The Village Next to Paradise (2024)

WIE TRÄUMT MAN AM HORN VON AFRIKA?

6,5/10


thevillagenexttoparadise© 2024 Freibeuter Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, FRANKREICH, DEUTSCHLAND, SOMALIA 2024

REGIE / DREHBUCH: MO HARAWE

CAST: AHMED ALI FARAH, ANAB AHMED IBRAHIM, AHMED MOHAMUD SALEBAN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 13 MIN


„Erzählst du mir wieder von deinen Träumen?“, fragt der eine Junge seinen ehemaligen Schulkollegen, und zwar deswegen ehemalig, da die Bildungseinrichtung im Dorf namens Paradies mangels Lehrkräfte dicht machen musste. „An die kann ich mich nicht mehr erinnern“, entgegnet Cigaal. Vielleicht, weil Träume mit Aussicht auf eine bessere Zukunft Teil der Realität geworden sind. Sein Vater Mamamrgrade hat ihn schließlich aufs Internat geschickt. Damit irgendetwas wird aus ihm, wenn schon die Erwachsenen an den wenigen Möglichkeiten, die es braucht, um im Leben weiterzukommen, ihre ganze Motivation verbrauchen. Eine gute Ausbildung ist alles, genauso wie die Bereitschaft, sich für alles anzubieten. Denn Mamamrgrade ist nicht nur Lieferant für heiße Ware, sondern vor allem auch Totengräber, der vermehrt Opfer von Terroranschlägen und Drohnenangriffen in der knochentrockenen Erde Somalias verscharrt. Seine Schwester Araweelo hat indes mit einer gescheiterten Ehe zu kämpfen und mit dem Traum einer eigenen Schneiderei. Dafür gelingt es ihr zumindest, einer Nähmaschine habhaft zu werden. Der Rest solle dann folgen. Und dafür braucht es Geld, einen ganzen Haufen dieser ausgefransten, abgegriffenen, speckigen Scheine, welche die inflationäre Währung am Horn von Afrika verkörpern.

Wenn man von Somalia etwas mitbekommt, dann sind es von Piraten in ihren Schlauchbooten aufgebrachte Frachtschiffe wie in Captain Phillips von Paul Greengrass. Oder katastrophal danebengegangene Missionen des US-Militärs, wie sie Ridley Scott in Black Hawk Down so fühlbar vor Augen führt. Von Gewalt, Krieg und religiösem Fanatismus ist in The Village Next to Paradise nichts oder nur sehr wenig zu sehen. Jene Anarchie eines Landes, die es in die Schlagzeilen bringt, schwelt am glutheißen Horizont, während die Anarchie einer Gesellschaft, in der jede und jeder selbst improvisieren muss, um nicht unterzugehen, Erwähnungen im Auslandsfernsehen kaum wert sind. Am Horn von Afrika findet, man möchte es kaum glauben, sogar so etwas wie Alltag statt. Werte, Würde und Beharrlichkeit sind selten etwas, wofür die Erziehung Ressourcen übrighat. Die Not bringt Tugenden – oder manchmal auch die falsche Entscheidung.

Der aus Somalia nach Österreich immigrierte Autorenfilmer und Kurzfilmkünstler Mo Harawe hat mit The Village Next to Paradise seinen ersten Langfilm inszeniert und diesen ins Programm der diesjährigen Viennale gebracht. Man könnte jetzt davon ausgehen, dass Harawe wohl kaum jene Mühsal auf sich genommen hat, um tatsächlich vor Ort am Schauplatz der Geschichte zu filmen. Doch das hat er getan – und verleiht damit seinen Alltagsbeobachtungen eine intensive dokumentarische Authentizität, die es schafft, die fremde Realität für kurze Zeit als die eigene wahrzunehmen. Das liegt vielleicht daran, dass es Harawe nicht darum geht, poetische Verklärungen aus einem exotisch anmutenden Land auf gefällige Weise einem Weltpublikum näherzubringen, um vielleicht die Werbetrommel im Tourismus Somalias zu rühren. Der ist faktisch nicht vorhanden, und während dieser im Eigenantrieb voranschlurfenden Tagen wird klar, wie sehr Harawe einerseits seine Heimat vermissen muss, andererseits, wie sehr es ihm wohl auch daran gelegen hat, dem Unzulänglichkeiten eines Staates, der seine Bürger weitestgehend ihrem Schicksal überlässt, ins Auge zu sehen. Und das Leben, welches so ganz anders abläuft, als wir es gewohnt sind in den luxuriösen europäisch-westlichen Breiten, folgt dabei der Begrifflichkeit von Zeit, die uns womöglich wahnsinnig machen würde, da Schnelllebigkeit nichts ist, womit sich Somalier herumschlagen müssen.

