Die Farben der Zeit (2025)

VOM ERAHNEN DER AHNEN

8/10


© 2025 Constantin Film


ORIGINALTITEL: LA VENUE DE L’AVENIR

LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2025

REGIE: CÉDRIC KLAPISCH

DREHBUCH: CÉDRIC KLAPISCH, SANTIAGO AMIGORENA

CAST: SUZANNE LINDON, ABRAHAM WAPLER, VINCENT MACAIGNE, JULIA PIATON, ZINEDINE SOUALEM, PAUL KIRCHER, VASSILI SCHNEIDER, SARA GIRAUDEAU, CÉCILE DE FRANCE, CLAIRE POMMET U. A.

LÄNGE: 2 STD 4 MIN 


Natürlich hatten die Leute des vorvorigen Jahrhunderts so einiges nicht. Keine Versicherungen, keine Sozialhilfe, keine flächendeckende gesundheitliche Versorgung und vor allem keine Frauenrechte. Damals, im Schatten der Industrialisierung und der aufkommenden alternativen Medien wie jene der Fotografie und des Films, fielen ganz ähnliche Sätze wie sie heutzutage fortschrittskritischen Denkerinnen und Denkern in den Sinn kommen würden. „Wohin soll das alles führen?“, fragt in Die Farben der Zeit ein Kutscher die junge Adéle, und wundert sich, wie schnelllebig die Welt doch geworden ist. Würde dieser ältere Herr, der seinen Gaul gemächlich durch ein spätsommerliches Nordfrankreich treibt, das Heute erleben, würde er, bevor ihn womöglich der Schlag träfe, seine Ansichten relativieren. Denn das, was in diesem Heute so alles an Umbrüchen stattfindet, wäre damals nicht mal noch Science-Fiction gewesen.

Ein Haus als gemeinsamer Nenner

Im wohl aus meiner Sicht wunderbarsten französischen Film des Jahres wagt Autorenfilmer Cédric Klapisch (u. a. L’auberge espanol, Der Wein und der Wind) die Probe aufs Exempel – und konfrontiert das längst Vergangene mit der Gegenwart. Angesichts dieser Diskrepanzen und angetrieben von unserer Sehnsucht nach Entschleunigung und Wahrhaftigkeit, die dank KI immer mehr abhandenkommt, schafft man es einfach nicht, sich die romantisierende rosarote Brille vom Nasenrücken zu reißen, so pittoresk, geerdet und überschaubar mutet dieses Frankreich knapp vor der Jahrhundertwende an. Es ist die Kunstepoche des Impressionismus, des neuen Mediums der Fotografie. Inmitten dieser aufblühenden Ära verlässt die gerade mal zwanzigjährige Adéle nach dem Tod ihrer Großmutter das geerbte Zuhause inmitten der ruralen Normandie, um im umtriebigen Paris nach ihrer Mutter zu suchen, die sie Zeit ihres bisherigen Lebens niemals kennengelernt hat.

Das ist aber nur die eine Seite des Films, konserviert in einem für mehr als ein Jahrhundert leerstehenden Gebäude voller Schriften, Fotografien und einem Gemälde, das frappant an einen großen Meister erinnert. Die andere Seite ist die Gegenwart – kantig, blaugrau, schnelllebig. Adéles Nachfahren werden zu einem Notariatstermin zusammengerufen, rund fünfzig Personen, die sich untereinander kaum kennen, obwohl sie doch alle verwandt sind. Man sieht, was 100 Jahre Leben ausmachen. Ein ganzes kleines Dorf wird lebendig – mehrere Generationen, einander völlig fremd und doch vereint. Dieses Haus in der Normandie, lange Zeit leerstehend, soll einem Parkplatz weichen, doch geschieht das nur mit dem Einverständnis der Erben. Fünf der Nachkommen machen sich auf den Weg dorthin, knacken die Zeitkapsel – und stoßen auf nicht nur ein, sondern gleich auf mehrere verblüffende Begebenheiten aus dem Leben einer Ahnin, die das damalige Zeitbild wie keine andere mit ihrer eigenen Biographie verwoben hat.

Was vom Damals übrig bleibt

Wenn schon nicht die elegante, gemächliche, aber niemals langweilig werdende Geschichte einer erkenntnisreichen Städtereise auf narrativem Wege das eigene Gemüt berührt, so ist es zumindest die hommierende Bildsprache, welche die Zeit handkolorierter Fotografien lebendig werden lässt. Sehen wir die Rückblenden auf Adéle, sehen die Bilder aus wie gefärbte Schwarzweißfotografien, wie alte Postkarten, die man am Antiquitätenmarkt findet. Anfangs wandelt die bezaubernde Suzanne Lindon in einem herausstechend roten Kleid durch die liebevoll ausgestalteten Kulissen einer überidealisierten Theaterstadt. Das ist so ergreifend schön, dass man es kaum erträgt, wenn Klapisch diesen Traum vom Gestern wieder einstürzen lässt und die allzu vertraute Gegenwart aus ausdrucksloser Kleidung, schnellem Essen und Techno-Beats dagegensetzt. Nein, hier herrschen, obwohl man es erwartet hätte, keine sanften Übergänge vor, die das Vergangene mit dem Heute verschmelzen lassen – die Brüche schmerzen, und schaffen erst so die richtige Distanz zwischen den Zeiten. Als Brücke dienen allein die Erben, die in der Vergangenheit stöbern und das Bild eines Lebens rekonstruieren – und Sängerin Pomme, die, mit den fließenden Gewässern der Seine im Hintergrund, den Chanson in seiner melancholischen Zerbrechlichkeit zeitlos werden lässt.

Wie Klapisch dann diese für all die Nachkommen so bedeutende Existenz mit der Kunstgeschichte verknüpft und einem großen impressionistischen Meister auf blumige Weise huldigt, hätte zwar gar nicht mal sein müssen, macht das Werk aber noch spezieller, noch relevanter, letztlich einfach märchenhaft und so eindrucksvoll, dass man den Eindruck gewinnt, dass früher einfach alles besser gewesen sein muss. Die Farben der Zeit sind einfach die schöneren – keine Nuance fehlt, um ein Filmbildnis wie dieses perfekt zu machen.

Die Farben der Zeit (2025)

Roqia (2025)

DIE DÄMONOLOGIE DES KRIEGES

5/10


© 2025 19 Mulholland Drive


LAND / JAHR: ALGERIEN, FRANKREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: YANIS KOUSSIM

KAMERA: JEAN-MARIE DELORME

CAST: ALI NAMOUS, AKRAM DJEGHIM, MOSTEFA DJADJAM, HANAA MANSOUR U. A.

