenleben. Vielleicht, weil diese Kunstwerke immer nur Unikate sind. Und der Mensch nicht als Individuum, sondern nur als ein Exemplar immer derselben Spezies betrachtet wird, und das alleine deswegen, weil man nichts über die Biographien der jeweiligen Menschen kennt. Dann würde sich herausstellen, dass jeder von ihnen genauso einzigartig ist wie eines dieser um Millionen Euro gehandelten Exponate, die frei von irgendwelchen Beschränkungen durch die Welt tingeln, ohne Angst haben zu müssen, ausgestoßen, zurückgewiesen oder misshandelt zu werden. Immerhin sind diese Werke hoch versichert.

Doch machen wir mal die Probe aufs Exempel. Mit einem Film, der 2021 für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert war: Der Mann, der seine Haut verkaufte. An dieser Stelle bemühe ich stets gerne die gesellschaftskritische Philosophie des französischen Dadaisten Marcel Duchamp, der seinerzeit die Dreistigkeit besaß, ein herkömmliches Pissoir zum Kunstwerk zu deklarieren. Das soll nicht bedeuten, dass dies den Wert des Menschen spiegeln soll, sondern nur die Relation zum Wertebegriff und worauf es ankommt, etwas in seinem Wert zu steigern oder zu senken. Duchamp ist das gelungen, selbst Picasso hat im Zenit seines Ruhms einfach nur Servietten mit seiner Signatur bekritzeln müssen, schon war dieses Stück Stoff mindestens einen ganzen Lotto-Jackpot wert. Was stimmt hier nicht, dass Menschen um ein besseres Leben ringen müssen und Pissoire unbezahlbar werden? Was aber, wenn man beides zusammenbringt? Der syrische Flüchtling Sam Ali, der aufgrund unbedachter und aus dem Zusammenhang gerissener Aussagen im Libanon ein neues Leben beginnen musste, fernab aller erträumten Möglichkeiten, schließt Bekanntschaft mit einem weltberühmten Künstler namens Jeffrey Godefroy, einem Belgier. Der akzentuiert geschminkte Mann mit dem gefälligen Sprech eines Mistopheles überredet den jungen Mann dazu, seinen Rücken für ein formatfüllendes Tattoo zu Verfügung zu stellen. Er will aus Sam Ali ein Kunstwerk machen, und zwar versehen mit dem Artwork des heiß begehrten Schengen-Visums. Dafür soll dieser reichlich Geld und eine Aufenthaltsbewilligung in Belgien bekommen, unter der Bedingung, für jedwede Kunstaktion oder Ausstellung zeitgerecht zur Verfügung zu stehen.

Die Idee der tunesischen Filmemacherin Kaouther Ben Haina ist originell, vielschichtig und inspirierend. Die Freiheit der Kunst als eine Parabel dieser Art zu interpretieren, ist fast schon genial. Mit Betonung auf fast. Denn obwohl der Umgang der Wohlstandgesellschaft mit ihren Werten in so manchen Szenen satirisch hinterfragt wird, gefällt Ben Haina die nebenherlaufende Beziehungsgeschichte zwischen ihrem als Exponat verschacherten Protagonisten und seiner großen Liebe, die sich für ein besseres Leben in den Westen verheiratet hat, deutlich mehr. Die Kritik an Kunst und Prestige fällt zu zaghaft aus, der Vorwurf eines Solidarität heuchelnden, aber letztlich hilflosen Establishments will gar nicht so laut erklingen. Im Vergleich dazu hat Ruben Östlund mit seiner Brachialsatire The Square die satirischen Klingen viel mehr geschärft als Ben Haina es tut. Ihr Anti-Held ist zwar ein Kunstwerk, ein wandelndes und aufmüpfiges Kunstwerk, was an sich schon bizarr genug ist ­– sein Sinneswandel im Laufe des Films fällt aber zu konzeptionell aus, was heißen will, dass Der Mann, der seine Haut verkaufte oft nicht genau weiß, ob es versöhnliches Märchen sein will oder eine zeitgemäße Kritik, auch wenn mitunter punktgenaue Zitate wie die umgekehrte Sage des Pygmalion die Entscheidung schwerfallen lassen. Es scheint aber, dass der Idealismus vehementer durchschimmert, dass elitäre Kunst seine Daseinsberechtigung haben soll und dass die Heimat dem kapitalistischen Westen immer noch vorzuziehen wäre, wenn irgend möglich. Mit der Realität hat der Film dann immer weniger zu tun, die Romanze obsiegt.