Vieles, wenn nicht alles, verläuft mit angezogener Handbremse. Mit lakonischem Phlegma ringen Menschen mit ihrer Existenz, doch nicht, wie man erwarten würde, schicksalsergeben. Hier in Somalia ist der Rhythmus der eines träge schlagenden Herzens. Und was andernorts auf eine Filmlänge von knapp 90 Minuten heruntergebrochen werden könnte, füllt in The Village Next to Paradise eine satte Überlänge, und zwar so, als gäbe es kein filmisches Ende, als würde Harawe gar nicht daran denken, einen Schlusspunkt zu setzen. Ich beobachte ihn, wie er einen nach dem anderen verpasst, immer weiter zieht das Schicksal, der Zufall und die Gunst ihre Kreise, das Sitzfleisch wird mürbe. The Village Next to Paradise gerät fast ein Drittel seiner Spielzeit zu lang, Geduldige können sich glücklich schätzen, diese Eigenschaft zu besitzen. Alle anderen winden sich in den Sitzen, und irgendwann endet der immersive Ausflug in eine Vergessene Welt dann doch und lässt ein bisschen Hoffnung über. Ein bisschen Zuversicht, und lobt nebenher des Menschen Drang zur Erfüllung der eigenen Wünsche.

The Village Next to Paradise (2024)

The Room Next Door (2024)

DABEISEIN IST ALLES

7/10


theroomnextdoor© 2024 Warner Bros. Pictures


LAND / JAHR: SPANIEN 2024

REGIE: PEDRO ALMODÓVAR

DREHBUCH: PEDRO ALMODÓVAR, NACH DEM ROMAN VON SIGRID NUNEZ

CAST: JULIANNE MOORE, TILDA SWINTON, JOHN TURTURRO, ALEX HØGH ANDERSEN, ESTHER MCGREGOR, VICTORIA LUENGO, JUAN DIEGO NOTTO, RAÚL ARÉVALO, ALESSANDRO NIVOLA U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Krankheit und Tod sind Themen, die selten ins Kino locken, will man Zerstreuung finden. Sie locken vielleicht ins Kino, um Schauspielgrößen dabei zuzusehen, wie sie als akribisch interpretierte Filmfiguren mit ihrer Endlichkeit klarkommen müssen. Mit Schmerz, Verlust und dem Herbst des Lebens womöglich mitten im Sommer. Meistens ist das schwermütiges Kino. Taschentücher sind in Griffnähe und Vorsicht davor geboten, im vielleicht sogar sentimentalen Morast zu versinken. Wie ein Stein im Magen liegen solche Filme. Nicht aber bei Pedro Almodóvar, seit Jahrzehnten schon im Filmgeschäft und bereits sämtliche Meisterwerke in seinem Oeuvre wissend, die eine gewisse Zeitlosigkeit genießen. Almodóvars Werke lassen sich ausschließlich anhand seiner Settings und vor allem seiner Farbtafeln erkennen. Dieser Kunst des komplementären Colorings in Szenenbildern und Kostümen verschreibt er sich auch in seinem neuesten Werk The Room Next Door. Und viel wichtiger als der tieftraurige Kloß im Hals, den man empfindet, wenn gute Freunde diese Welt verlassen, scheint ihm die erlesene Bildsprache allemal zu sein.

Den Stein im Magen lässt Almodóvar also anderen. Die wandelbare Tilda Swinton und die stets im Schauspielkino fest verankerte Julianne Moore müssen ihn auch nicht schlucken. Beide sind nicht dafür bekannt, zu Sentimentalitäten zu neigen oder sich in schmerzhaften Schicksalen zu verbeissen, obwohl Moore sich ab und an dazu hinreissen lässt, die Hysterikerin zu geben. Nicht so in diesem Film. Swinton und Moore sind zwei Freundinnen von früher, die sich nach langer Zeit wiedersehen. Gerade noch zur rechten Zeit, denn Swintons Figur der Martha ist an Gebärmutterhalskrebs erkrankt, wofür sie sich im Krankenhaus diversen Chemo- und Immuntherapien unterzogen hat. Von Selbstmitleid ist anfangs keine Spur bei der ehemaligen Kriegsreporterin, die alles schon gesehen hat auf dieser Welt, jedes Gräuel und allerlei schreckliche Tode. War der Krieg schon deren Arbeit, führt sie den letzten mit sich selbst. Und wünscht sich für einen selbstbestimmten Abgang Ingrid an ihre Seite, die nichts anderes tun muss als nur dabei zu sein, wenn Martha jene todbringende Pille schluckt, die sie aus dem Darknet erstanden hat.

