Sunset

HUTMACHER OHNE WUNDERLAND

4/10

 

sunset© Laokon Filmgroup – Playtime Production 2018

 

LAND: UNGARN, FRANKREICH 2018

REGIE: LÁSZLÓ NEMES

CAST: JULI JAKAB, VLAD IVANOV, EVELIN DOBOS, MARCIN CZARNIK, JUDIT BÁRDOS, SUSANNE WUEST U. A. 

 

Der ungarische Regisseur László Nemes wurde für sein erschütterndes Holocaust-Drama Son of Saul mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet. Kurze Zeit später hat Nemes gleich einen weiteren Film nachgelegt, der sich nicht weniger mit der europäischen Geschichte beschäftigt, dafür aber einige Jahrzehnte zurückdreht in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, in die beginnenden Zehnerjahre des 20ten Jahrhunderts sozusagen, als die Popstar-Kaiserin Sissi schon lange tot und der Kaiser Franz Josef sich bereits vermehrt schon gefragt hat, warum ihm denn eigentlich nichts erspart bleibt. Das Kaiserhaus aber ist in Sunset eine Mehrtageskutschenfahrt von Budapest entfernt. Die Vielvölkermetropole an der Donau legt ein frühlingshaft flirrendes Stelldichein an den Tag. Die Straßen sind voll mit gutbetuchten Grüppchen, die sich dieses und jenes leisten wollen, vielleicht auch einen dieser ausladenden Hüte, die es im entsprechenden Salon des Handelshauses Leiter zu bestaunen gibt. In diesen impressionistisch bebilderten Alltag zwischen sonnendurchfluteten Monetbildern und Aquarelle Rudolf von Alts bricht durch die homogene Kakophonie der Mieder, Zylinder und Steckfrisuren das Konterfei einer jungen Frau im Großformat, die mit unsteten Blicken nach ihrer Vergangenheit sucht, die nur im Hutsalon Leiter zu finden ist. Dort ist keiner erfreut, auf das Erbe dieses Unternehmens zu stoßen, das längst von anderen Leuten dirigiert wird. Der Name Leiter ist zur Familie non grata geworden, und das Gerücht, ein unbekannter Bruder treibe in der Stadt sein Unwesen, erhärtet sich.

Das klingt natürlich nach einer spannenden Familiengeschichte. Ein bisschen nach Der Engel mit der Posaune, und wenn man die ersten Minuten des Filmes bereits genossen hat, ließe sich sehr leicht der Stil eines Heimito von Doderers verbergen, der in seinen Romanen sehr viel Wert auf gesellschaftliches Ambiente gelegt hat, ohne den eigentlichen roten Faden seiner Beschreibung konsequent voranzutreiben. Doch ich bewege mich zusehends in Richtung Literatur und verlasse das Medium Kino – was László Nemes nach meiner resümierenden Empfehlung voll eher auch früher als später feststellen hätte sollen. Sunset ist nämlich zu einem zähen, narrativen Ungetüm verhoben worden, das sich sehr bald in vielen Manierismen festfährt, ohne das Kind beim Namen zu nennen.

Dabei ist sein visueller Stil anfangs von betörender, ja geradezu berauschender Art. Panoramen, wie man sie vielleicht erwarten würde, gibt es bei Nemes keine. Sein Kameramann Mátyás Erdély, der auch bei Son of Saul hinterm Sucher saß, komponiert mit sehr viel Objektivunschärfe diffuse Malereien in stark begrenzten Ausschnitten, man erahnt gepinselte Schemen flanierender Personen mit Sonnenschirmen, Kutschen im Hintergrund, die Unruhe einer Monarchie im Abendrot ist spürbar, erlebbar. Ganz vorne, stets zentriert, das Gesicht von Juli Jakab, einmal von vorne, einmal von hinten, dann wieder im Profil, meist mit Hut, und die Kamera weicht ihr nicht von der Seite, niemals, so hat es den Anschein. Bei über zwei Stunden Laufzeit ist dieser wechselnde Stil aus Unschärfe und Portraitaufnahme bald totgelaufen. Vor allem auch deswegen, weil Nemes seine Geschichte nur verhalten weiterbringt, seine Protagonisten meist im murmelnden Flüsterton reden lässt, Juli Jakab versteht man kaum. Der Historienfilm beginnt sich zu ziehen, die Bilder sind nach wie vor stimmig, verlieren aber das Interesse an dem, was sie visualisieren sollen.

Von der Endzeit einer verkommenen Monarchie will Sunset erzählen, von einer Götterdämmerung kaiserlicher Hörigkeit. Das konnte Axel Corti mit seiner phänomenalen Verfilmung des Radetzkymarsch viel besser. Mit Joseph Roth als literarischer Vorlage kann auch nicht viel passieren, seine messerscharfen Beobachtungen rund um den Ersten Weltkrieg sind zeitlos, niemals wehleidig und auf den Punkt gebracht. Nemes ergeht sich in selbstverliebter Schwammigkeit jenseits aller Griffigkeit und ohne fesselnde Akzente zu setzen. Will der Überdruss für ein Politsystem allerdings sein filmisches Pendant finden, dann ist mit Sunset der Wunsch nach dem Ende einer Epoche längst gut genug empfunden.

Sunset

Bernadette

KREATIV DURCH DIE KRISE

6/10

 

bernadette© 2018 Universum Film GmbH

 

LAND: USA 2018

REGIE: RICHARD LINKLATER

CAST: CATE BLANCHETT, BILLY CRUDUP, KRISTEN WIIG, EMMA NELSON, JUDY GREER, LAURENCE FISHBURNE, STEVE ZAHN U. A. 

 

Da sieht man mal wieder, das Geld allein überhaupt nicht glücklich macht. Diese Frau, Bernadette, hat alles, was man nur haben kann. Einen Gatten, der mit Microsoft (Achtung: dieser Film kann Produktplatzierungen enthalten!) große Kohle macht. Eine kluge Tochter, ein herrschaftliches Anwesen, da wird selbst die Addams Family neidisch. Und wenn Familie Fox mal in die Antarktis will, dann fliegt sie einfach in die Antarktis. Kostet doch nur mehrere tausend Dollar pro Person, das zahlt die Portokassa.