Der Mann, der seine Haut verkaufte (2020)

Sunburned

SANDBURGEN UND LUFTSCHLÖSSER

6/10


Sunburned© 2020 Camino Filmverleih GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, NIEDERLANDE, POLEN 2019

REGIE: CAROLINA HELLSGÅRD

CAST: ZITA GAIER, GEDION ODUOR WEKESA, SABINE TIMOTEO, NICOLAIS BORGER, FLORA THIEMANN, ANIMA SCHWINN U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Der nächste Sommer kommt bestimmt. Und mit ihm auch der geplante Urlaub. Wohin soll es diesmal gehen – von Covid-Hürden mal abgesehen? Vielleicht an die spanische Mittelmeerküste, speziell nach Andalusien, ganz im Süden? Dorthin, wo man an klaren Tagen hinübersehen kann aufs afrikanische Festland, um genau zu sein nach Marokko. Dort ist es schön, da ist es heiß, da gibt’s All Inclusive-Bettenburgen mit Animationsprogramm, reservierten Strandliegen und jede Menge Flüchtlinge, die sich unters badende Volk mischen, um Waren aller Art zu verscherbeln. Billigsdorferketten und Fake-Markenbrillen, darunter vielleicht auch das eine oder andere Handgeschnitzte. Und vielleicht auch den eigenen Körper. Dieses tagelange Herumschlendern und Verkaufen, das hat sich längst ins Urlaubsbild integriert. Die unabsichtlich vermittelte Exotik vom anderen Kontinent ist da durchaus willkommen. Eben all inclusive. 

Teenager Claire verbringt mit ihrer dysfunktionalen Restfamilie einen relativ langweiligen und auch sehr wortkargen Urlaub, was Mama und beide Töchter zusammenhält, ist praktisch nicht vorhanden, denn jede zieht sein eigenes Ding durch. Der Papa dürfte auf und davon sein, womöglich ein Scheidungsfall. Aus diesem lieblosen Vakuum heraus sucht Claire nach Abwechslung und freundet sich mit dem Flüchtlingsjungen Amram an, der am Strand auf und ab hausiert. Dabei passiert´s, dass Claire falsche Hoffnungen weckt, wobei die Träume, die dieser Junge hat, kaum mit der Wirklichkeit zu vereinbaren sind. Doch in einer Not wie dieser klammert man sich an alles. Auch an eine deutsche Touristin, die Amram plötzlich überallhin mitnimmt. Lange kann die Sache nicht gutgehen. Auch deswegen, weil Claire die Folgen ihres Handelns nicht absehen oder kaum erahnen kann, wie einer wie Amram die Welt sieht.

Die junge Schauspielerin Zita Gaier, bekannt geworden durch die Nöstlinger-Verfilmung Maikäfer flieg!, fasst in diesem auf den ersten Blick sommerleichten Müßiggangdrama ein heißes Eisen an: dass der Flüchtlingskrise. Den sozial etablierten Erwachsenen scheint das Thema generell wenig zu tangieren, viel weniger noch im Urlaub. Die Next Generation sieht das anders. Gaier alias Claire nimmt den umherirrenden Jungen ganz anders wahr, sieht Handlungsbedarf und versucht sogar, für sich selbst oder für beide eine erschreckend naive, aber zumindest eine Lösung zu finden. Irgendwo, so mag sie denken, muss man ansetzen.

Carolina Hellsgårds Film schlendert zwischen der Stimmungschronik einer Sofia Coppola (z.B. Somewhere) und bleiernem Betroffenheitsrealismus, der einzelne Figuren, vor allem jene von Mutter Sabine Timoteo, wie phlegmatische Traumgestalten durchs Bild traben lässt. Keiner scheint mehr zu sehen als die eigene Wunschwelt, nur Claire drängt sich dazwischen hindurch, will nichts wahrhaben und gleichzeitig klar erkennen. Urlaub als Auszeit zwischen Verantwortung und Verdrängung? Ein Lokalaugenschein als Kickoff für jugendliche Proteste a la Thunberg? Wie im Hochseedrama Styx ist auch Zita Gaier mit einem gordischen Knoten konfrontiert, der nur, um ihn zu lösen, zerstört werden muss. Filme wie Atlantique und Atlantic, beides völlig unterschiedliche Zugänge zum Flüchtlingsproblem, annektieren Sunburned als einen möglichen, gut gewählten dritten Ansatz im Bunde, obwohl sich anfangs eine direkt formelhafte Tristesse eröffnet, die in gekünstelter Langeweile sein Stranderlebnis hinbiegt. Sunburned eine Chance zu geben hat sich aber letzten Endes gelohnt, da Hellsgård erst spät, aber doch, allerdings viel zu verzögert und von der südspanischen Hitze scheinbar ermattet, in die Gänge kommt. Letzten Endes ist die Willkommenskultur an der Pforte nach Europa eine Kultur der Duldung. Vor allem aber etwas, das bei den Jungen kaum erwähnenswerte Aufklärung erfahren hat.