LÄNGE: 1 STD 29 MIN


Es gibt eine Menge Filme, die außerhalb ihrer Festivalblase und vielleicht außerhalb jener Länder, in denen sie gedreht wurden, so gut wie gar nicht existent sind. Kaum jemand, der nicht in den Medien darüber nachlesen kann, wird Filme wie diese am Schirm haben. Selten im Kino ausgestrahlt, verschwinden sie später, wenn überhaupt, auf Streamingplattformen oder es gibt sie in den letzten wohlsortierten Videotheken für Cineasten, sofern sich manche die Mühe machen, das Werk auf Datenträger zu brennen. Folgendem Film könnte ein ähnliches Schicksal blühen. Roqia, ein algerisches allegorisches Mysterydrama, mag sich zwar im Genre des paranormalen Horrorfilms verorten – ein breiteres Publikum, so mein Eindruck, wird das sehr persönliche Werk von Yanis Koussim aber dennoch nicht ansprechen. Weil zu bedeutungsschwer und introvertiert, fehlt zumindest mir der Zugang.

Was wissen wir über Algerien?

Bei Roqia – ein arabischer Begriff, der so viel wie Exorzismus bedeutet – kann man sich gerne auf ein Thema einlassen, das zumindest in Zentraleuropa (ausgenommen Frankreich, historisch bedingt) wohl kaum jemand auf dem Schirm gehabt hat, sofern hier nicht politische Bildung über Nordafrika die oberste Agenda im täglichen Dasein dargestellt hätte.

In diesem Fall endet die Kenntnis der blutigen Jahre in Algerien nicht damit, dass sich diese auf den Krieg der 50er und 60er Jahre beziehen, sondern auf ein viel jüngeres Datum verweisen: Auf den militärischen Putsch in den 90er Jahren, der Annullierung der Wahlen und einer finsteren, gewalttätigen Dekade der Destruktion. Regisseur Yanis Koussim hat dabei so persönliche wie schmerzliche Erinnerungen an verstörende Jugendjahre in einen deprimierenden Film gepackt, der wohl nicht den Modus vivendi für ein bizarr-schräges Festival wie das des Slash vorprogrammiert, sondern wohl eher die Ausnahme bildet. Roqia ist die einem semidokumentarischen Realismus verhaftete, fatale Erzählung von einem muslimischen Exorzisten und seinem Gehilfen, die beide wohl feststellen müssen, dass das Böse einem körperlosen Dämonen gleich sein Unwesen treibt, nach Jahrzehnten eines brüchigen Friedens. Um die Saat der Gewalt neu auszubringen.

Währet den Anfängen

Sich windende Körper, hässliches Grinsen und spärlich beleuchtete Handkamerafahrten sind Zutaten von gefühlt jedem Dämonengrusler, egal auf welchen lokalen Ursprung sie verweisen. Nur diesmal wettert kein katholischer Exorzist mit Kreuz, Weihwasser und Bibel gegen den teuflischen Unruhestifter, sondern ein Geistlicher des Islam, der lediglich mit dem Koran in die paranormale Schlacht zieht. Roqia schlägt dabei die Brücke zwischen dem Damals und dem Heute – Währet den Anfängen heisst es aus politischer Sicht auch hier, und ja, Youssims Film ist reine Allegorie, ist die Angst auf eine Wiederkehr schrecklicher Umstände. Deshalb teilt der Filmemacher seine Betrachtung auch auf zwei Zeitebenen auf – die eine findet kurz vor Ausbruch des Militärputsches in den Neunzigern statt, die andere spielt in der Gegenwart.

Mit diesen Überlegungen und zur Bannung kollektiver Traumata instrumentalisierten Versatzstücken des Horrors entwirft Youssim finstere Aus- und Rückblicke, die allzu introvertiert und unter Vorsicht, den Teufel nicht allzu deutlich an die Wand zu malen, wohl weniger aufrütteln, sondern eher behäbig einen Ausweg aus einer gewissen verplauderten Eigendynamik suchen. So richtig intensiv wird Roqia erst im erschütternd radikalen Finale, das beide Zeitebenen zusammenbringt – bis dahin lässt sich Youssim zu viel Zeit, um aus seiner Resignation zu erwachen.

Roqia (2025)

Night Always Comes (2025)

BARGELDLOS DURCH DIE NACHT

5/10


© 2025 Netflix Inc.


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE: BENJAMIN CARON

DREHBUCH: SARAH CONRADT, NACH DEM ROMAN VON WILLY VLAUTIN

KAMERA: DAMIÁN GARCÍA

CAST: VANESSA KIRBY, JENNIFER JASON LEIGH, ZACK GOTTSAGEN, RANDALL PARK, STEPHAN JAMES, JULIA FOX, MICHAEL KELLY, ELI ROTH U. A.

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Neben dem omnipräsenten Pedro Pascal ist wohl Vanessa Kirby spätestens seit ihrer Oscar-Nominierung für Pieces of a Woman in gefühlt jeder zweiten Filmproduktion dabei. Gerade eben durfte sie als Sue Storm den wasweißichwievielten Versuch, die integren Fantastischen Vier endlich mal erfolgreich auf die Leinwand zu bringen, tatkräftig unterstützen. Zwischendurch widmet sich die gebürtige Londonerin aber nach wie vor dem Arthouse-Film und produziert auch gerne selbst das eine oder andere Projekt – ganz besonders schien ihr die Verfilmung des Romans Night Always Comes von Willy Vlautin am Herzen gelegen zu haben, der eine Frauenfigur in den Fokus rückt, die ambivalent genug ist, um sie schauspielerisch ordentlich auszufüllen. Nichts eindimensionales, sondern facettenreich und mit einer ordentlichen Portion Verzweiflung, denn ohne diese würde Night Always Comes gar nicht erst mal in die Gänge kommen. Prämisse ist also eine ausweglose Situation, und wie in den meisten ausweglosen Situationen, wenn es sich dabei nicht um eine Krankheizt oder einen Survival-Unfall handelt, geht es folglich um den Mammon. Dieses ist nicht da, oder besser gesagt: wäre da, wenn Mutter Jennifer Jason Leigh nicht das notwendige Kleingeld für einen Neuwagen verprassen würde, das eigentlich dafür bestimmt war, die familiäre Immobilie zu sichern. Schließlich ist auch noch der nach besonderen Bedürfnissen verlangende Bruder Kenny mit von der Partie, der rund um die Uhr Betreuung braucht.