Bernadette, die war mal eine berühmte Architektin, eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Eine Visionärin und kreativer Kopf, wie es kaum einen zweiten in dieser fiktiven Realität gegeben haben kann. 18 Visionen will diese, bezugnehmend auf ihre Namensvetterin aus Lourdes mit ihren 18 Sichtungen, umsetzen. Doch schon Idee Nr. 2 hat ein trauriges Schicksal erleiden müssen. Und seitdem gibt’s keine Entwürfe mehr. Familie, Kind und Eigenheim, sowieso sehr extravagant und nach eigenem Geschmack eingerichtet, sollte zukünftig reichen. Tut es aber nicht. Eine Künstlerin wie Bernadette, die wird da ganz unrund. Wenn ein Sonderling also in die Midlife- bzw. Existenzkrise schlittert, dann haben wir es meist mit Woody Allen zu tun. Nein, diesmal ist es aber Cate Blanchett als verschrobene Sonnenbrillenträgerin (auch wenn’s bewölkt ist) und Hassobjekt der Nachbarin. Irgendwas muss sich ändern. Und wenn es die Reise an den Südpol ist, wovon die an Sheldon Cooper erinnernde Neurotikerin nur alpträumen kann.

Talk King und Coming of Age-Guru Richard Linklater meldet sich wieder zu Wort, und ja, auch relativ wortgewaltig. Gesprochen und diskutiert und natürlich auch gejammert wird viel, wie gesagt fast schon in Woody Allen´scher Manier, aber längst nicht so beseelt von raffiniertem Allerwelt-Zynismus. Cate Blanchett sucht ihre Identität, zwischen allerlei Baukunst, fenzy Interieur und auf Kosten vieler. Egoismus kann man ihr nicht wirklich vorwerfen – oder doch? Weltfremdheit zumindest? Ja, die vielleicht. Also sucht sie sich und ihre Leidenschaft fürs Leben, und gemäß der Weisheit, die uns auf jedem einschlägigen Spruchkalender, sofern wir einen haben, morgendlich entgegensinniert, bedarf es manchmal eines Orts- bzw. Perspektivwechsels. Hatte ich nicht die Antarktis erwähnt? Genau – dorthin verschwindet Bernadette plötzlich. Ohne Auf Wiedersehen zu sagen. Gut, wenn schon Auszeit, dann richtig. Allerdings hat Linklater aufgrund seines womöglich begrenzten Budgets Grönland der ewigen südlichen Eiswüste den Vorzug gegeben. Die Pinguine sind wahrscheinlich aus dem Tiergarten. Aber sei´s drum, so viel Low Budget muss sein. Es geht doch um die Message dahinter. Um den Frust von in die Enge getriebener Künstler. Die, sofern sie nicht was weiß ich was kreieren können, anderen auf den Wecker fallen.

Bernadette ist ein filmgewordenes Unterschriftesammeln für ein Mehr an Verständnis für jene, die nicht unbedingt das Rad neu erfinden, aber neu gestalten können. Die für mehr frischen Wind sorgen können – wenn man sie lässt – oder sie sich selbst lassen. Natürlich findet da Cate Blanchett vorzüglich in ihre Rolle, vielleicht aber auch, weil sie ein bisschen selber so sein könnte. Exaltiert, abenteuerlustig, und manchmal, wie jeder Mensch auch, von liebenswürdiger Nervigkeit.

Bernadette

Monstrum

WHO LET THE DOG OUT?

5,5/10

 

monstrum© 2018 Koch Films

 

LAND: SÜDKOREA 2018

REGIE: HUH JONG-HO

CAST: PARK SUNG-WOONG, MYUNG-MIN KIM, KIM IN-KWON, WOO-SIK CHOI U. A. 

 

Bong Joon-Ho ist nicht der einzige Südkoreaner, der im Kino seine Monster versteckt. Mit The Host hatte er ein selbiges auf sein gleichsam verblüfftes wie begeistertes Publikum losgelassen, später wurden die Monster dann zu ganz normalen Menschen. Gegenwärtig scheinen Monster ins Reich der Legenden befohlen worden zu sein, wo sie in Monstrum auch hingehören. Kein wirklich ausgefallener Titel für einen Film, der von einem Monster erzählt, aber dafür macht er auch keine leeren Versprechungen. Dieser nationale Blockbuster, der einen Monat nach seiner Premiere im Kino bereits online zu streamen war, dreht die Uhr um einige Jahrhunderte zurück – wir befinden uns im Mittelalter nämlichen Landes, genauer gesagt im Jahr 1527 zur Zeit der Joseon-Dynastie. Und wie es zu diesen Zeiten oft der Fall war, wüten gerade irgendwelche Epidemien, schlimmstenfalls die Pest. Die suhlt sich also am Ende der Befehlskette, und könnte auch irgendetwas mit seltsamen Begebenheiten aus der montanen Wildnis zu tun haben. Ein Monster, so sagt man, geht um. Und der Kaiser befiehlt, einen Trupp loszuschicken, seine besten Krieger und auch noch solche, die früher mal gedient haben und in Ungnade gefallen sind. Persona non grata hin oder her, manche können einfach gut kämpfen, und wieso sollte man sie nicht wieder rekrutieren. Für ein blutrünstiges Ungeheuer reicht es allemal.