Sunburned

Nurejew – The White Crow

AUS DER REIHE GETANZT

5,5/10

 

EF6B7528.CR2© 2019 Alamode

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 2019

REGIE: RALPH FIENNES

CAST: RALPH FIENNES, OLEG IVENKO, LOUIS HOFMAN, ADÈLE EXARCHOPOULOS U. A. 

 

Nennt mir fünf Filme, die Ballet zum Thema haben. Würdet ihr diese Challenge meistern, ohne nachzusehen? Ich glaube ich würde es schaffen. Billy Elliot, Black Swan, Girl… Wenn der deutsche Kinofilm Anna nach der gleichnamigen Fernsehserie auch noch zählt, hätte ich mit Nurejew – The White Crow gerade mal eine Hand voll. Ralph Fiennes hat hierzu keinen unwesentlichen Beitrag geleistet, denn die teils kuriose Biographie des russischen Meistertänzers Rudolf Nurejew, die geht auf sein Konto. Nicht nur als Schauspieler und Produzent, sondern auch als Regisseur, wobei, wenn ich die Regiearbeiten des Briten genauer betrachte, ich nicht umhin komme festzustellen, dass der von mir sehr geschätzte Akteur ein kultureller Feingeist sein muss. Shakespeares Coriolanus – ja, der war ein bisschen ungelenk, sehr wuchtig und prätentiös. Wie eine Oper eben. In die Oper dürfte Fiennes wohl auch gerne gehen. Und da dürfte ihm die Idee zu Nurejew gekommen sein. Zur Eleganz des Ballett und zum kalten Krieg. Zu staatlicher Paranoia, Geheimdienst und Überwachung.

Alles beginnt mit Einblicken in eine recht elende Kindheit irgendwo in der russischen Provinz, farblich entsättigt, damit das Verständnis für Zeitebenen gesichert bleibt. Der Junge schafft es mit viel Glück auf die Ballettschule und, wie Kenner der Materie wissen, in die zweitberühmteste Ballettgruppe Russlands neben dem Bolschoi – ins Kirow-Ensemble. Ballett verlangt natürlich eiserne Disziplin, intensivstes Training, nicht zwingend Fanatismus wie bei Black Swan, aber schaden würde das in dieser Branche wahrscheinlich nie. Einen Körper so zu beherrschen, das ist große Kunst. Das Ballett Spartacus damals in der Wiener Staatsoper ist mir nicht nur wegen Rimski-Korsakows Musik noch lebhaft in Erinnerung. Nurejew war also auch so einer, ein Star unter den Professionisten – mit der Aussicht, in den 60ern ein Gastspiel in Paris zu absolvieren. Das passiert dann auch, doch nur unter strengen Auflagen. Westen und Osten können sich nämlich nicht riechen, und der Feind lauert überall. Nur: Auflagen sind Nurejew so ziemlich egal. Er knüpft Kontakte, wohin auch immer. Und stellt fest: müsste er noch mal zurück nach Russland, müsste er für immer dort bleiben,

Nurejew – The White Crow (Weiße Krähe als Synonym für jemanden, der aus der Reihe tanzt, oder einfach anders ist) ist wider Erwarten doch nicht allzu viel mehr als ein Ballettfilm. Für diese formelle Tanzkunst muss man sich schon ansatzweise interessieren, oder zumindest für Extreme der Körperbeherrschung. Für Ehrgeiz natürlich auch. Und erst peripher für den Kalten Krieg. Mit den Schwierigkeiten, die dieser politische Frost mit sich brachte, hat Nurejew erst später zu tun. Bis dahin ist es eine Erfolgsstory, eine schön schimmernde Hommage in der braunstichigen Optik verblassender Papierbilder. Mittendrin sehr zurückhaltend, in elitärem Nachdenkmodus und etwas introvertiert: Ralph Fiennes als Ballettlehrer Alexander Puschkin, mit Halbglatze und Strickweste. Ja, Puschkin wird wohl so gewesen sein, zurückhaltend und distinguiert. Auch Nurejew selbst wird womöglich ziemlich gut getroffen worden sein, auch wenn es danach aussieht, als müsste es Zeit seines Lebens nicht einfach gewesen sein, mit ihm auf Augenhöhe zu kommunizieren. Oleg Iwenko, tatsächlich auch Ballettänzer, bleibt als der Bühnenstar unnahbar und arrogant. Ein Egozentriker aus Fleiß und der Lust am Ruhm. Aber immerhin einer, dem nichts in die Wiege gelegt wurde. Damit kann man sich anfreunden oder nicht. Interessant, wenn auch etwas tanzlastig, ist das ganze Szenario, das Fiennes hier rekonstruiert hat, trotzdem, plätschert aber bis zum alles entscheidenden Wendepunkt in Nurejews Leben eher recht hausbacken vor sich hin. Immerhin: das Sinnbild offener Türen, die in die Zukunft weisen, findet seine realhistorische Entsprechung.