Dass die ganze Familie auf der Straße steht, ist ein No-Go. Und Lynette, so die Rolle der verzweifelten jungen Frau, die eine zwielichtige Vergangenheit mit sich herumschleppt, muss binnen einer Nacht ein ganz schönes Sümmchen auftreiben, damit das Undenkbare nicht passiert. Wie sie das macht, hätte ich dieser Person gar nicht zugetraut. Und auch während sie versucht, mit dem Mut der Verzweiflung sogar in die kriminelle Düsternis Portlands einzutauchen und so einige Straftaten zu begehen, natürlich alles für den guten Zweck: Kirby ist all das nicht zu glauben. Vielleicht liegt es an dieser Sanftmütigkeit, mit der sie ihre Rolle untermauert. Die dunklen Jahre minderjähriger Prostitution und Abhängigkeit hinterlassen im Charakterbild Kirbys keine Spuren, letztlich fehlt es an der notwendigen Portion Zynismus, um zu glauben, was man sieht. Ähnlich vage bleibt Jennifer Jason Leigh als dem Schicksal die kalte Schulter zeigende Zynikerin, die keine Vorstellung von einer grimmigen Zukunft hat. Einerseits wirkt sie versoffen, dann wieder völlig resignierend wie jemand, der im White Trash-Milieu nichts mehr zu verlieren hat – was aber nicht den Tatsachen entspricht. Wohin Benjamin Caron (u. a. Sharper mit Julianne Moore) seine Familie positioniert, mag diffuses Terrain sein. Einzig Zach Gottsagen, der Schauspieler mit dem Down-Syndrom, der schon an der Seite von Shia LaBeouf in The Peanut Butter Falcon brilliert hat, wirkt wie ein stoischer Fels in der Brandung, der von allen Beteiligten, obwohl orientierungslos, noch die beste Orientierung hat.

Zu sehr gefällt sich Kirby in der Rolle der Verzweifelten, im nachtschwarzen Milieu zwischen Drogen, Geldraub und längst nicht verjährter Traumata. Sie selbst hat sich von Arbeiten wie Good Time der Gebrüder Safdie und dem deutschen One-Shot Victoria inspirieren lassen – beiden Filmen fehlt aber das Gemächliche, die bausteinartige Struktur, die dem Chaos einer Nacht zuwiderläuft. Kirbys Erlebnisse greifen nicht ineinander, sondern folgen nacheinander, Virtuosität weicht gefälligem Existenzialismus, der wohl lieber die Emanzipation aus der Verantwortung probt als sich dem Thrill zu unterwerfen. Der Effekt dabei: Night Always Comes unterhält zwar und hat einige Spitzen auf Lager, die dicht genug sind, um dranzubleiben und nicht wegzudriften. Im Ganzen aber bleibt diese Nacht trotz seiner prekären Abenteuer eine unter vielen.

Night Always Comes (2025)

Here (2024)

RAUMZEIT IN EINEM ZEITRAUM

6,5/10


here© 2024 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: ROBERT ZEMECKIS

DREHBUCH: ERIC ROTH, ROBERT ZEMECKIS, NACH EINER GRAPHIC NOVEL VON RICHARD MCGUIRE

CAST: TOM HANKS, ROBIN WRIGHT, PAUL BETTANY, KELLY REILLY, MICHELLE DOCKERY, GWILYM LEE, DAVID FYNN, OPHELIA LOVIBOND, NICHOLAS PINNOCK, NIKKI AMUKA-BIRD U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Der DeLorean, ausgestattet mit dem Flux-Kompensator, steht in diesem Film hier nicht in der Einfahrt zur Garage neben dem Haus. Das Haus selbst bietet auch kein Portal auf andere temporäre Ebenen. Und Rod Taylor sitzt ebenfalls nicht in seinem mit Samt ausgekleideten Steampunk-Vehikel, um in die Vergangenheit oder weit in die Zukunft zu reisen. Robert Zemeckis schafft es dennoch, die vierte Dimension zu durchbrechen, das gelingt ihm ganz ohne Science-Fiction, Gewittern am Himmel oder der abenteuerlichen Erzählung eines gewissen Mannes, der auf einer Parkbank sitzt und Pralinen verteilt. Von Forrest Gump zu Here ist es im Grunde ein kurzer Weg, beide verbindet nicht nur Alan Silvestris unverkennbarer Score, sondern auch die Hauptdarsteller: Robin Wright und Tom Hanks. Seit den Neunzigern stehen sie erstmals wieder gemeinsam vor der Kamera, und dank innovativer Technik sehen sie jünger aus als im Oscar-Hit um einen Tausendsassa von schlichtem Gemüt, der findet, das nur der dumm ist, der Dummes tut.

Diesmal ist von der epischen Breite eines ganzen Lebens nicht allzu viel zu sehen, da Zemeckis so gut wie niemals die vier Wände eines um die Jahrhundertwende erbauten Hauses verlässt – genauer gesagt die vier Wände eines Wohnzimmers, das sich, in einer zeitlosen Stasis befindend, aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einen eigenen Reim macht. Wenn Mauern, wenn Räume reden könnten, was wäre dann? Was empfängt die Aura eines Ortes an Vergänglichkeit, Werden und Vergehen? Der Begriff Kammerspiel bekommt in Here eine neue Bedeutung und bewegt sich lediglich in der vierten Dimension fort. Die Kamera bleibt starr und blickt, wie ein an Ort und Stelle gebanntes Gespenst, auf auf Familien, Freunde, auf Fortschritt, Kreativität, Liebe, Trauer und Zuversicht. Vorallem auch auf reichlich Humanismus. Denn wohin Zemeckis uns führt, ist ein Ort frei von Gewalt.

Im Zentrum stehen dabei Robin Wright und Tom Hanks. Mit ausgereiftem De-Aging schaffen die beiden einen Präzedenzfall für so manches Franchise, das seine Stars von früher vermisst. Auch Paul Bettany darf sich einem digital vollendeten Alterungsprozess unterwerfen, alle drei sind gemeinsam mit Kelly Reilly die Kernfamilie des Films, flankiert von anderen wohnhaften Parteien aus dem Damals und aus der Zukunft – sie alle sind jedoch nur kleine Anekdoten, vernachlässigbare Miniaturen in sattem Interieur, dass den Zeitgeist widerspiegelt. Mit Tom Hanks erleben wir den amerikanischen Kitsch einer Familie, Hoch und Tiefs erlebend in üppig ausgestatteter Einrichtung, als würden wir ins das Zimmer eines Puppenhauses blicken. So puppenhausartig auch all die Figuren, all diese Menschen, die so seltsam fern wirken, die alles erleben, was eine Familie, die rechtschaffen lebt, eben aushalten, genießen und betrauern muss.