Interessanterweise wurde der Film durch einen Eintrag in den Annalen nämlicher Dynastie inspiriert – kann also sein, dass Sichtungen unbekannter Tierarten die Fantasie der Leute beflügelten. Von nichts kommt natürlich nichts, und wir haben es hier mit diesem Ungetüm auch mit einem – vorrangig bei Touristen oder Asia-Kennern – alten Bekannten zu tun. Doch nein, es ist nicht Godzilla, keines dieser Kaijus. Ihr kennt doch sicher alle diese drachenähnlichen Tempelhunde, die als steinerne, hölzerne oder aus Porzellan gefertigte Wächter sämtliche Portale asiatischer Heiligtümer flankieren. Richtig, das sind sogenannte Haitais, in China nennt man die Xiezhi. Endlich hat solch ein kultiger Geselle auch seinen eigenen Film bekommen, und er darf wüten und brüllen und Menschen zerreißen und was weiß der Teufel was sonst noch alles. Ein gepflegter, groschenromanartiger Fantasyfilm ist das geworden, jedenfalls feine Ausstattung, tolle Gewandungen und gut getrickst. Intrigen gibt’s auch, wie immer am Hof der Mächtigen. Ist nun mal so ein Monster da, kann es natürlich auch für sinistere Zwecke missbraucht werden, denn der Tempelhund per se ist ja prinzipiell nicht vorsätzlich bösartig. Vielleicht krank, vielleicht einsam… näheres wird man herausfinden.

Insgesamt aber bietet Monstrum kaum etwas Neues, außer Haitai eben. Weder ist das Abenteuer sonderlich spannend, noch hat es das gewisse Etwas. Pro- und Antagonisten sind austauschbare Stereotypen aus einem Genre vom Fließband. Aber immerhin: wer statt auf Mantel- und Degenfilme auf lederne Schuppenpanzer- und Schwerterfilme steht, kann darin sein Glück finden. Und bevor Monster-Nerds alle Monster ausgehen, wäre der Streifen auch für sie ein gefundenes Fressen.

Monstrum

Asche ist reines Weiß

DIE WAFFE EINER FRAU

7,5/10

 

aschereinesweiss© 2018 Neue Visionen

 

LAND: CHINA 2018

REGIE: JIA ZHANG-KE

CAST: ZHAO TAO, LIAO FAN, XU ZHENG, DIAO YINAN, FENG XIAOGANG U. A.

 

Vermehrt hat man nun von der Besonderheit des südkoreanischen Kinos gehört. Zu Recht natürlich – Parasite war ja in aller Munde, und das Werk ist auch wirklich sehenswert. Die Verknüpfung poetischer Narrative mit bizarren Spitzen ist für dieses Filmland wirklich etwas ganz Eigenes. Und wird auch gerne an anderer Stelle weiter ausgeführt. Denn hier, in dieser Rezension, geht’s ausnahmsweise wieder mal um das Filmland China. Das natürlich auch schon längst einen Ruf zu verlieren hat. Ganz wichtig und prägend natürlich Yang Zhimou, Chen Kaige und Wong Kar Wai, um nur einige zu nennen. Mittlerweile aber sind viele nach Hollywood oder sonst wo ausgewandert – aber auch wieder zurückgekehrt, wie John Woo. Wuxia-Filme dominierten in der letzten Zeit vermehrt das lokale Kino, das chinesische Mittelalter geht immer. Als Mitproduzent größerer US-Produktionen funktioniert China natürlich ebenso. Ist ja schließlich ein riesengroßer Absatzmarkt, manches läuft dort sogar besser als in den USA, das darf man nicht vernachlässigen. Vernachlässigen darf man aber auch nicht die langsame Rückkehr zum chinesischen Erzählkino, das mit der Kinoprosa Asche ist reines Weiß ein ordentliches Lebenszeichen von sich gibt.

China kann genauso gut Filme erzählen wie Südkorea. Jin Zhang-Kes Film ist ein blendendes Beispiel dafür. Sein Liebesepos spannt sich über fast ein Jahrzehnt und nimmt seinen Anfang in der Provinz Shanxi, in der das organisierte lokale Verbrechen so seine Finger überall mit im Spiel hat. Einer dieser Männer fürs Grobe ist Bin, und der hat eine Freundin, Qiao, die nicht von seiner Seite weicht und sich erst im Kontext mit männlicher Macht und Selbstbewusstsein so richtig lebendig fühlt. So eine Unterwelt allerdings existiert nicht ohne Konkurrenz – also wird Bin eines Nachts während der Heimfahrt mit dem Wagen auf offener Straße überfallen. Was für ein Glück, dass Qiao von einer Waffe weiß, die sich im Auto befindet – und so ihrem Freund das Leben retten kann. Dumm nur, dass in China illegaler Waffenbesitz verboten ist, doch um Bin zu schützen, nimmt Qiao die Schuld auf sich.

Diese Waffe allerdings ist wie die Büchse der Pandora in der griechischen Mythologie oder der Ring bei Tolkien das Ding, um das sich alles dreht, und das den Wendepunkt zweier Leben einläutet. Wäre die Waffe nicht, gäbe es keinen Film. Dieses Objekt der Macht, dieser autoritäre Apparat der Selbstbehauptung, wird zur Waffe einer Frau, die sich von nun an und trotz aller Schwierigkeiten emanzipieren wird. In richtigem Tempo und mit sehr viel Empathie für seine Sozialheldin ordnet er geschlechterspezifische Klischees neu um, versieht die Weiblichkeit mit viel mehr Ausdauer und Ehrgefühl, lässt sie nicht in Selbstmitleid versinken wie das Männliche. Dort, im Patriarchat, ist nicht viel mehr zu finden als Scham und verletzter Stolz. Niemals, so scheint es, kann die Frau den Ton angeben, weil das Leiden des Mannes dafür zu groß wäre. Doch warum eigentlich? In welchen hanebüchenen Schraubstöcken steckt das veraltete Rollenbild denn fest?

Schauspielerin Zhao Tao, stets adrett gekleidet und mit westlichen Einflüssen sympathisierend, ist nicht nur ihrer feinen Gesichtszüge wegen faszinierend genug, um einen über zwei Stunden dauernden Film stellenweise sogar im Alleingang zu tragen. Sie schafft es mit strenger innerer Balance, diese Schraubstöcke aufzudrehen. Selbstbehauptung und das Finden einer ganz eigenen Identität sind hier das Crescendo einer eleganten Verliererballade, in klaren Panoramen quer durch das asiatische Land, sehr beobachtend, aber niemals mitleidend. Ein kühler, fast sachlicher Film und dennoch über die Liebe, die einer Neuordnung gesellschaftlicher Standpunkte nicht standhalten kann.