Nurejew – The White Crow

Nobadi

WER ANDEREN EINE GRUBE GRÄBT

7/10

 

nobadi© 2019 Thimfilm

 

LAND: ÖSTERREICH 2019

REGIE: KARL MARKOVICS

CAST: HEINZ TRIXNER, BORHAN HASSAN ZADEH, JULIA SCHRANZ, MARIA FLIRI U. A.

 

Mit dem preisgekrönten Film Atmen hat der österreichische Schauspieler Karl Markovics ein bemerkenswertes Regiedebüt hingelegt. Selten war das Thema Tod so ein Hingucker, selten so sensibel und gleichzeitig so rüschenlos betrachtet worden. Markovics ist ein Künstler. Wenn er Regie führt, so schreibt er sein Projekt auch selbst. Und das sind Themen, die nicht unbedingt die Säle füllen. Markovics bezweckt das gar nicht. Er tut, was ihn in erster Linie selbst bereichert, und er scheut sich davor, sich dem Geschmack des Publikums anzubiedern. Das geht vielen österreichischen Filmemachern so, aber Markovics fällt mehr auf als andere, vielleicht, weil er anders an das Erzählenwollende herangeht, weil er analytisch vorgeht, besonnen und nicht übereilt. Weil er Dinge erzählt, die meines Erachtens relevant sind. Wie zum Beispiel das Mysterium des Todes aus psychosozialer Sicht. Oder das Göttliche, das sich äußert wie ein schizophrener Schub, so gesehen in Superwelt mit Ulrike Beimpold als völlig verpeilte Hausfrau. Mit Superwelt hat sich Markovics deutlich schwerer getan – sein zweiter Film ist fast schon missglückt, vielleicht weil er sich dazu verleiten ließ, mehr ins Esoterische abzugleiten als beabsichtigt. In Nobadi findet er wieder zurück zu seinen Skills, die er beherrscht, nämlich nicht nur die monologisierende, sondern auch die zwischenmenschliche Extremsituation im wahrsten Sinne des Wortes herauszusezieren. Das schmeckt nicht unbedingt, ist aber wirklich sehenswert.

Der Name des Flüchtlings: Nobadi, also Nobody – Niemand. Das jemand so genannt wird, wissen wir seit Homer. Während seiner Irrfahrt durch das Mittelmeer entschied der kluge Odysseus im Angesicht des menschenfressenden Zyklopen Polyphem, sich selbst lieber keinen Namen zu geben. Ein weiser Schachzug, wie die Legende beweist. So wie der Grieche aus Ithaka heimatlos durch sämtliche Abenteuer schippert, so schippert der junge Afghane nach Wien – zuerst auf den Arbeiterstrich, dann in den 15. Wiener Gemeindebezirk, in die Kleingartenanlage Zukunft – was für ein Omen. Die Suche nach einem Job treibt ihn geradewegs in die altersfleckigen Hände des Witwers Senft, der wiederum den Tod seines Hundes betrauert, über Tierärzte schimpft und lieber hinterm Haus ein Loch puddelt, um den Pudel zur letzten Ruhe zu betten. Der namenlose Flüchtling geht ihm für 3 Euro die Stunde zur Hand – und weiß gar nicht, welche Wendung sein Leben nehmen wird.

Karl Markovics´ überaus dicht inszeniertes Kammerspiel geht wortwörtlich an die Substanz. Natürlich ist es nicht verwunderlich, dass ein Film wie Nobadi den Österreichischen Filmfond begeistert hat, findet sich darin doch einiges aus dem War- und Ist-Zustand gesellschaftspolitischer Befindlichkeiten wieder. Doch es scheint nicht so, als wäre die Thematik in Nobadi ein den Förderchancen angepasstes Szenario gewesen, auch wenn der völlig selbstmitleidlose Streifen sowohl an die Verfolgung ethnischer Minderheiten in der NS-Zeit als auch an die Flüchtlingskrise vor ein paar Jahren erinnert, an den fatalen Um- und Notstand also, vertrieben worden zu sein. Für einen knapp 90minütigen Film würde das schon reichen, aber Nobadi geht tiefer, will gar etwas Basaleres. Was der alte Herr Senft vorhat, kommt unerwartet und wie mit dem Stellwagen ins Gesicht. Seine traumatische Besessenheit – aus Reue, Wiedergutmachung oder einfach nur aus Prinzip, das bleibt unklar – folgt einem geradezu wienerisch-morbiden Amoklauf zwischen Macht-Ohnmacht-Balance und einem verstörenden Notfallplan, um Nobadi nicht dem Vergessen zu opfern. Das ist eine düstere, durchaus blutige und hingebungsvoll nihilistische Miniatur, die einem aber seltsamerweise nicht  den Boden unter den Füßen wegzieht, weil Markovics eine durchdachte, wunderschön abgerundete Kleingartenallegorie geschaffen hat, die eine Nacht lang altruistische Werte neu und durchaus radikal, wenn nicht gar auf paradoxe Weise, hinterfragt. Das ist manchmal vielleicht zu dick aufgetragen, zu sehr mit der Gartentür ins Haus, aber unterm Strich gelingt dem ehemaligen Stockinger ein seufzendes Requiem auf einen völlig von den Göttern verlassenen Odysseus, der Polyphem als einzigen Freund hat.