Almodóvar zäumt das Pferd zwar nicht von hinten, nimmt aber längst nicht den direkten Weg, um zum Kern seiner Geschichte vorzudringen. Viel lieber hält er sich damit auf, beide Frauen erst einmal kennenzulernen. Was sie antreibt, was sie ausmacht, was sie verbindet. Dabei kippt The Room Next Door in eine melodramatische und recht plakative Nebengeschichte, die das Schicksal des für Marthas Tochter unbekannten Vaters bebildert. Es ist, als passe diese verästelnde Abkehr vom eigentlichen Erzählstrang nicht in dieses Konzept, genauso wenig manch fachsimpelnder Dialog über Kunstgeschichte, der letztlich nichts zur Handlung beiträgt. Und dennoch: dieses Konterkarieren der Erwartungen, dieses Hinhalten des eigentlichen Themas, macht etwas mit der Wahrnehmung und mit der Akzeptanz der eigentlichen, vielleicht gar eitlen Problematik zweier Damen aus dem intellektuellen Establishment, die jede für sich den Tod als etwas gänzlich anderes sieht. Letztlich hat dieses Mäandern einen Sinn, auch John Turturros Auftritt als Klima-Poet, der über das Ende der Welt rezitiert. Das Wichtigste dabei aber ist es, egal in welcher Lebenslage, ausschließen zu können, allein zu sein. Der Mensch ist dafür nicht geschaffen. Das Teilen von Meinungen, der Austausch von Empfindungen, das Interagieren mit einem Gegenüber erklärt Almodóvar als die Essenz menschlichen Glücks. All seine scheinbar überflüssigen Nebenszenen spiegeln doch nur die Lust am Zu- und Miteinander wider. Da wird das Thema rund um Sterbehilfe oder Tod zu einem Thema unter vielen anderen.

Interessant, dass es Almodóvar gar nicht darum geht, den illegalen Weg des Freitods zu bewerten oder zu analysieren. Er bleibt eine austauschbare Begrifflichkeit für einen Ist-Zustand in einer Welt der Lebenden und der Toten, der mit der Gewährleistung eines Miteinanders, um die Einsamkeit zu vernichten, alles hat, was er braucht.

The Room Next Door (2024)

I Saw the TV Glow (2024)

TWILIGHT ZONE FÜR SERIENJUNKIES

5/10


isawthetvglow© 2024 Pink Opaque LLC


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: JANE SCHOENBRUN

CAST: JUSTICE SMITH, BRIGETTE LUNDY-PAINE, IAN FOREMAN, HELENA HOWARD, FRED DURST, DANIELLE DEADWYLER U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Das war noch was, als in den Achtzigern und Neunzigern tagtäglich und immer zur selben Uhrzeit die Straßen und Gassen leergefegt waren, wenn auf den wenigen Fernsehkanälen, die man hatte, die Lieblingsserie lief. VHS-Rekorder hatten da noch die wenigsten, später aber dann doch vermehrt, doch als Junkie eines speziellen Formats wollte sich keiner nachsagen lassen, nicht als erster den brandneuen Stoff bereits gesichtet zu haben. Am neuesten Stand zu sein war oberstes Gebot, das wochenlange Warten auf die nächste Folge nur eine Qual. So passiert bei Falcon Crest, Twin Peaks oder Buffy – Im Bann der Dämonen. Letztere ließ Sarah Michelle Gellar groß werden, die toughe Blondine schnetzelte sich sieben Staffeln lang durch Horden von Vampire, Dämonen und sonstigem Gesocks, das aus dem Höllenschlund in der kalifornischen Kleinstadt Sunnydale emporstieg. In I Saw the TV Glow ist es die Serie The Punk Opaque, die sehr stark an den von Joss Whedon erdachten Kult erinnert. Dieser farbintensive Nebel begleitet ein Duo aus zwei jungen Frauen, die nicht viel anderes ihre Mission nennen als Kreaturen aller Art ebenfalls das Fürchten zu lehren wie Buffy, um aber an ein richtig fieses Mondgesicht heranzukommen, dass seine Gegner gerne mal in eine mitternächtliche Dimension sperrt, aus der es kein Entkommen gibt, es sei denn, jemand von außerhalb wappnet sich zur Extraktion. Wie gebannt hängt hier nun Maddy (Brigette Lundy-Paine, u. a. Schloss aus Glas) im Rhythmus des Fernsehprogramms vor der Glotze, und es dauert nicht lang, da gesellt sich der deutlich jüngere Owen (Justice Smith, u. a. Jurassic World, Dungeons & Dragons) hinzu. Beide sind nicht gerade mit einfühlsamen Familien gesegnet, beide sind sich mehr oder weniger selbst überlassen in ihrer Reifung zum Erwachsenen. Die Serie wird zum Zufluchtsort, zur Sucht, zum eigentlich viel besseren Leben. Je mehr die beiden Außenseiter aber diese pinken Nebel inhalieren, je mehr scheinen trostlose Realität und anregende Fiktion zu verschwimmen. Langsam stellen sich Maddy und Owen die Frage, ob nicht ihre Welt die eigentliche Fiktion ist, und The Pink Opaque das echte Leben. Vielleicht, weil sie nicht so kompliziert scheint und klarer erkennbar, worauf es ankommt.