Asche ist reines Weiß

Ophelia

EIN JEDI AM KÖNIGSHOF

5/10

 

OPHELIA_D1_051517_DSC9651.NEF© 2018 Koch Films

 

LAND: USA, GROSSBRITANNIEN 2018

REGIE: CLAIRE MCCARTHY

CAST: DAISY RIDLEY, GEORGE MACKAY, NAOMI WATTS, CLIVE WOWEN, TOM FELTON, DAISY HEAD U. A. 

 

Mit dem letzten Drittel der Star Wars-Saga ist sie als Rey Namenlos in die Filmgeschichte eingegangen: Daisy Ridley. Ja tatsächlich, da hatte sie das letzte Wort, in einer starken Heldinnenrolle, die zumindest mich vollends überzeugt hat. Da Star Wars jetzt vorbei ist, und sie auch womöglich niemals wieder in die Rolle eines Jedi schlüpfen wird, erscheint nun eine bereits zwei Jahre alte, aber immerhin eine ganz andere Produktion, um die Schauspielerin auch gleich rollentechnisch anders zu positionieren, sonst wiederfährt ihr Gott behüte das gleiche wie Mark Hamill, der nach dem Hype der Originaltrilogie im Filmbiz nur noch schwer Fuß fassen konnte. Ihre neue Alternativrolle ist aber auch nichts, was man nebenbei spielt. Es hat mit Shakespeare zu tun, und noch dazu gleich mit einem seiner berühmtesten und massentauglichsten Stücke neben Romeo und JuliaHamlet. Aber keine Sorge, die Interpretation der Geschichte des verhinderten Dänenprinzen ist kein weiterer wortgetreuer Aufguss in vielleicht modernem Gewand. Diese Geschichte hier wird ganz anders erzählt. Und da sind wir wieder bei Daisy Ridley, die sich eine nicht weniger schillernde Rolle als ihre Rey hernehmen muss: die der Ophelia. Was mir dabei immer gleich einfällt, ist das berühmt Zitat: „Geh in ein Kloster, Ophelia!“ Ja klar, letzten Endes wird sie das tun, aber bis dahin passiert so einiges Tragisches, diesmal aber aus Sicht des weiblichen Sidekicks. So etwas Ähnliches gab es auch schon, nur nicht aus der Sicht einer Frau, sondern aus der Sicht der beiden Haudegen Rosenkranz und Güldenstern, nach einem Theaterstück von Tom Stoppard (siehe Shakespeare in Love). Doch diese beiden bekommt man in dieser Verfilmung kaum zu Gesicht. Denn die Kamera, die ist voll und ganz auf Daisy Ridley gerichtet.

Aus gutem Grund, denn sie macht eine außerordentlich gute Figur. Mit ihrer roten Mähne, leicht dauergewellt (erinnert ein bisschen an Cate Blanchetts Version der Elizabeth I.) und meist in grünem Kleid. Weiters ein heller Blick, nonkonform und mit Sinn für Humor. Klar, dass Hamlet voll drauf abfährt. Den spielt übrigens der Soldat aus Sam Mendes Kriegsfilm 1917 – George MacKay. Doch den Irrsinn und den Rachedurst dieses Bühnenhelden, so wie wir ihn kennen, den hat er nicht. Wäre aber nicht so tragisch, all diese Intrigen mitsamt dem Niedergang eines Königshauses ist schon tragisch genug, und außerdem handelt Claire McCarthys Kostümschinken ja vermehrt von Ophelia. Ein bisschen duckmäuserisch ist diese angesichts der dominanten Blaublüter innerhalb der herrschaftlichen Mauern schon, doch mit Sicherheit ist das dem Steckbrief der Rolle geschuldet. Auf Abruf und nur nicht auffallen, das kann Daisy Ridley auch gut, doch spätestens aber, wenn der an die Macht geputschte Clive Owen mit Javier Bardem-Gedächtnisfrisur handgreiflich wird, geht der Star Wars-Star ein bisschen aus sich heraus, obwohl –  der gespielte Wahnsinn will auch ihr nicht so recht gelingen. Was zum Rest des Films passt. Denn Ophelia, nach der Vorlage eines Liebesromans von Lisa Klein, bemüht sich sichtlich, nicht ganz so gestelzt seine Anweisungen aus dem Regie-Off durchzuführen. McCarthys Film ist ein Spielen nach Vorschrift, ein bisschen wie ein Sommertheater auf irgendeiner Ruine, wo nebenbei noch Gefrorenes geschleckt oder Spritzer gerunken werden. Nachher flaniert man gemütlich durch den lauen Abend, ohne Eile. Oder trifft die Stars noch auf ein Autogrammstündchen. Gegen diese volkstümliche Attitüde sprechen natürlich all die üppigen Requisiten, und auch diese besonders illustre Besetzungsliste, in die sich auch noch Naomi Watts reinschummelt, und zwar in einer Doppelrolle. Blass bleiben sie fast alle, blass und leicht verloren, und kein bisschen gewillt zu improvisieren.

So lässt sich irgendwie verstehen, dass Ophelia fürs Heimkino allemal reicht. Da sind ganze Regentschaften zwischen diesem und Filmen wie Shekhar Kapurs Elizabeth. Für Fans von Daisy Ridley allerdings ist Ophelia fast ein Muss. Ob die ganze klassische Tragödie aus der Sicht von Hamlets Flamme wirklich so einen erfrischenden Perspektivwechsel darstellt, bleibt aber fraglich.