Nobadi

Jupiter´s Moon

DA HILFT NUR NOCH EIN WUNDER

5/10

 

jupitersmoon© 2018 Thimfilm

 

LAND: UNGARN, DEUTSCHLAND 2017

REGIE: KORNÉL MANDRUCZÓ

CAST: MERAB NINIDZE, ZSOMBOR JÉGER, GYÖRGY CSERHALMI, MÓNIKA BALSAI U. A.

 

Was gibt es eigentlich Neues aus Syrien? Seit sich hier in Österreich das Wahlkampfgetrommel tagtäglich im Takt erhöht und – natürlich zurecht – der Klimawandel ganz oben auf den Agenden steht, finden die Entwicklungen im Nahen Osten maximal nur in den Kurzmeldungen Erwähnung. Solange sich dieser Bürgerkrieg nicht als Teil des Wahlprogramms mancher Grenzwallerrichter verwenden lässt, wie zum Beispiel die Rückholung des Nachwuchses ausgereister IS-Bewerber, bleiben diese Schicksale unter ferner liefen. Wenn da kein Wunder geschieht, ändert sich dort kaum etwas. Auf Wunder lässt sich aber bis zum St. Nimmerleinstag hoffen. Und wenn so ein Wunder eintritt, dann sind das die Skills bemerkenswerter Geistlicher, die dann posthum heilig werden. Bei Wundern fällt mir natürlich sofort Jesus von Nazareth ein, oder Pater Pio, der angeblich die Wundmale Christi trug. Ihr könnt das natürlich halten, wie ihr wollt: Aber gesetzt den Fall, es gab und gibt dieses Paranormale: Wie damit umgehen? Und wie lässt sich so ein Wunder überhaupt nutzen, vor allem in so prekären Situationen wie während einer Flucht? Hat man da überhaupt die Muße, sich näher damit auseinanderzusetzen?

Interessante Fragen, ein spannendes Szenario, das der ungarische Filmemacher Kornél Mundruczó in seinem metaphysischen Flüchtlingsdrama Jupiter´s Moon da formuliert und entworfen hat. In seinem Werk, dessen Titel Bezug nimmt auf den Eismond Europa, der mit hoher Wahrscheinlichkeit unter seinem kilometerdicken Eispanzer flüssiges Wasser verbirgt, wagen sich der Syrer Aryan und dessen Vater über die grüne Grenze nach Ungarn. Leider geht im entscheidenden Moment so einiges schief, und Aryan wird auf der Flucht weiter Richtung Westen erschossen. Doch er stirbt nicht, er überlebt trotz mehrerer Schüsse in die Brust. Und er kann plötzlich fliegen, oder sagen wir besser: schweben. Und nicht nur das: im Laufe der Zeit entwickelt er die Fähigkeit, nicht nur sich selbst den Gesetzen der Gravitation zu entziehen, sondern auch alles, was ihn unmittelbar umgibt.

Ratlos ist da nicht nur der ungarische Schauspieler Zsombor Jéger als hilfsbedürftiger X-Men, sondern auch der Zuseher. Warum und wozu genau der Syrer als Auserwählter dieses plötzliche, allen Gesetzmäßigkeiten der Physik zum Trotz erhaltene Wunderhandeln besitzt, hat für den Film, wie es aussieht, nicht so wirklich Relevanz. Ganz klar – Jupiter´s Moon ist eine Allegorie auf so manche Zustände an der Grenze zum sicheren Heil. Keine Ahnung natürlich, wie sich Flüchtlinge fühlen müssen, wie hoch der Rest ihres Selbstwertes denn überhaupt noch ist, ob sich dieser noch messen lässt. Und ob überhaupt noch das Prinzip Hoffnung eine Rolle spielt. Ich hoffe, diesen Zustand niemals erfahren zu müssen. Doch würde ich als Flüchtling den Wunsch verspüren, fliegen zu können? Vielleicht nicht, aber vielleicht würde ich denken: Ach, wäre ich doch ein Superheld. Wäre ich doch etwas Besonderes. Jemand, den man nicht übersehen kann. Der gleichzeitig über allem schwebt, die Dinge aus sicherer Distanz betrachtet, der vielleicht die Paradigmen umkehrt und der die Wertschätzung erhält, die ihm zusteht. Vielleicht ist das die Prämisse des eigenartigen, undurchsichtigen Streifens, der sich deutlich schwertut, seinen Willen zu formulieren.