Mystery oder gar Fantasy mit später Coming of Age-Geschichte zu verknüpfen – das ist bekanntlich alles andere als neu. Kein Genre eignet sich besser als das Phantastische, um mit dem komplexen Thema des Erwachsenwerdens einen Deal einzugehen. Die nichtbinäre Person Jane Schoenbrun (We’re All Going to the World’s Fair) sieht in diesem Dilemma, als junger Mensch nirgendwo hinzugehören, eine kaum zu bewältigende Mission, der man am besten mit traumverlorener Lethargie begegnet. Vielleicht genügt es ja, das auf Wohnstraßen applizierte Schwarzlicht-Graffiti zu bewundern, während man auf dem Weg zum nächsten Fernseher noch dazu von sphärischem Licht in allen Pink- und Violetttönen begleitet wird, das sowieso schon den Eindruck erweckt, niemals in der harten, urbanen, rücksichtslosen Realität namens Leben verankert zu sein. I Saw the TV Glow schlurft und schleicht durch eine dem Chemiehaushalt von Teenagern unterworfenen, leicht bis schwer depressive Twilight-Zone, ohne dabei Enthusiasmus und Leidenschaft für irgendetwas zu empfinden. Das mögen die diffus in Szene gesetzten Erwachsenen ihren Kindern Maddy und Owen längst ausgetrieben haben. Der Enthusiasmus springt aber auch nicht auf mich, dem Zuseher über. Das mag vielleicht auch an den traurigen Mix an Musiknummern aus der Independent-Nische liegen, die einzeln gehört als melodisch-melancholische Novemberstimmung wohldosiert funktionieren, in Spielfilmlänge aber die einschläfernde Wirkung eines erratischen Wachtraums, den man schwer beeinflussen kann, da man wie paralysiert im Bett liegt, nur noch verstärken.

Schoenbrun arbeitet mit Symbolen und immer wieder mit den Farben, das unter Schwarzlicht leuchtende Graffiti verschmilzt mit dem ungesunden Licht ausgedienter Röhrenbildschirme. Wie die dargestellte Sucht zweier Suchender, die ihre Welt und Existenz hinterfragen, bleibt I Saw the TV Glow lediglich bei seiner dekorativen Symptombetrachtung, die den Jugendlichen wenig Persönlichkeit lässt. Zu gleichförmig wirken beide, und nicht mal die Zeitspanne von vielen Jahren, die der Film umspannt, lässt bei diesen eine Entwicklung zu. Gefangen im Pink Opaque chillt der unnahbare Selbstfindungstrip in einem immermüden Tal der Ratlosigkeit, die rosarote Brille beschönigt zwar die Optik – das, worauf es ankommt, allerdings nicht.