Ophelia

The Kindergarten Teacher

DIE MOZARTS VON HEUTE

7,5/10

 

kindergartenteacher© 2018 Koch Films

 

LAND: USA 2018

REGIE: SARA COLANGELO

CAST: MAGGIE GYLLENHAAL, PARKER SEVAK, GAEL GARCIA BERNAL, ROSA SALAZAR, MICHAEL CHERNUS U. A. 

 

Bist du ein Naturtalent, musst du dieses Können nutzen – und etwas daraus machen. Natürlich, klingt irgendwie logisch. Die Frage ist nur, ob man das, was man gut kann, auch wirklich können will. Das wäre natürlich sinnvoll, denn wenn dir etwas leichtfällt, ist das schon die halbe Miete auf dem Weg zum Ruhm. Blöd wird’s dann, wenn du kein Talent hast für etwas, was du aber gerne machen willst. Du tust es – für dich. Allerdings kräht dann kein Hahn danach. Was macht das mit dem eigenen Ego? Nichts Gutes. Besser man lässt es. Oder konzentriert sich auf die, die´s können, aber vielleicht noch zu klein sind, um den Fuß schon in die Tür des Erfolges zu setzen. Sowas hat man mit Mozart auch getan. Mozart ist auf ewig berühmt. Das Genie schlechthin. Die Kindheit dankt für ihre Auszeit, denn die war nicht vorhanden. Das sind halt die Opfer, die ein Wunderkind bringen muss, mag es auch für die Zukunft schaden. Doch anerkannt zu werden, vor allem in Zeiten der Likes und Reactions und Followers, das ist es einfach wert, ungeachtet der Frage, ob es das eigene Leben wirklich braucht oder nicht.

Wenn ein Pädagoge also ein Kind entdeckt, mit unglaublichem Potenzial, das nach Förderung schreit – was tut man da? Und was tut man, wenn dem Kind genau dort der Meister vom Himmel vor die Füße gefallen ist, wo man selbst versagt? Maggie Gyllenhaal als Kindergartenpädagogin steht vor genau dieser unfassbaren Tatsache, einen sechsjährigen Jungen in ihrer Gruppe zu haben, der aus dem Stegreif die schönsten Gedichte formuliert. Die Pädagogin staunt, ist über alle Maßen begeistert – und weiß: wird das Kind nicht gefördert, dann ist das Verschwendung. Sie schreibt die Gedichte also auf – und trägt sie im eigenen Poesie-Kurs vor. Die Kollegen sowie auch der Lehrer sind nicht weniger sprachlos. Was sie aber verschweigt, das ist deren Herkunft. So genießt sie diese Anerkennung ganz für sich, während sie gleichzeitig versucht, den Knaben für den kommenden Erfolg zu rüsten, der ihm als genialen Poeten in die Wiege gelegt worden sein muss. Das Problem: den Eltern ist das relativ egal. Wichtig ist nur, dem Jungen geht’s gut. Mit Talent aber, so denkt Maggie Gyllenhaal, geht man nicht so um. Sagt eine, die den Neid aufs Kind mit obsessiver Behütung kompensiert.

In ähnlichen Filmen wie Jodie Fosters Wunderkind Tate oder Begabt mit Chris Evans waren die Kids mit ihrer Hochbegabung nicht alleine, zumindest ein Elternteil hatte da ein Auge drauf. In The Kindergarten Teacher, des Remakes eines 2014 erschienen isaraelischen Films, sind es nicht die Eltern, sondern eine Fremde – und das hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Maggie Gyllenhaal agiert als vom eigenen Nachwuchs ignorierte Mutterfigur in der Existenz- und Erziehungskrise mit befremdender Beharrlichkeit und verstörendem Idealismus. Ihre Figur hat Tendenzen zu Robert De Niros verzweifeltem Ringen nach Anerkennung in Martin Scorseses The King of Comedy. Andererseits aber moderiert sie erstaunlich ambivalent die Überlegungen dieses wirklich bemerkenswerten Independentdramas, das über der alltäglichen Selbstbehauptung in einer Leistungsgesellschaft nachdenkt, in dem der Wert eines Menschen lediglich an seinem Können, und nicht an seinem Charakter bemessen wird. Wo Talent alles ist, und ein glückliches, zufriedenes Leben, das für einen selbst genug ist, immer weniger bedeutet.

The Kindergarten Teacher

A Quiet Place

HAST DU TÖNE!

6,5/10

 

null© 2018 Paramount Pictures

 

LAND: USA 2018

DREHBUCH UND REGIE: JOHN KRASINSKI

CAST: EMILY BLUNT, JOHN KRASINSKI, MILLICENT SIMMONDS, NOAH JUPE U. A. 

 

Besser spät als nie: den Überraschungshit von Ehepaar Krasinski/Blunt kann ich nun endlich von meiner Watchlist streichen. Die Kritikerstimmen aus dem Off ließen sich ja damals schwer ausblenden. Von innovativ bis sauspannend war alles zu hören. Ich ging in diesen Film also nicht ohne Vorbehalt und nicht ohne einer aus medialer Beeinflussung resultierender Erwartungshaltung. A Quiet Place also. Horror vom Feinsten? Eigentlich – und zum Glück für mich – weniger.

John Krasinksis Idee ist natürlich genial. Er schafft eine alternative Realität, in der wie mit dem Finger geschnippt (ähnlich wie bei Thanos) eine wenig autochthone Spezies auftaucht, die urplötzlich am Ende der Nahrungskette steht. Ein Bio-Invasor allererster Güte, da können sich Kaninchen, Langschwanzmakaken oder all die Nachtbaumnattern auf Guam einiges abschauen. Aber nicht, dass man sich nun ein Invasionsszenario wie in Independence Day vorzustellen hat, nein. Das ist nicht das Einfallen einer intelligenten Zivilisation, ganz im Gegenteil. Diese Kreaturen sind Tiere niedrigsten Instinkts. Blinde Carnivoren, die nur eines verdammt gut können – na gut zwei Dinge – mindestens so gut hören wie eine Fledermaus und tödliche Ohrfeigen verteilen. Ich denke mal da spürt man fast nichts, denn diese artspezifische Maniküre macht jeden Widerstand zwecklos. Wenn diese Viecher also nichts hören, ist alles gut. Leise sein ist die oberste Devise. Das sind natürlich Einschränkungen, so will keiner leben. Aber es muss, anders geht’s nicht. Musik schallt nur mehr via Ohrstöpsel, und die Gebärdensprache ist das neue Englisch.