Protagonist Aryan bleibt eine ratlose, verirrte, verstörte Figur. Sein Ziel ist es, seinen Vater zu finden, sein Weg aber kreuzt ihn mit dem eines in Ungnade gefallenen Arztes, der Flüchtlingen falsche Krankenakten ausstellt, um sie nach Europa zu retten. Mit Aryan wittert er das große Geschäft des Wunderheilens – klarer Fall von Scharlatanerie. Der Syrer macht vorerst mit, warum auch immer. Zsombor Jéger ist die Ratlosigkeit, die Orientierungslosigkeit in Person. Das überträgt sich auf den ganzen Film, der in verzweifelter Unfähigkeit, Ziele zu formulieren, in mehrere Richtungen gleichzeitig navigiert. Das ist konfus, und seltsam unnahbar. Da mag zwar eine noble Ambition hinter dem Projekt gesteckt haben – dafür manifestiert sich dieses Gleichnis als allzu verschwurbelt, diffus und unartikuliert, um die Bedeutungsschwere in vollem Ausmaß zu erfühlen. Bei Underdog ist Kornél Mundruczó diese Allegorie besser geglückt, der Plot, die Idee dahinter war begrenzter, kleiner und griffiger. Das Thema der Flüchtlingskrise so anzupacken scheint wie ein klarer Fall von fehlender Bodenhaftung.

Jupiter´s Moon

Dhepaan – Dämonen und Wunder

NIRGENDWO MEHR SICHER

7,5/10

 

dheepan© 2015 Why Not Productions–Page 114–France 2 Cinéma

 

LAND: FRANKREICH 2015

REGIE: JACQUES AUDIARD

MIT ANTONYTHASAN JESUTHASAN, KALIEASWARI SRINIVASAN, CLAUDINE VINASITHAMBY U. A.

 

Die paradiesische Insel Sri Lanka war noch bis vor knapp einem Jahrzehnt ein vom übellaunigen Schicksal gebeuteltes Eiland südlich des indischen Subkontinents. Bereisen konnte man das Land dennoch, nur eben nicht an Orte, die von den tamilischen Separatisten besetzt waren. Da herrschten ähnliche Zustände wie im Norden Sumatras. Dort kämpften ebenfalls bis vor kurzem noch die muslimischen Aceh um die Unabhängigkeit. Dann kam 2004 der Tsunami – irgendwie der Anfang vom Ende. In diese Zeit hinein – wann genau ist aus dem Film nicht zu erfahren – gelingt drei zu einer falschen Familie zusammengewürfelten Personen die Flucht nach Paris. Dhepaan, der tamilische Krieger, eine wildfremde junge Frau und ein Waisenkind. Alle drei wollen anfangs nichts voneinander wissen. Das Konzept Familie kommt ihnen aber relativ gelegen – die Chance, auf diese Weise irgendwo neu anzufangen ist so deutlich größer. Familien haben Vorzug. Familien muss geholfen werden. Yalini, die junge Frau, will aber nach London, zu ihrer Cousine. Das Mädchen selbst, das bald in Frankreich auf die Schule muss, will nirgendwo hin, nur bei ihren neuen Eltern bleiben. Zu sagen, dass dies Menschen sind, die nichts mehr zu verlieren haben, erscheint zumindest bei der Reservemama und der Ziehtochter unangebracht. Den Frieden wollen sie finden und bewahren. Das Glück und die Geborgenheit eines beständigen Neuanfangs.