I Saw the TV Glow (2024)

Emilia Pérez (2024)

GEISTER EINES ANDEREN LEBENS

7/10


emiliaperez© 2024 Viennale


LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE: JACQUES AUDIARD

DREHBUCH: JACQUES AUDIARD, THOMAS BIDEGAIN

CAST: KARLA SOFÍA GASCÓN, ZOE SALDAÑA, SELENA GOMEZ, ADRIANA PAZ, ÉDGAR RAMIREZ, EDUARDO ALADRO U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Was tut man nicht alles für seine Leidenschaft, in diesem Fall für jene für den Film: Tagwache 5 Uhr morgens. Kaffee, Zähneputzen und ab ins Kino, wo im Rahmen der Viennale um herrgottsfrühe Uhrzeit und auf weitestgehend nüchternem Magen Jacques Audiards neuer Geniestreich als Frühstücksersatz einem vollem Gartenbaukino vor den Latz geknallt wurde. Um nochmal die Analogie morgendlicher Nahrungszufuhr zu bedienen: Emilia Pérez darf sich gerne als Tische biegendes Buffet begreifen, es ist alles Mögliche dabei, von süß bis salzig, von scharf bis bitter. Dieser Film, der bei den diesjährigen Festspielen von Cannes vor allem bei den Darstellerinnenpreisen so richtig abräumen konnte, schenkt dem Kino wieder mal komprimierte Vielfalt. Noch dazu im dekorativen Gewand eines Musicals, wobei hier gesagt sei, dass ich als Muffel für diese Kunstform sehr wohl davon wusste und dennoch zum Ticket griff. Andererseits: auch wenn Gesangseinlagen den eigentlich ernstzunehmenden Erzählfluss verlassen, um den Show-Faktor zu pushen: Emilia Pérez ist aus meiner Sicht dennoch nichts, was man auslässt. Es kann gut sein, dass nächstes Jahr zu den Oscars neben Anora auch dieser Film ganz groß mitmischen wird, alleine schon wegen namensgebender Protagonistin, die sich zu Beginn des Films erstens mal ganz anders nennt und da noch längst nicht jene Person verkörpert, von welcher ein fieser Finsterling lange Zeit geträumt zu haben scheint.

Mit diesem gewalttätigen Oberhaupt eines mexikanischen Drogenkartells ist kein bisschen zu spaßen, da muss eine wie Zoe Saldaña gar nicht genau wissen, was dieser einschüchternde Zampano alles auf dem Kerbholz hat – da reicht sein Anblick, so verkommen, verwegen und finster wirkt dieses Konterfei, welches Anwältin Rita Castro aus der Reserve lockt. Juan del Monte, kurz genannt Manitas, lässt seinem Gegenüber kaum eine andere Wahl als dieses Angebot, das sowieso niemand ausschlagen kann, anzunehmen. Doch dabei geht es weniger darum, Konten zu frisieren oder die Justiz zu manipulieren, sondern um etwas ganz ganz anders, viel Höheres und pikant Persönliches: Dieser Manitas steckt im falschen Körper. Nichts sehnlicher wünscht er sich, als eine Frau zu sein. Castro soll alles dafür Notwendige in die Wege leiten. Der Coup scheint aufzugehen, die Anwältin badet im Geld, der Drogenboss wird zur dunklen Vergangenheit, während wie aus dem Nichts Emilia Pérez ganz plötzlich die Bühne betritt. Jahre später nach der Umwandlung will die Transsexuelle nur eines: Ihre Familie zurück.

Das klingt alles sehr nach einem Stoff, der aus dem Gedankengut eines Pedro Almodóvar hätte sprießen können und Assoziationen weckt zu seinem 1999 entstandenen Meisterwerk Alles über meine Mutter. Es wäre aber nicht Audiard, würde sich das queere Schauspielkino, was es im Kern sein will, nicht auch stilistische Anleihen aus dem lateinamerikanischen Melodrama mit denen des geerdeten Mafiathrillers verschränken. Die Wucht der Leidenschaft und des Herzschmerzes hält dann alle diese Komponenten zusammen, ihre expressiven Spitzen ereifert sich das Werk durch jene Gesangsnummern, die Zoe Saldaña oder Selena Gomez zum Besten geben. Hätte Emilia Pérez auch ohne den Faktor Musical funktioniert? Vielleicht wäre der Film dadurch beliebiger geworden, vielleicht gar weniger eigenständig, doch so genau lässt sich diese dramaturgische Alternative gar nicht durchdenken. Zu sehr mag man von Karla Sofía Gascón hingerissen sein, dieser einnehmenden Trans-Schauspielerin, die dank langjähriger Fernseherfahrung ihrem ersten Kinofilm diese melodramatischen Vibes verleiht, die Emilia Pérez womöglich auch ohne Gesangsnummern so eigenständig werden lässt. Dabei gehen vorallem die späteren Tracks so richtig ins Ohr, gerade der mehrstimmige musikalische Epilog bleibt noch lange Zeit haften.