Es wäre Biedermannkino mit Taschentuchalarm ob der wehmütigen Vergänglichkeit von allem, gäbe es hier nicht die experimentelle Komponente, die kühne Überlegung, die Bilder eines Films wie Here zu zerschnipseln und übereinanderzulegen, die Zeit auszuhebeln und immer mal wieder ein Fenster zu öffnen, ein lineares Geviert im Bild und auf der Leinwand, durch welches der Zuseher hindurchsteigt in eine andere Ebene. Das Experiment gelingt. Erstaunlich, wie konsequent Zemeckis an seiner Prämisse dranbleibt. Die sentimentale Lieblichkeit der Bilder und Panels, das hausbackene, ich will nicht sagen pseudophilosophische, aber bemüht lebensweise Exempel mehrerer Familienleben verfängt sich zum Glück richtig heillos in einer avantgardistischen Vision des Geschichtenerzählens, um als denkwürdiges Unikum über Raum und Zeit das eigenen Hier und Jetzt mal nicht mit eigenen Augen neu zu betrachten, sondern mit den abstrakten Sensoren eines Ortes, an welchem man lange gelebt hat. Ein Hoch auf die eigenen vier Wände. Und den Boden unter den Füßen.

Here (2024)

A Real Pain (2024)

REISEN IST DIE BESTE MEDIZIN

6,5/10


arealpain© 2024 Searchlight Pictures. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, POLEN 2024

REGIE / DREHBUCH: JESSE EISENBERG

CAST: JESSE EISENBERG, KIERAN CULKIN, WILL SHARPE, JENNIFER GREY, KURT EGYIAWAN, DANIEL ORESKES, LIZA SADOVY U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Oma ist gestorben. Das ist stets ein trauriger Anlass, denn nicht nur geht da jede Menge Zeit- und Familiengeschichte verloren, sondern auch eine vielleicht intensivere Bindung als zu den eigenen Eltern. Unter diesem Schicksalsschlag leidet nicht nur Jesse Eisenbergs Figur des Juden David Kaplan, sondern vor allem jene des Cousins Benji, der sowieso schon so seine psychischen Probleme hat. In Jugendjahren waren beide ein Herz und eine Seele, und das trotz unterschiedlicher Charakterbilder. Gegensätze zogen sich da womöglich an, und spätestens, wenn das Erwachsenenleben die eigene Familie beschert und das eigene Arbeitsleben, bleibt die Freundschaft nur mehr ein peripheres Restleuchten im Hintergrund. Ein Umstand, der nicht sein muss. Omas Ableben kommt da, so bitter es klingt, wie gerufen. David und Benji treffen sich wieder, für einen Trip nach Polen, um Großmutters Haus zu finden. Dabei schließen sie sich einer Reisegruppe an, die in die jüdische Geschichte des Landes führt. Die beiden jungen Männer finden nicht nur heraus, wie sehr ihr Ego ihnen im Wege steht, sie finden auch heraus, wie sehr Weltgeschichte die eigene Biografie steuern kann. Denn wäre der Krieg nicht ausgebrochen, wären beide entweder nicht auf der Welt oder eben Europäer.

Mit solchen Überlegungen wagt Jesse Eisenberg (The Social Network, Resistance) den Sprung ins kalte Wasser des Autorenfilms. A Real Pain ist sowohl von ihm verfasst als auch inszeniert. Und siehe da – der Mann hat Qualitäten. Und er tut gut daran, sich nicht selbst zu überschätzen, indem er ein ausstattungsintensives und sündteures Melodrama, angelegt auf mehrere Dekaden, gegen die Wand fährt. Sein Film ist klein und fein, unkitschig und bescheiden. A Real Pain ist, was er ist: Der Bericht einer Reise, die man nicht allein unternimmt, wo immer zwei dazugehören, um das Gesehene und Erfahrene im Gegenüber reflektiert zu sehen. Ohne weiteres hätte Eisenberg sich selbst da übernehmen können. Das passiert Künstlern, die nicht wissen, was dramaturgisch gesehen bleiben und was man weglassen kann. Darin liegt die Besonderheit in A Real Pain. Weder schwelgt Eisenberg im psychologischen Dilemma seiner fiktiven Filmbiographien, noch maßt er sich an, die Betroffenheit angesichts der Mahn- und Denkmäler auf prätentiöse Weise auszuschlachten. Man könnte meinen, die filmische Reise hat von allem ein bisschen. Und nichts so richtig.

Im Vergleich zu A Real Pain dringt Treasure – Familie ist ein fremdes Land von Julia von Heinz deutlich tiefer in die traumatische Vergangenheit einer Familie vor. Hier reist eine Tochter mit ihrem Vater, der selbst das KZ überlebt hat, an den Ort ihrer Ahnen. Klarerweise gibt es unter diesen Gesichtspunkten wesentlich mehr Konnex, als ihn Eisenbergs Cousins jemals bereitstellen können. Will man wirklich sehen, wie sehr vergangenes Leid bis in spätere Generationen hineinwirkt, dann ist Treasure ein Juwel von einem Film. A Real Pain erhebt dafür nicht den Anspruch, sich mit Politik auseinanderzusetzen. Hier sind es einzelne Befindlichkeiten, und eine Reise, die, so wie jede Reise, immer ein bisschen mehr zu einem selbst führt. Dabei passiert es fast, dass „Kevin“-Bruder Kieran Culkin mit der etwas dick aufgetragenen, aber souverän verkörperten Figur des Benji so manche Feinheiten übertüncht. Immer wieder zieht dieser alle Aufmerksamkeit auf sich, zieht diese von den anderen Co-Schauspielern ab. Eisenberg hält sich dabei im Hintergrund, gibt den weinerlichen, introvertierten Sonderling, diesmal aber sympathisch und offen für Erkenntnisse.