Das wollte Rambo auch. Heimgekehrt aus dem Vietnamkrieg, war die Visage des schlaksigen Stallone nirgendwo mehr willkommen. Zuflucht in der Heimat? Keine Chance. Aber, anders gefragt, wie komme ich jetzt auf Rambo? Beide Filme haben natürlich nicht viel, aber Wesentliches gemeinsam. Dazu muss man die Figur des Dheepan näher betrachten. Der bärtige Tamile ist der einzige, der nichts mehr zu verlieren hat – Familie tot, Land verwüstet. Traumatisiert durch Bomben, Granaten und dem Gräuel, den der Krieg mit sich bringt. Aber Dheepan reißt sich zusammen. Macht seinen Job als Hausmeister besser als gut, geht den Dealerbanden im Pariser Banlieue so ziemlich aus dem Weg, will sich also integrieren. Und mit der Zeit folgt so etwas ähnliches wie Respekt. So ein Problemviertel heißt aber nicht umsonst Problemviertel – es dauert nicht lange, dann erbeben die Wohnblocks irgendwo am Rande der Staat unter den Schüssen übervorteilter Gangsterbanden. Dheepan stolpert also weg vom Krieg in einen neuen hinein. Die Trigger sind aktiv, der Horror übermannt ihn. Der Krieger kehrt zurück. Wie bei Rambo. Beide finden sich in einem Gefecht wieder, der in ihren Köpfen tobt. Proben den Ausfall, wo Rückzug durchaus möglich wäre. Doch das Trauma gestattet kein Winseln um Gnade. Plötzlich geht es um Überleben oder Auslöschung.

Jacques Audiard meistert wieder mal einen Film, der seinen Figuren so genau zusieht, dass es fast schon zu distanzlos wird. Nur sehr langsam kommt Dheepan – Dämonen und Wunder in die Gänge, verliert sich aber niemals in Periphärem. Akribisch beobachtet Audiard die Integration in eine fremde Welt. Die Anpassung wird zur Zerreißprobe mit Höhen und Tiefen, das Wunder eines Neuanfangs hadert mit den Dämonen der Entbehrung. Interessant, wie der Film das Wirrwarr an Sprachen löst. Übersetzt wird das Tamilisch der drei Darsteller, bei Französisch und Englisch liest man die Untertitel. Die Gliederung zwischen Vertrautheit und Fremde wird damit fabelhaft vollzogen. Und wenn man glaubt, dass die Lüge, welche die Familie vorerst zusammenhält, dem Druck der Bewährung nicht mehr standhält, fällt die bereits angekündigte Bedrohung eines neuen Krieges, und sei es nur ein Kleinkrieg, über die Schutzsuchenden her. Nirgendwo ist es mehr sicher. Audiard kennt wenig Trost, nur den Wert des Zusammenhalts. Und die zweite Chance, die eigene Familie vor dem Untergang zu bewahren.

Dheepan – Dämonen und Wunder ist nicht umsonst ausgezeichnet worden. Auch wenn der Film vom Dasein als Flüchtling erzählt, ist er dennoch mehr als nur das – sondern eben auch eine Art des Antikriegsfilms, die nicht sofort als solche zu erkennen ist. Doch meist liegt in den Posttraumata, wie sie Dheepan mit sich herumträgt und womöglich niemals loswerden wird, die ganze Anklage an den Krieg verborgen. Dheepan ist so distanzlos wie kraftvoll, so poetisch wie radikal. Ein Film, der den Flüchtenden als hadernden Menschen besser verstehen lässt.

Dhepaan – Dämonen und Wunder

Die andere Seite der Hoffnung

DER LIEBE AUGUSTIN DES MIGRATIONSZEITALTERS

7/10

 

andereseitehoffnung© 2017 Pandora Film GmbH & Co. Verleih KG

 

LAND: FINNLAND 2017

REGIE: AKI KAURISMÄKI

MIT KATI OUTINEN, VILLE VIRTANEN, TOMMI KORPELA, MATTI ONNISMAA, SHERWAN HAJI U. A.

 

Und wieder einmal ist da einer so ziemlich abgebrannt in Helsinki. Aber nicht, weil dieser Jemand aus Finnland raus will, um mit einem Schiff namens Ariel nach Mexiko auszuwandern. Diesmal will dieser Jemand hinein nach Finnland und in Helsinki neu anfangen. Abgebrannt sind sie beide. Und der eine ist noch dazu anfangs ziemlich schwarz um die Nase. Klarer Fall von Menschenschmuggel. Genauer gesagt hat sich der Syrer Khaled in einem Kohlefrachter selbst nach Finnland manövriert. Eigentlich wollte er das gar nicht. Und seine Schwester, mit der ihm die Flucht aus Syrien gelungen war, ist auch vom Radar verschwunden. Also ein ziemlich düsterer Status Quo. Allerdings längst nicht so düster als würde man in Aleppo bleiben und sich die Bomben auf den Kopf fallen lassen.