Jacques Audiard ist ein temperamentvolles Gesamtkunstwerk gelungen, das Schicksal schlägt dabei gnadenlos zu, die Weisheit belehrt uns am Ende mit ernüchternden Tatsachen. Eine zweite Chance, Reue, Wiedergutmachung – ein neues Ich ohne das Alte scheint in Emilia Pérez undenkbar. Das Vergangene ist die Basis des Neuen, ein Schlussstrich kaum zu ziehen, es sei denn, es ist der Tod. Als Mensch bleibt Emilia Pérez, sowohl als Mann oder als Frau, letztlich derselbe. Der Charakter, die Seele, sie lässt sich nicht neu erfinden.

Emilia Pérez (2024)

Mond (2024)

AUDIENZ IM GOLDENEN KÄFIG

7,5/10


Mond© 2024 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: KURDWIN AYUB

CAST: FLORENTINA HOLZINGER, ANDRIA TAYEH, CELINA SARHAN, NAGHAM ABU BAKER, OMAR ALMAJALI U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


In Kurdwin Ayubs Vorgängerfilm Sonne ging es noch darum, wie sehr es schicklich ist, als junge Muslimin auf Social Media jugendlicher Lebensfreude Ausdruck zu verleihen – ganz ohne Hijab und anderweitiger kulturell bedingter Verhüllungen. Ein leichtfüßiger, offener Versuch, auf experimentellem Wege ein Problem anzusprechen – dem es aber allerdings an Biss fehlt. Nach dem strahlenden Zentralgestirn rückt aber nun der Erdtrabant in den Vordergrund – er ist titelgebend für den Mittelteil einer geplanten Trilogie, und dieser lässt Performancekünstlerin Florentina Holzinger in ihrer ersten Filmrolle zu Luna werden, zu einer um einen zentralen Missstand kreisenden Satelliten, der sich anfangs nicht imstande sieht, das Geschehen auf diesem fremden Planeten zu beeinflussen, nicht mal, was die Gezeiten betrifft. Dieses fremde und doch so vertraute Gestirn ist ein goldener Käfig für drei weibliche Geschwister im Teenageralter, die auf Anweisen ihres größeren Bruders hin zur körperlichen Ertüchtigung angehalten werden. Holzinger gibt in Ayubs Film eine erfahrene Martial Arts-Sportlerin, deren Bestzeiten allerdings vorbei zu sein scheinen. Nach einer Niederlage im Wettkampf verdingt sie sich als Trainerin, bis sie die Anfrage eines steinreichen Jordaniers erhält, der Protagonistin Sarah gerne für einen Monat nach Amman einlädt, um seinen Schwestern beizubringen, wie man kämpft, in Form bleibt und vor allem eins: Disziplin erlernt.

Es mag der Luxus und der Prunk noch so sehr schillern – Holzingers Charakter Sarah ist nicht jemand, der sich davon blenden lässt. Ihr geerdetes Welt- und Werteempfinden kollidiert schon bald mit dem obskuren Regelwerk eines elitären, patriarchalen Haushalts, in welchem die jungen Frauen nichts zu sagen haben. Ihre von den Männern verordnete Gefangenschaft lässt sich zwar aushalten, doch Freiheiten gibt es kaum welche – wenn, dann nur Langeweile und übersättigter Luxus in kalten Räumen. Sarah wird zur Beobachterin eines dysfunktionalen Familienlebens, das nur so tut, als wäre es liberal genug, um westliche Besucher nicht vor den Kopf zu stoßen. Eine der Mädchen zieht die selbstbewusste Trainerin ins Vertrauen – in der Hoffnung, dass diese etwas ändern könnte an einem Status Quo, der so scheint, als könnte niemand ihn ändern.