A Real Pain (2024)

Memory (2023)

DIE DUALITÄT DES ERINNERNS

7,5/10


memory© 2024 MFA+ Filmdistribution


LAND / JAHR: MEXIKO, USA 2023

REGIE / DREHBUCH / PRODUKTION: MICHEL FRANCO

CAST: JESSICA CHASTAIN, PETER SARSGAARD, BROOKE TIMBER, MERRITT WEVER, ELSIE FISHER, JESSICA HARPER, JOSH CHARLES U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Die einen wollen vergessen und können nicht. Die anderen vergessen und wollen nicht. Selten ist es so, dass jene, die vergessen wollen, es auch tatsächlich tun. Zu tief stecken hier traumatischen Erfahrungen in der eigenen Biografie fest, zu sehr beeinflussen diese die Gegenwart. Jene, die vergessen, obwohl sie jede Erinnerung behalten möchten, leiden vermutlich an kognitiven Störungen, die zur Demenz führen. Oft wird diese Erkrankung mit älteren Menschen in Verbindung gebracht, doch Filmemacher Michel Franco sieht das anders. Er wirft Peter Sarsgaard als Saul in einen vernebelten Alltag, der allein nicht mehr zu meistern ist. Abhängig vom eigenen Bruder, erlebt er mal helle Momente, dann wieder Phasen der völligen Desorientierung. Und: Der Mann steht mitten im Leben. Auf der anderen Seite muss Sylvia (Jessica Chastain) als ehemalige Alkoholikerin, die schon seit dreizehn Jahren trocken ist, ein Trauma mit sich herumtragen, welches sich einfach nicht wegsperren lässt. Das hat auch starken Einfluss auf die eigene Tochter, die weder mit Freunden abhängen noch zu Partys gehen darf. Francos Romanze will es, dass sich beide – Chastain und Sarsgaard – auf einem Klassentreffen über den Weg laufen. Oder anders gesagt: Saul sucht Sylvias Nähe und folgt ihr aus welchen Gründen auch immer (später erfährt man auf einer geschickt eingeflochtenen Meta-Ebene, warum) bis vor ihre Haustür – wo er, bei Sturm und Regen, Wurzeln schlägt. Sylvia ahnt, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmt, allerdings nichts, was ihr bedrohlich werden könnte. Nächsten Morgen stellt sich heraus: Der Mann leidet an dementen Schüben, die ihn völlig aus der Bahn werfen. Ohne Betreuung geht es nicht, also nimmt Sylvia auf Bitten von Sauls Bruders den Job an, sich um ihn zu kümmern. Während also Erinnerung und Vergessen aufeinandertreffen, ziehen sich diese Gegensätze sehr bald an.

Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen nach Wie ein einziger Tag oder sentimentalem Taschentuchdrama, wenn ich nicht wüsste, dass Michel Franco hier nicht nur die Story ersonnen, sondern eben auch inszeniert hat. Dessen letzter Film – Sundown – Geheimnisse in Acapulco – kann, wenn man sich einlässt, zu einer speziellen Filmerfahrung werden – mit der dramaturgischen Taktik, fast die gesamte Laufzeit des Films seine Zuseher im Unklaren zu lassen, was Tim Roth wohl antreibt, um aus seinem bisherigen Leben auszusteigen und alle Verbindungen zu kappen. Dieses Mysterium steht und fällt mit der hypnotischen Gelassenheit und stillen Melancholie des Hauptdarstellers, den ruhigen, fast ereignislosen Szenen und dem vielen Platz, den Franco lässt, um eigene Ideen hineinzuinterpretieren. Bei Memory macht er es ähnlich. Die Art, wie Franco seine Filme reduziert, und wie er dabei nach eigenem System die Kamera einsetzt, mag bereits zu seiner unverkennbaren Handschrift geworden sein. Was dabei auffällt: Sobald seine Figuren in einen Konflikt geraten, zieht er sich zurück – wir sehen die Szene in der Totalen, distanziert und als stiller Beobachter. Sind die Gefühle im Reinen, hat Franco auch den Wunsch, sich zu nähern. Menschen, die negative Emotionen auslösen, stehen vorrangig mit dem Rücken zur Kamera oder werden erst gleich gar nicht gezeigt. Ein haarfeines, akkurates, psycho-symbolisches Konzept liegt hier vor, während – wie bei Sundown – all die Szenen in unerzwungener Konsequenz fast schon fragmentarisch aneinandergereiht werden. Nie werden diese auserzählt, sondern enden an dem Punkt, an dem wir selbst als Zuseher, ob wir wollen oder nicht, das Geschehen gedanklich ergänzen. Trotz der Bruchstücke – wie beim assoziativen Erinnern – entsteht so ein Ganzes, eine unaufgeregte, nicht karge, aber pietätvolle Erzählung, die mit lamentierender Schwermut nichts anzufangen weiß. Memory widmet sich einschneidenden Schicksalsschlägen, ohne die Schwere auszunutzen. Er erzählt sie anders, und probt damit das symptomatische Empfinden seiner eigenen Themen. Wie Film und Inhalt sich dabei ergänzen, ist wie Vergessen und Erinnern. In der Mitte liegt eine pragmatische Balance für ein gutes Leben.

Memory (2023)

Treasure – Familie ist ein fremdes Land (2024)

ERZÄHLEN, SO LANGE ES NOCH GEHT

8/10


treasure© 2024 Anne Wilk / Alamode Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2024

REGIE: JULIA VON HEINZ

DREHBUCH: JULIA VON HEINZ &, JOHN QUESTER, NACH DEM ROMAN VON LILY BRETT

CAST: LENA DUNHAM, STEPHEN FRY, ZBIGNIEW ZAMACHOWSKI, OLIVER EWY, TOMASZ WLOSOK, IWONA BIELSKA, MARIA MAMONA, WENANTY NOSUL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Wer von jenen, die alles erlebt haben, will schon gerne über die schlechte alte Zeit reden? Es sei denn, jene fühlen sich berufen, die Schrecken von damals als Warnung für die Zukunft unvergessen zu machen. Und auch, um das eigene Erlebte immer wieder on Neuem zu verarbeiten, weil man sonst daran ersticken könnte an so viel Traumata. Andere wiederum haben das Damals so weit verdrängt, dass es, eingeschlossen in eine dunkle Box irgendwo im Unterbewusstsein, als schreckliches Etwas, als ein ekelhaftes Monster, vor sich hin schlummert. Die Musikjournalistin Ruth scheint immer schon gewusst zu haben, dass hinter der guten Miene ihrer Eltern etwas Dunkles gelegen hat. Etwas, worüber niemand reden wollte. Mit diesem Vergessen und Verdrängen war auch die gesamte Familiengeschichte im Nirgendwo versunken – immerhin weiß Ruth, dass ihre Vorfahren aus Polen stammen. Und genau dorthin will sie zurück, ursprünglich allein, doch jetzt ist Papa Edek dabei, der seine Tochter nicht allein ziehen lassen will. Und mal abgesehen davon: Würde Ruth auch all die Orte wiederfinden, die mit ihrer Geschichte zu tun haben? Vermutlich nicht. Vermutlich hätte sie nur Łódź, Krakau und Auschwitz als Touristin besucht, jedoch nicht als jemand, der in nächster Generation mit dem Holocaust in Verbindung steht.