Die trauernde Familie Abbott (zu Beginn des Films gibt’s gleich den ersten Schicksalsschlag) hat es sich also fernab urbaner Gefilde recht kommod eingerichtet. Sie bewältigen den Alltag, die Kreaturen sind allgegenwärtig. Größtes Problem allerdings – und darauf hängt Krasinski seinen Spannungsbogen auf – ist die Schwangerschaft von Emily Blunt. Mehr brauche ich dazu nicht sagen: Babys schreien nun mal, wenn sie auf der Welt sind, und die Geburt selbst verläuft vermutlich auch nicht gerade im Flüsterton. Hier tut sich für mich schon das erste große Fragezeichen auf: warum nur wird Frau während dieser konstanten Katastrophe schwanger? Es ist ja nicht so, dass sie vorher schon, bevor das Fingerschnippen eingesetzt hat, schwanger wurde – nein. Sondern während bereits alles im Argen lag. Man muss mit der Krise leben, schon klar, aber ich mach´s mir nicht schwerer als es ohnehin schon ist. Was noch seltsam und gleichzeitig nicht ganz so durchdacht anmutet: der Film gewährt uns einen Einblick rund eineinhalb Jahre nach der – sagen wir mal – Invasion, und der Mensch mit seinem Stand des Wissens und der Technik hat es nicht geschafft, herauszufinden, womit man den Tieren Herr werden kann? Während der Koexistenz von Mensch und Tier haben es erstere ohnehin nicht nur einmal geschafft, ganze Spezies auszurotten. Das Halali zur Jagd überhört Homo sapiens nur ungern, Waffen sind genug gebunkert, das ganze Militär wäre endlich für etwas gut. Bio-Invasoren gehören natürlich verdrängt, um das Ökosystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

In A Quiet Place hat die globale Bevölkerung anscheinend keinen Finger gerührt. Sei´s drum, vielleicht sollte man hier nicht allzu viel über plausible Gegebenheiten nachdenken, vielleicht ist unsere Zivilisation schon von etwas ganz anderem vernichtet worden. Einblicke und Erklärungen gibt’s in diesem Film bis auf ein paar Spickzettel im Office des Papas keine. Das ist fast zu wenig. Aber gut. Was zählt ist die Idee, und die kostet Krasinski 90 Minuten lang aus. Wichtig ist ihm hier das Element des Hörens und Gehörtwerdens. Die Toneffekte sind genial, aus der absoluten Stille heraus werden gar leise Knackgeräusche zum explosiven Kick-off aus der Resignation. Weder Blunt noch Krasinksi noch sonst wer sind die Stars des Films, sondern der Sound. Das alleine ist ein Kunststück. Es ist das Duell zwischen einer aphonen Welt und dem Weltreich des Klangs. Das birgt jede Menge faszinierende Szenen, und nicht zuletzt ist auch das Wesen selbst ein dringend zu offenbarendes Ergebnis kreativer Creature-Designer, die ein Hör-Wesen geschaffen haben, das so noch nie zu sehen war. Für mich als Monsterfan eine Augenweide, fast schon so gut wie Gigers Xenomorph. Leise durch die Gegend tapsen werde ich nach diesem Film aber trotzdem nicht. Weil Geräusche können täuschen, traue ihnen nicht 😉

A Quiet Place

Geheimnis eines Lebens

PATT FÜR DEN WELTFRIEDEN

4/10

 

geheimniseineslebens© 2019 eOne Germany

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 2018

REGIE: TREVOR NUNN

CAST: JUDI DENCH, SOPHIE COOKSON, TOM HUGHES, STEPHEN CAMPBELL MOORE U. A.

 

Da jätet man im Vorgarten sein Unkraut, und macht es sich sonst so im betagten Alter bequem, da holt einen plötzlich die Vergangenheit ein – und das mehrere Jahrzehnte später. So passiert bei Judy Dench im Film Geheimnis eines Lebens, oder wie im Original noch treffender: Red Joan. Warum dieses? Warum ist diese Joan eine rote? Rot, das sind die Sozialisten, und Rot ist auch der Kommunismus, und der war ein Dorn im Auge aller anderen Großmächte, nur nicht Russlands. Das, woran sich Joan Stanley erinnert, das ist die finstere Zeit des Wettrüstens, des Entwickelns und Ausbaus der verheerendsten Waffe der Menschheitsgeschichte: Der Atombombe.

Diese Joan Stanley aber, die hat es nie gegeben. Eine Person mit dem Namen Melita Norwood aber schon – und die hat genau das gemacht, was für Judy Dench Jahrzehnte später während eines gemütlichen Tages in der Pension wie ein Damoklesschwert plötzlich niederfährt. Um wegen Spionage ins Zuchthaus zu wandern, dafür ist man nie zu alt. Spione, das sind die Personas Non Grata schlechthin, auch wenn ihr Beweggrund dafür ein redlicher gewesen sein mag – oder einer, der den Weltfrieden gewährleistet hat, zumindest für einige Zeit. Aber Verräter ist Verräter, da geht’s laut Staat irgendwie ums Prinzip. Und die alte Joan Stanley aka Dench, die in einem auffallend devastierten Zustand und mit grabentiefem Faltenwurf da vor dem Verhörkommando sitzt, erzählt ihre Geschichte. Dumm nur, dass Regisseur Trevor Nunn für die junge Spionin Joan die Schauspielerin Sophie Cookson gecastet hat – die nämlich mit der Intensität ihrer Rolle nur sporadisch zurechtkommt. In den Anfangsszenen vielleicht, aber längst nicht mehr dann, wenn das Netzwerk von Spionage, Verrat und Übergabe so richtig ins Rollen kommt. Gut, nicht jeder Spion kann mit Mark Rylance besetzt werden, der in Spielbergs Bridge of Spies der absolut Richtige für diesen Job war. Oder mit Ulrich Mühe aus Das Leben der anderen. Weibliche Spione lassen sich mit Rylance aber leider nicht besetzen, und junge Spioninnen schon gar nicht. Cookson erreicht hier einfach nicht die Tiefe, die für diese Figur wünschenswert gewesen wäre. Und auch die Kompanie der männlichen Nebendarsteller, die sich um Cookson scharen, entwickeln kein Charisma, haben kaum eine Biografie. Das ganze Ensemble bedient sich grundsoliden Stereotypen, die schon hundertmal ihren Auftritt hatten, die aber im Grunde nicht so viel Schaden anrichten, um einen Film so richtig zu vermasseln.