Kurdwin Ayub beherrscht ihr Handwerk so souverän, als wäre sie schon lange Zeit im Filmbiz unterwegs, dabei ist Mond erst ihr zweiter Langfilm. Ein Naturtalent, könnte man meinen, vor allem auch deshalb, weil Ayub ein komplexes Thema verfolgt, das mit nur einem Film längst nicht auserzählt ist, wofür es zahlreiche Blickwinkel braucht, die zur Sprache gebracht und in Bilder gepackt werden müssen. Sowohl Konzept als auch das Skript und die Regie sind von ihr, gefördert und auf positive Weise beeinflusst durch alte Hasen auf ihrem Gebiet wie zum Beispiel Ulrich Seidl. Das Schöne daran: Ayub kopiert den Lehrmeister nicht, sondern macht ihr eigenes Ding. Sie kopiert auch nicht Regiekollegin Veronika Franz, die bei ihren Filmen ausführende Funktionen übernimmt. Ayub ist eine Quer- und Alleindenkerin, eine originäre Künstlerin, die in Mond, noch viel mehr als in Sonne, ihren eigenen Rhythmus gefunden hat. Und der ist streng, straff und dicht. Obwohl Mond per se kein Thriller ist, fühlt er sich an wie einer. Das liegt an den effizient verfassten Passagen des Drehbuchs, und an der Fähigkeit, Wesentliches vom Überflüssigen zu unterscheiden. Was bleibt, ist in Mond das Wesentliche. Ayubs Szenen erlauben viel Beobachtung und ruhende Momente, in denen Konflikte wachsen, die sich allesamt relevant anfühlen. Nichts ist nur so daherinszeniert, dahergesagt oder lediglich ausprobiert. Das authentische, ungekünstelte Spiel Holzingers unterstreicht diese Direktheit, dieses Hindurchgreifen zwischen die Gitterstäbe eines goldenen Käfigs. Dahinter die unterdrückte Weiblichkeit durch eine längst obsolete, fatale Männerkultur. Zivilcourage wird dabei nicht zum plakativen Heldenmut, sondern zur ambivalenten Notwendigkeit, zum Pflichtgefühl aufgrund zu verteidigender Werte.

Mond ist ein hochspannendes, faszinierendes Stück Konfliktkino, trotz oder gerade wegen seiner passiv-aggressiven Zurückhaltung. Raum für Persönliches und Raum für dezenten Suspense formulieren diesen Film zu einem prägnanten, klaren Statement. Und das nur mit wenigen, aber präzise gesetzten Kniffen.

Mond (2024)

Queer (2024)

IM SCHWEISSE KOSMISCHEN ANGESICHTS

7,5/10


queer© 2024 MUBI


LAND / JAHR: ITALIEN, USA 2024

REGIE: LUCA GUADAGNINO

DREHBUCH: JUSTIN KURITZKES, NACH DEM ROMAN VON WILLIAM S. BURROUGHS

CAST: DANIEL CRAIG, DREW STARKEY, JASON SCHWARTZMAN, LESLEY MANVILLE, ANDRA URSUTA, MICHAËL BORREMANS, DAVID LOWERY, HENRY ZAGA, DREW DROEGE U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Sieht man sich das schauspielerische Oeuvre von Daniel Craig an, so fällt auf, dass gerade seine finanziell erfolgreichste Rolle des 007-Agenten James Bond im Grunde wohl am wenigsten das schauspielerische Können des smarten Briten illustriert. Seine Bond-Interpretation mag etwas stiernackig und verbissen wirken – ein Charakter, den Craig liebend gerne gegen andere tauscht, die dem Image des charmant-chauvinistischen Actionhelden zuwiderlaufen oder dieses geradezu konterkarieren. Die schmissige Hercule Poirot-Hommage des Benoit Blanc aus Knives Out war da schon ein erster Schritt in die für Craig ideale Richtung. Jetzt kommt das Sahnehäubchen obendrauf, jetzt darf der lange im Dienste der Broccolis gestandene, leidenschaftliche Akteur Dinge tun, die Tür und Tor aufstoßen in eine regenbogenfarbene Vielfalt an verlorenen, verkorksten, herumirrenden Gestalten, die sich in ihren Schwächen verlieren. Und dies mit ausgesuchter Leidenschaft.

Luca Guadagnino, seines Zeichens Meister im Abbilden verlorener Sehnsüchte – siehe Call Me By Your Name – weiß, was er gewinnt, wenn er Craig besetzt. Für ihn ist dieser ein in hellen Leinenanzügen gekleideter, ungehemmt dem Alkohol und allerlei Drogen zugetaner Privatier mit Fedora auf dem Kopf und genug Geld in den Taschen, um den lieben Gott tagelang einen guten Mann sein zu lassen. Aufgrund seiner Liebe zu rauschigen Stoffen aller Art hat William Lee den Staaten der Rücken gekehrt. Hier, in einem pittoresken, fast unwirklichen Mexiko City der Fünfzigerjahre, ist das Leben ein ewiger Zyklus aus Barbesuchen, Aufrissen und Trunkenheit. Was Lee allerdings begehrt, sind, wie der Titel schon sagt, Männer knackigen Alters, die des Nächtens für die nötige Süße sorgen sollen. Eine Affäre folgt der anderen, bis der Ex-Soldat Eugene Allerton (Drew Starkey aus Outer Banks) Lees Wege kreuzt. Ab diesem Moment ist es aus und vorbei mit der kunterbunten Auswahl an Bettgesellen. Eugene bedeutet mehr, obwohl dieser, eigentlich hetero, nur des Geldes wegen mit dem betuchten Lebemann ins Bett steigt. Alles sieht danach aus, als wäre diese Romanze zum Scheitern verurteilt, als eine gemeinsame Reise in den Dschungel Perus nebst schweißnassem Entzug auch die Entdeckung eines Rauschmittels mit sich bringt, die das Leben der beiden für immer verändern wird.