Wie sich ein finnischer Filmemacher der Sache mit den Flüchtlingen stellt, zeigt Kultregisseur Aki Kaurismäki mit Die andere Seite der Hoffnung nun schon ein zweites Mal. Mit Le Havre hatte der Meister des lakonischen Humors ein künstlerisch hochwertiges Glanzstück hingelegt, ein berührendes Märchen rund um Integration und die Idee eines besseren Lebens. Ganz so versöhnlich geht es in der thematisch verwandten Ergänzung dieses hochkomplexen Themas längst nicht mehr zu. Die Welt, in der sich nicht nur Khaled, sondern auch der Hemdenverkäufer Waldemar orientieren muss, ist eine zugegeben ziemlich triste. So trist, als befänden wir uns in einem dieser alptraumhaften Tableaus eines Roy Andersson. Dieser Ausnahmeschwede ist vermutlich nur hartgesottenen Filmkunstgenießer ein Begriff. Seine Werke sind bühnenhafte Arrangements, die bis ins kleinste Detail komponiert und einer beklemmenden, höchst artifiziellen Isolation unterworfen sind. Themen wie Fremdenhass, Katholizismus, Macht und Existenz sind nur einige der vielen Fragen, die Andersson dem Zuschauer stellt. Aki Kaurismäki gesellt sich in seinem Anti-Hoffnungsschimmer auf ähnliche Weise dazu. Sein an Ort und Stelle verharrendes Panoptikum verlorener, aber niemals mutloser Gestalten, die erstmal keinerlei Ausweg aus ihrer kleinen Existenz finden können, begegnen dem Schicksal mit sturer Phlegmatik. Es ist das Recht auf Wohlstand, dass sowohl der Einwanderer als auch der alteingesessene Lokalheld einfordern. Beide stehen in ihrer registrierten Identität wieder am Anfang, begegnen sich zu Beginn des Filmes rein zufällig, um sich für sagen wir mal zwei Drittel der Geschichte wieder aus den Augen zu verlieren. Lange fragt man sich, was beide Episoden wohl miteinander zu tun haben sollen. Doch wie es bei Kaurismäki meist der Fall ist, fügt das finnische, dem Schicksal trotzende Schicksal Welten zusammen, die sich auf den ersten Blick nichts zu sagen haben – auf den zweiten Blick aber viel voneinander profitieren können. Wäre da nicht das latent bedrohliche Gespenst des Nationalismus in Europa, das gerne die Hoffnung auf ein genügsames Leben ersticken will.

Natürlich lässt sich die Flüchtlingskrise, das Migrationschaos und die Angst vor Terror und des Fremden nicht so einfach und mit solch boulevardesker Naivität über den Kamm scheren. Dazu neigt Kaurismäki – seine Geschichten sind simpel, aber nicht verhöhnend simpel. Seine Figuren scheinen in ihrem neorealistischen Dasein nicht viel zu sagen zu haben. Aber vielleicht ist das endlich mal der Ausweg aus einem Dilemma des Zerdachten, dem der Finne sich längste Zeit zugeneigt fühlt. Vielleicht ist das pragmatische Herankommenlassen unvermeidlicher Ereignisse, die Vorort-Lösung kleinerer Probleme, die letzten Endes imstande sind, das große Ganze zu ändern, wirklich die allerbeste Methode, dem europäischen Schlamassel zu entkommen. Diese heruntergekommene, völlig uneinladende Gaststätte im Film ist wie das Europa der Gegenwart. Die liebevoll ausgestattete Grunge-Bühne des versifften Pseudo-Gorumetlokals ist Schauplatz zufällig scheinender Konsequenzen, ein Labor des Probierens einer Zukunft, die niemals festgeschrieben steht. Und die auch neue Gesetze des Zusammenlebens in völliger Autarkie zusammendichten kann. Es ist so eine befreiend zurückgenommene Einfachheit, die Die andere Seite der Hoffnung motivierend belächelt. Wie in den gemalten Bildern eines kaum erstrebenswerten Glücks sitzen Kaurismäkis bewährte Protagonisten einem Maler Modell, der filmt statt zu pinseln. Seltsam arrangiert wirkt das Ganze, hölzern, wächsern und künstlich beleuchtet. Der  Stil des Finnen ist unverkennbar, Und treibt auch hier wieder ausufernde Blüten. Und dann, wenn alles schief zu gehen scheint, werden die Pechvögel für ihre Aufmüpfigkeit belohnt – so sehr sie auch bluten müssen. Einen Kaurismäki sieht man immer wieder gerne. Zwar nicht dauernd, aber in gesunden Abständen tut das richtig gut. Vor allem, weil Kaurismäki so befremdend anders seine Geschichten erzählt. Und dort nichts vortäuscht, wo anderswo dick aufgetragen wird. Ein Kino der Gestrandeten und Improvisateure – ermutigend, ironisch und von zäher Natur.

Die andere Seite der Hoffnung