Ganz vermasselt ist Geheimnis eines Lebens demnach eben nicht. Die Story mag schon interessant sein, die Prämisse dahinter, mit einer Pattsituation unter den Großmächten den Frieden zu sichern, indem die Pläne der Atombombe wie ein Wanderpokal an Russland weitergereicht werden, ist so radikal wie mutig und von einer frappanten Logik. Aber dennoch – Trevor Nunns Spielfilm (normalerweise ist der Mann Indendant der Shakespeare Company und im Theater zuhause) ist nicht mehr als ein zögerliches Fernsehfilmereignis als BBC-Bildungsauftrag, der wie ein Postit an jedem Kader des Films hängt. Warum darin Melita Norwood plötzlich anders heisst, kann mir auch keiner erklären, vielleicht hat das etwas mit Namensrechten zu tun, wer weiß. Nachkommen der britischen „Mata Hari“ gibt es ja. Doch das ist das geringste Problem. Ein Fall wie dieser hat filmtechnisch mehr Sorgsamkeit verdient. Und weniger das Prädikat eines uninspirierten Schulfernsehens, schauspielerisch wie inszenatorisch.

Geheimnis eines Lebens

Girl

I AM WHAT I ´M NOT

7,5/10

 

girl© 2018 Menuet

 

LAND: BELGIEN 2018

REGIE: LUKAS DHONT

CAST: VICTOR POLSTER, ARIEH WORTHALTER, VALENTIJN DHAENENS U. A. 

 

Die Regenbogenparade wird heuer leider ausfallen, der Live Ball sowieso, denn den gibt es nicht mehr. Dass beides aber prinzipiell möglich wäre und in unserer Verfassung nicht verboten ist, dass sogar gleichgeschlechtliche Ehen möglich sind und sich Homosexuelle nicht zu verstecken brauchen, ist lobenswert, sollte aber ohnehin selbstverständlich sein. Ist man homosexuell, so stößt man zumindest hierzulande oder in Staaten mit höherer Bildung und einer offenen Demokratie mal prinzipiell nicht auf Schwierigkeiten. Richtig schwierig wird es aber dann, wenn es gar nicht mal vorrangig um sexuelle Orientierung geht, sondern darum, im falschen Körper zu sein: zum Beispiel Männer, die sich als Frau fühlen und auch so leben wollen. Dabei reicht es einfach nicht, nur feminine Kleidung zu tragen. Der Körper selbst muss zu einer Frau gehören. Wir erinnern uns an Eddie Redmayne. Im Künstlerdrama The Danish Girl verkörpert der Oscar-Preisträger den Maler Einar Wegener, der sich in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts als erster Mensch einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat. Damals völliges Neuland, unerprobt und höchst riskant. Eine Operation in zwei Teilen, wobei die erste gut verlief, die zweite jedoch tödlich. Mittlerweile geht das ganze natürlich besser. Und ein Mann kann tatsächlich zur Frau werden.

Eine ungefähre Antwort auf dieses historische Biopic hat sich das Filmland Belgien zurechtgelegt, aus dem es relativ wenige Lebenszeichen gibt, wenn es um laufende Bilder geht. Dieses Lebenszeichen aber ist garantiert nicht zu übersehen. Unter der Regie von Lukas Dhont ist ein Coming of Age-Drama entstanden, dass nicht nur die Tücken des Erwachsenwerdens als Halbwaise und den Ehrgeiz einer Ballerina beim Erlernen des Spitzentanzes dokumentiert, sondern auch ganz intensiv und völlig unvoreingenommen die Psychologie eines Jungen skizziert, der unbedingt, um alles in der Welt und am besten gestern als Frau verstanden werden will. Dieser Junge aber, dieser androgyne Teenager namens Victor Polster, ist eine schauspielerische Offenbarung. Wüsste man nicht, dass es sich bei diesem Mädchen namens Lara eigentlich um einen jungen Mann handelt – man würde es noch viel weniger glauben als bei Eddie Redmayne, obwohl selbst der schon als Frau überzeugend war. Da Polster, eigentlich Tänzer, mit diesem Film als Schauspieler völliges Neuland betreten hat, und eigentlich durch Zufall von Regisseur Dhont entdeckt und für den Film gewonnen wurde, lässt sich sein Gesicht nirgendwo anders zuordnen. Lange blonde Haare, ein charmantes Lächeln. der Blick: unsicher, vorsichtig, manchmal aber auch willensstark. Den Willen allerdings braucht Lara. um diesen Wandel zu einer neuen Identität mit letzter Konsequenz durchzubringen. Zwischendurch hat man den Verdacht, Lara würde mit ihrem Schicksal hadern. Woran das Ganze aber fast scheitert, ist die Ungeduld und der fast schon selbstkasteiende Anspruch, in für alle anderen überzeugender Perfektion dieser neue andere Mensch zu sein. Dieses Streben nach geschlechtlicher Perfektion spiegelt sich auch in der Kunst des erwähnten Spitzentanzes, der beinhartes Training erfordert, und dessen Erlernen ungefähr genauso verlockend erscheint wie in Black Swan. Blutige Zehen, ausgemergelte Körper. Drill und physische Disziplin. Warum sich so etwas antun? Da muss was anderes dahinter stecken, etwas Tieferliegendes, Psychologisches. Bei Lara ist es sonnenklar.