Die jüdisch-australische Autorin Lily Brett, deren Eltern ein ähnliches Schicksal durchmachen mussten wie Ruths Vater im Film, hat mit ihrem Roman Zu viele Männer tragikomische Reise- und Erinnerungsliteratur verfasst – Julia von Heinz (Und morgen die ganze Welt mit Mala Emde) hat sich dieser zeitlos relevanten Vorlage, die in den frühen Neunzigern spielt, angenommen und das Kunststück vollbracht, Situationskomik, die niemals zum Selbstzweck verkommt, mit zu Herzen gehender Melancholie, die niemals einer thematypischen Schwermütigkeit unterliegt, zu verbinden. Der Film Treasure – Familie ist ein fremdes Land widmet sich nicht in erster Linie den düsteren Erinnerungen und den Gräuel des Holocaust – eigentlich ist ihm diese Komponente gar nicht so wichtig. Viel relevanter wird dabei die gratwandernde Suche nach den Wurzeln, nach einer Identität und einem familiären Früher, welches vom Schutt späterer tragischer Schicksale vollständig erstickt wurde – auch all das Erbauliche, Schöne, Strahlende davor. Das Erinnern geht schließlich über den Holocaust hinaus, noch weiter in die Vergangenheit, in eine frühe Zeit, die es zu bewahren gilt. Und die von Ruth – in bezaubernder Authentizität und Natürlichkeit dargestellt von Lena Dunham – als Bruchstücke und Gegenstände gesammelt werden. Nebenher der alte Vater, liebevoll und nuanciert verkörpert von „Österreicher“ Stephen Fry (ja, er besitzt aufgrund seiner Vorfahren immer noch die österr. Staatsbürgerschaft), der mit polnisch akzentuiertem Englisch und der vorgespielten Leichtigkeit eines sorglosen Lebenswandels so manches Fettnäpfchen nicht auslässt und dabei an Peter Simonischeks schillernde Performance als Toni Erdmann erinnert. Wenn dann aber die Kamera den Mann mit verschwiegener Vergangenheit beobachtet, wie diesen die Rückkehr ins Damals erschöpft und ihn zeitweise fast schon lähmt, führt von Heinz ihre Figuren in die Tiefe, lässt sie ihrer inneren Box aus Empfindungen und Gedanken nahekommen. Auch Ruth erkennt im Laufe dieser wahrlich erkenntnisreichen Reise die Ursachen dafür, sich selbst im Wege zu stehen. Das alles wurzelt im Gestern, zwischen alten Mauern, unter feuchtnasser Erde, in der Kredenz im Haushalt einer polnischen Familie, die noch all das Zeug der Vertriebenen besitzt. Und dennoch geht’s dabei nicht um Reputation, Gerechtigkeit und Aufarbeitung. Es geht um Identität, Ursache und Erfahrung, ums Dokumentieren und dem Ergründen nachhaltiger, ein ganzes Leben prägender Veränderungen, die mit Europas Geschichte in Zusammenhang stehen.

Wenn Edek den Mantel seines Vaters in Händen hält, erfasst von Heinz die ganze Tragweite des Bedauerns und des Schmerzes. Moralisches Betroffenheitskino wird Treasure aber dennoch nie. Mit dem richtigen Respekt, dem Spürsinn für schräge Momente und einer fast schon improvisiert wirkenden Leichtigkeit regt der Film an, über die eigene Familiengeschichte nachzudenken. Und ob es noch Menschen gibt, die darüber etwas wissen könnten. Die Lust am Gespräch und am Erzählen weckt Treasure auf einzigartige Weise, mit Charme, Zuversicht und herzlichem Polen-Kolorit. Eine Mauer ist eine Mauer? Ein Mantel ein Mantel? Das Verstehen der Dinge hängt mit dem Ort zusammen, an welchem sie passiert sind. So öffnet das Reisen den Menschen.

Treasure – Familie ist ein fremdes Land (2024)

Exhuma (2024)

HEITE GROB MA TOTE AUS

5,5/10


Exhuma© 2024 Splendid Film


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2024

REGIE / DREHBUCH: JANG JAE-HYUN

CAST: KIM GO-EUN, CHOI MIN-SIK, LEE DO-HYUN, YOO HAE-JIN, JEON JIN-KI U. A.

LÄNGE: 2 STD 14 MIN


Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass kein einziger koreanischer Film jemals kürzer sein darf als zwei abendfüllende Stunden. Am liebsten sind Filme wie diese noch länger, am liebsten hängen sie noch eine halbe Stunde dran. Das bedeutet Sitzfleisch – und einen wachen Geist. Denn die Koreaner, die geben sich nicht damit ab, nur einen singulären Erzählstrang abzuarbeiten – mit anderen Worten: banales, simples Kino, das von Alpha bis Omega schön stringent seine Geschichte erzählt. Geradlinig darf sie sein, jedoch niemals nur eine Dimension besitzen. Da gibt es Meta-Ebenen und Stile, die sich gegenseitig übertrumpfen. Da gibt es Wendungen, Twists und kuriose Begebenheiten, kurzum: womöglich bleibt alles da, wo es drehbuchtechnisch sein soll. Andernorts hätte man schon das Publikum unterfordert und den Rotstift angesetzt, Passagen gestrichen und all die knackige Originalität eingekürzt. Eine Methode, wie es in der US-Filmbranche, zum Leidwesen eines unterschätzten und gähnend gelangweilten Publikums, immer wieder geschieht. Das stets geforderte koreanische Publikum indes ist schon von Kindesbeinen an mit Filmen großgeworden, die stets für Überraschung sorgen und keinen Publikumsparametern folgen wollen. Koreanisches Kino bleibt stets erfrischend. Bleibt immer anders. Und kann sich eben auch Filme wie Exhuma erlauben, die viel zu lange geraten, weil sie viel zu viel erzählen wollen.

Wenn man glaubt, bereits am Ende angelangt zu sein, ist schließlich erst eine Stunde verstrichen, was bedeutet, dass der vollgestopfte Schamanen-Thriller nicht mal noch Halbzeit erreicht hat. Dabei ist die Story schon erzählt, der Geist entfesselt, der Fluch getilgt. Nichts da – Regisseur Jang Jae-hyun weckt die Totenruhe nicht nur einmal, stört die metaphysische Ordnung im magischen Wäldchen auf ein neues. Bringt Unfrieden und will vom Bösen durchsetzte Grabstätten umbetten. Exhuma erzählt eine Menge, lässt beschwören, bekämpfen und besessen sein. Die zweieinhalb Stunden hängen sich rein.

Dabei ist es faszinierend, dabei zuzusehen, wie so ein schamanistisches Ritual abläuft, wenn tote Schweine aufgebahrt und eine bunt gewandete Spiritistin die Messer schwingt. Schließlich geht es darum, böse Mächte abzulenken, damit der schmuck verzierte Sarg des Ur-Patriarchen einer wohlhabenden koreanischen Familie, die längst in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist, ausgehoben werden kann. Denn deren Opa, der spukt schließlich herum und belegt den jüngsten Spross seiner Dynastie mit Flüchen, quält die Lebendigen mit Alpträumen und stänkert so richtig auf paranormaler Existenzebene durch die Gegend. Feng-Shui-Meister Kim ist bei dieser Aktion alles andere als wohl bei der Sache, die beiden Schamanen Lee und Oh können den alten, erfahrenen Experten aber davon überzeugen, diesen Auftrag durchzuführen. Dass dabei noch ganz andere Mächte zurück ins Diesseits beordert werden, damit hätte wohl niemand gerechnet. Die Welt der Götter wird gestört, noch viel Älteres betritt die Bühne der Gegenwart, dessen Existenz bis in die Zeit der japanisch-koreanischen Kriege zurückreicht.

Das Ensemble der Spezialisten steht bald mit dem Rücken zur Wand, es geistert und spukt, das Phantastische ist Jang Jae-Hyun aber näher als der schreckgespenstische Horror. Hätte Neil Gaiman ein Austauschjahr in Südkorea verbracht und dort so manche seiner magischen Anderswelt-Geschichten geschrieben, er hätte Exhuma entwickeln können. Und obwohl hier kaum Leerlauf herrscht in diesem Abenteuer, es immer was zu tun gibt und niemand wirklich zum Durchatmen kommt – Exhuma ist ein anstrengendes, wie bereits erwähnt überlanges und unruhiges Werk, welches knapp vor Filmmitte seinen bisher so geschmeidigen Erzählfluss verliert. Was dann folgt, ist eine fast schon neu erzählte, ganz andere Geschichte, die mit der vorangegangenen nur noch wenig zu tun hat. Zwei Schamanen-Stories im Doppelpack? Nach einer Laufzeit von einer Stunde und fünf Minuten lässt sich der Rest des Films gut vertagen.

Exhuma (2024)

Wald (2023)

IN DER EINSCHICHT LIEGT DIE KRAFT

7,5/10


wald© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE: ELISABETH SCHARANG

DREHBUCH: ELISABETH SCHARANG, INSPIRIERT VOM GLEICHNAMIGEN ROMAN VON DORIS KNECHT

CAST: BRIGITTE HOBMEIER, GERTI DRASSL, JOHANNES KRISCH, BOGDAN DUMITRACHE, LARISSA FUCHS, DAGMAR SCHWARZ, HEINZ TRIXNER, HEINRICH MAYR, MIEL WANKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Das im Norden Österreichs gelegene Waldviertel – ein dicht bewucherter Teil des Bundeslandes Niederösterreich, sagenumwoben und voller kulturhistorischer Hot Spots – sieht stellenweise tatsächlich so aus, als wäre man in Schweden oder Finnland – sanfte Hügel, Birkenpopulationen, natürlich jede Menge Nadelwald. Ein Eldorado für Baummeditationen und um Kraftquellen anzuzapfen (sofern man einen Zugang dazu hat). Kleine Dörfer säumen quadratkilometergroße Flächen des Grüns, und sobald die Tage kürzer werden, zieht Nebel auf. Da möchte man meinen, Geister herumspuken oder neolithische Ahnen aus dem Moor kriechen sehen. Metaphysich, sagenhaft. Im Selbstfindungs- und Psychodrama Wald, frei nach dem Roman von Doris Knecht, ist die magische Idylle etwas, das sich zu erschließen lohnt. Allerdings ist der Weg dorthin einer, der an verbohrten Dörflern und Menschen aus der Kindheit vorbeiführt. Er führt an Ablehnung, enervierendem Hass und scheinbar irreversibler Kränkung vorbei. Dort stehenzubleiben, wo es für den Moment kein Weiterkommen gibt, ist eine Eigenschaft, die Marian erst nach und nach lernen muss. Oder wiedererlangen. Denn sie kennt das verschrobene Volk hier, sie kennt die Leute, die sich entweder selbst nichts gönnen oder alles haben wollen, weil sie – wie in Wilhelm Penys und Peter Turrinis Alpensaga – unaufgefordert alle Regeln diktieren. Diesen Regeln muss Folge geleistet werden, so meint es immerhin Franz, einer der Gesichter, die Marian gut kennt, zumindest sieht sie Ähnlichkeiten in einem Konterfei, dass damals zwanzig Jahre jünger war.

Marian, eine mit Preisen ausgezeichnete, renommierte Journalistin, die an einem Ort wie diesen, dem Waldviertel, im Grunde nichts verloren zu haben scheint, hofft, zumindest das wiederzufinden, was sie wieder auf Spur bringt. Es ist das geerbte Haus ihrer Großeltern am Rande des Waldes und zehn Kilometer vom Dorf entfernt; ein alter, baufälliger Hof mit muffigem Inneren als Zeitkapsel eines verklärten Damals der Kindheit. Alles ist noch so, wie es früher war, nur das Dach ist undicht und Strom gibt’s längst keinen mehr. Genau dort, allen Bequemlichkeiten entsagend, sucht Marian die Geborgenheit von Leuten, die es nicht mehr gibt – bis auf eine. Jugendfreundin Gerti, die in sowohl unmittelbarer als auch ferner Nachbarschaft die Rückkehr eines verräterischen Lebensmenschen mit Wut im Bauch beäugt, ist Marian doch damals, nach dem Tod der Mutter, einfach verschwunden. Die Kunst ist es nun, die Mauer der Ablehnung zu durchbrechen, die von beiden Seiten langsam, zögerlich, aber doch, praktiziert werden wird, einen ganzen Herbst, einen ganzen Winter lang. Der Wald, dunkel und düster, aber nichts Böses wollend, sondern therapierend, sieht dabei zu. Die kultivierten Landschaften, das konservierte Gestern, und zwischendrin das Trauma eines Terroranschlags, ergeben das erfrischend ungefällige Gemälde eines fulminanten Heimatfilms.