So viel Fingerspitzengefühl für ein Thema wie dieses muss ein Filmemacher erst aufbringen. Girl ist ein behutsames, ungemein einfühlsames und dank Victor Polsters nuanciertes Spiel ein höchstgradig überzeugendes Psycho- und Sexualdrama, welches die Notlage eines Transgender in all seiner Dringlichkeit erfasst und bis zur letzten verzweifelten Maßnahme schreitet, ohne plakativ zu werden. Ein schmerzhafter, irreversibler Schritt in ein neues Leben, glaubhaft geschrieben und erstaunlich gut gespielt.

Girl

Burning

BLASSE SCHIMMER EINES VERDACHTS

7,5/10

 

burning© 2019 Capelight Pictures

 

LAND: SÜDKOREA 2018

REGIE: LEE CHANG-DONG

CAST: YOO AH-IN, STEVEN YEUN, JEON JONG-SEO U. A. 

 

Das Filmland Südkorea ist wie eine große Kiste voller Objekte unterschiedlichster Art, in die man blind hineingreift und gar nicht weiß, was man hervorholt. Das Filmland Südkorea ist Kino als Überraschung, ist niemals etwas, das zu erwarten war. Der Cineast Lee Chang-Dong hat mit Burning endlich wieder mal ein Werk geschaffen, das als ungelöstes Rätsel im Gedächtnis bleibt, sich lediglich auf Andeutungen verlässt und dem überhaupt nicht danach ist, auch nur irgendwelche Fragen, die während des Films aufgeworfen werden, zu beantworten. Wie befreiend ist das denn? Und was für ein lobenswerter Versuch, einen Gegentrend gegen das teils zu Tode erklärte westliche Kino zu setzen, das oft nicht den Mut hat, sein Publikum ratlos zurückzulassen. David Lynch hat diese Wagnis niemals bereut. Seine fragmentarisch anmutende Fabulationsfreude quer durch alle Albträume gibt Raum für eigene Deutungen. Chang-Dong gelingt Ähnliches. Sein Film ist inspirierend unkonventionell, und gleichzeitig aber spielt er mit den Elementen klassischer Krimiliteratur, die stark auf Suspense abzielt und die Sicht auf all die Umstände – trotzdem eine zentrale Person das Geschehen wahrnimmt  – auf mehrere mögliche Ebenen zu zerstreuen weiß.

Woran Burning am Meisten erinnert? Seltsamerweise an Patricia Highsmith und ihrem talentierten Mister Ripley. Allerdings auch an Hitchcock, an einen panikmachenden Sog aus Verdacht und erflehter Gewissheit. Dabei lässt sich die Vorlage zum Film auf die Feder Haruki Murakamis zurückführen. Seine Kurzgeschichte Scheunenbrennen stand Pate, wie genau sich Chang-Dong daran gehalten hat, kann ich nicht sagen. Doch er hat bestimmt etwas ganz Eigenes geschaffen, auf eine bedächtig erzählte, zweieinhalbstündige Geschichte ausgedehnt, in welcher der intellektuelle, etwas verschlafen wirkende Möchtegern-Romancier Jongsu, gerade mal mit dem Studium fertig, auf Haemi, eine Bekannte aus Kindertagen trifft, die ihn bittet, während ihres Urlaubs auf ihre Katze aufzupassen. Es dauert nicht lang, da verliebt sich Jongsu in die hübsche junge Dame, hat gar Sex mit ihr – und trifft sie auch später wieder, allerdings kaum mehr alleine: Das Mädchen hat einen Begleiter mitgebracht, einen undurchschaubaren Lebemann, der anscheinend stinkreich ist und sich alles im Leben leisten und machen kann, was immer er auch will. Eifersucht macht sich breit. Irgendwie nervt dieser Typ, obwohl er freundlich ist. Aber da er alles hat, und alles haben kann, und sogar seltsame dunkle Seiten einfach zulässt, weil er sie seiner Philosophie nach einfach zulassen muss, ist er gleichermaßen faszinierend wie abstoßend. Klar zu erkennen ist ein entrücktes Trio infernal, das plötzlich alles gemeinsam macht. Bis Haemi plötzlich verschwindet.

Jongsu rätselt nicht nur über den Verbleib des Mädchens. Er rätselt noch über ganz andere Dinge in seinem Dunstkreis. Haemis Katze taucht ebenfalls nie auf, wenn er sie füttern muss. Sie ist gleichzeitig anwesend, und gleichzeitig auch verschwunden. Klingt frappant nach Schrödinger. So wie der Drang des rätselhaften Dritten, erlassene Gewächshäuser abzufackeln. Meint er das ernst? Oder will ihn der Rivale nur aufziehen? Vieles ist also eine Variable in Chang-Dongs Film, die große Unbekannte. Selbst die Vergangenheit ist nicht das, was sie scheint. Die große Variable ist das Vertrauen, das sich nicht fassen lässt, das so flüchtig ist wie der Rausch von Marihuana, die Dämmerung oder das Subjekt der Begierde. Ein Mysterium, dieser Film, auch wenn vieles so klar und der Plot alles ist, nur kein konfuses Konstrukt, das mutwillig prätentiös erscheinen will. In Wahrheit ist Burning ein kleiner, bescheidener Film, der aber durch seine Undurchschaubarkeit größer scheint und stets an der Schwelle zum Psychothriller herumscharwenzelt, ohne sie übertreten zu wollen. Mit Betonung auf Wollen, denn können würde er es spielend. Doch gerade diese geschaffene Distanz zu gängigen Genremustern macht aus Burning ein besonderes spekulatives Erlebnis, das sich erst ganz am Ende erlaubt, seine aufgestaute Furcht, dumm zu sterben, rauszulassen.

Burning