Das in spätsommerlichen Farben gemalte Vergangene trifft auf eine kaltschnäuzige, pragmatische Gegenwart, das Landleben wurde bislang selten so grob aus dem Stein gehauen wie hier. Die Idylle eines Dorfes fehlt ganz, Elisabeth Scharang reduziert den Mikrokosmos auf das von Alkoholdunst getränkte Innere einer Gaststube, was nahezu beklemmend wirkt. Das inhärente Gedächtnis einer solchen wird auch in Lars Jessens Mittagsstunde befragt, ein ähnlicher, stiller, auf Metaebenen wandelnder Blick auf ein kryptisches Damals.

Befreit hingegen bleibt die Weite der Felder und die Möglichkeit, sich trotz des möglichen Abstands näher zu kommen. Die Idee hinter diesem Homecoming-Drama setzt Scharang in meisterlicher Effizienz in die Praxis um. Sie bündelt, was das österreichische Gemüt bewegt und wie es tickt, sie greift auf eine Weise den vor knapp drei Jahren in Wien wie aus dem Nichts hereingebrochenen Amoklauf eines Terroristen auf, sie holt sich Brigitte Hobmeier als unprätentiöses, authentisches Sprachrohr für eine ganz persönliche, aber niemals einsame Katharsis, die sie mit einer gewohnt greifbar agierenden Gerti Drassl teilt. Johannes Krisch ergänzt schließlich in gewohnter Qualität das Trio einer unfreiwilligen Selbsthilfegruppe der Angeknacksten, die letztlich vieles gemeinsam haben und sich in einem unverhofften Revival einander stärken. So bleibt Wald längst kein schwermütiges Bewältigungsdrama mehr, sondern die wunderschöne, wenn auch unbequeme Geschichte einer Freundschaft. Und über die Verantwortung Menschen gegenüber, die das eigene Leben irgendwann, und sei es auch nur für kurze Zeit, bereichert haben.

Wald (2023)

Mittagsstunde (2022)

HIGH NOON MIT DEM DAMALS

7,5/10


mittagsstunde© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2022

REGIE: LARS JESSEN

DREHBUCH: CATHARINA JUNK, NACH DEM ROMAN VON DÖRTE HANSEN

CAST: CHARLY HÜBNER, GRO SWANTJE KOHLHOF, PETER FRANKE, HILDEGARD SCHMAHL, GABRIELA MARIA SCHMEIDE, RAINER BOCK, LENNARD CONRAD, JULIKA JENKINS U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Gerade erst hat Schauspieler Charly Hübner sein Regiedebüt hingelegt – die Verfilmung von Thees Uhlmanns postmoderner Jedermann-Version: Sophia, der Tod und ich. Nur lebt und stirbt hier kein reicher Mann, sondern ein durch den Rost des Lebens gefallener Taugenichts, der selbst gegen den Sensenmann kaum Argumente gegen sein Ableben ins Feld führen kann. Die Idee einer Bad Batch aus Ex-Freundin, Mutter und Tod mag zwar witzig klingen, gerät aber zum Frosch im Hals. Weniger schwer schlucken muss Hübner allerdings als Schauspieler, und zwar ganz besonders um die Mittagsstunde, wenn es heißt, bei den Altvorderen nach dem Rechten zu sehen.

Mudder und Vadder, wie er sie nennt, leben mehr schlecht als recht in einem nordfriesischen Kaff fast schon jenseits der Zivilisation, in welchem die besten Zeiten längst vorbei sind, die Läden alle dicht gemacht haben und das Wirtshaus am Rande der Straße nur noch das Echo vergangener Full House-Abende erklingen lässt. Dieses gehört schließlich dem alten, geistig noch nicht ganz verwirrten Sönke Feddersen, seines Zeichens eben besagter Vadder von Ingwer (Charly Hübner), der sich eine Auszeit von seinem Job als Archäologieprofessor nimmt und vorübergehend ins für die Ewigkeit recht schlecht konservierte Nirgendwo zieht. Die leere Gaststube beherbergt jede Menge Erinnerungen, die Fassade des Kreislers, bei dem’s früher Eis am Stiel gab, vermittelt lediglich wehmütige Gedanken an eine Kindheit, in der eine junge Frau namens Marret (Gro Swantje Kohlhof) eine ganz gewisse Rolle innehatte. Nur welche, ist bis heute nicht klar. Ingwers Mutter (Hildegard Schmahl) wiederum leidet an hochgradiger Demenz und ist kaum mehr ansprechbar. Nicht nur, aber auch deshalb, will der wortkarge Professor eine gewisse unausgesprochene Schuld begleichen, deren Ursache sich erst nach und nach und viele Rückblenden später auch für den Zuseher erschließt.

Viel passiert nicht, in Lars Jessens Verfilmung von Dörte Hansens komplentativer Studie über Erinnerung und Vergänglichkeit. Die Zeit scheint dort oben im hohen Norden Deutschlands langsamer abzulaufen als sonst wo. Anfangs erscheinen Ingwers Eltern, insbesondere der Alte, störrisch, mürrisch und undankbar. Schwer, sich auch nur mit irgendeinem der Charaktere, die hier durch ein erschöpftes Leben schlurfen, anzufreunden oder den Drang zu verspüren, sich mit dieser Familie auseinandersetzen zu wollen. Doch Jessen lässt sich Zeit und weiß haargenau, welche Momente wann einen Einblick gewähren müssen. In Kombination mit einer längst vergangenen Zeit, einer wenig verklärten Siebziger-Zeitkapsel, die in immerwährenden narrativen Impulsen das Bild einer durchaus seltsamen Familie ergänzt, entsteht so eine unerwartete, fast schon überrumpelnde Nähe zu Menschen, die das Produkt ihrer Zeit, ihrer Pflichten und ihres sozialen Umfelds sind. Doch dieser realistische, völlig unverkrampfte Blick auf das Ungefällige, Introvertierte einer Gemeinschaft, birgt eine befreiende Ehrlichkeit, die fast schon zu intim scheint, um hier, in diesen Mikrokosmos, hineinblicken zu dürfen. Wie in Michael Hanekes gefeiertem Drama Liebe spiegelt das Alter nicht die Person wider, die mit dem körperlichen wie geistigen Zerfall umgehen muss, sondern nur deren verwittertes Fundament. Der Blick zurück auf die andere Zeitebene vollendet allerdings das Bild dieser Leute – und man beginnt zu verstehen.

Mittagsstunde ist pures, deutsches Kino, empfindsamer Heimatfilm und die trotzige Analyse einer Familie, die nicht so war, wie sie zu sein schien. Hinter all diesem vergilbten Fotoalbum voller sozialer Interaktionen führt das große Geheimnis geradewegs zu einem epischen, ganz großen Drama, doch immer noch still, unauffällig für andere, und gerne für sich. Kino, das niemanden braucht, aber wir es umso mehr.

Mittagsstunde (2022)