Die Vorlage zu Queer lieferte 1985 niemand geringerer als der Meister der literarischen Beat-Generation: William S. Burroughs. Der Konnex zum Kino: Dessen Kultbuch Naked Lunch, ein als unverfilmbar geltendes Sammelsurium an Grenzerfahrungen durch Drogeneinfluss, hatte sich Anfang der Neunziger David Cronenberg zu Herzen genommen. Guadagnino kann es besser. Sein psychologisches Drama einer Reise ins Unbekannte war dieses Jahr der Überraschungsfilm der Viennale und ist deutlich leichter verständlich als der zu Papier gebrachte bizarre Wahnsinn aus Tausendfüßern, Alienwesen und kriminellen Verschwörungen. Daniel Craig liefert in der ersten Hälfte des Films, die sich handlungsarmen Betrachtungen hingibt, dafür aber auf Stimmung setzt, das grenzlabile, psychologisch durchdachte Portrait eines Ruhelosen und Verlorenen, einer zutiefst einsamen Seele, die dem wahren Glück näherkommen will, indem sie sich überall sonst, nur nicht in sich selbst verliert. Der bittersüßen Liebesgeschichte schenkt Craig das schmachtende, fieberhafte Zittern eines Süchtigen. Guadagnino lässt dabei, wie schon in Call Me By Your Name, malerischen Sex unter Männern nicht zu kurz kommen. Hier ist er ein Ausdruck von Nähe und weniger die pure Befriedigung.

Es wäre aber nicht Burroughs, wenn dieses flirrende Delirium von Film nicht vollends in einen surrealen Albtraum kippen würde, der im tropischen Dschungel den irreversiblen Schritt in halluzinogene Welten wagt, um hinter den Vorhang des Realen zu blicken. Queer wird zum selbstvergessenen Horrortrip, verrückt bebildert, kosmisch aufgeladen und bewusstseinsverändernd. Wie Guadagnino diese Brücke schlägt, ist gewagt, gelingt aber dank Craigs beharrlichen Ego-Eskapaden so überzeugend, als hätte Captain Willard aus Apocalypse Now am Ende seiner Reise festgestellt, General Kurtz gäbe es nur in seiner vom Kriegswahn gezeichneten Vorstellung. In Queer ist es der Drogenwahn, dem man am liebsten zu zweit frönt. Und so eigentümlich dieses Psychodrama sich auch anfühlt – so, als könnte man sich kaum etwas Erbauliches mitnehmen aus diesem Dilemma – sickern Filme wie Fear and Loathing in Las Vegas ins Gedächtnis: Auch dieser nur ein Trip in die fantastischen Welten psychedelischer Substanzen.

Guadagninos Psycho-Abenteuer ist eine Überdosis Burroughs – der Wahnsinn kommt nicht überraschend. Sein existenzialistischer Schlussakkord wiederum erinnert an Lovecraft. Oder, um es anders auszudrücken: Der transzendente Abenteuerfilm ist zurück. Und Craig gibt ihm Seele.

Queer (2024)

The Damned (2024)

AUF VERLORENEM POSTEN

5/10


thedamned© 2024 Viennale


LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: ROBERTO MINERVINI

CAST: JEREMIAH KNUPP, RENÉ W. SOLOMON, CUYLER BALLENGER, CHRIS HOFFERT, TIMOTHY CARLSON, NOAH CARLSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Wieder ein Film, bei welchem man gerne in Decken eingewickelt zusehen möchte. Denn dort, wo die Verdammten des Krieges hin marschieren, existiert nicht viel mehr außer Wildnis und vor allem eins: Kälte. Es ist Winter im Jahre 1862, in den nicht mehr so vereinigten Staaten herrscht Bürgerkrieg, Nord gegen Süd, das wissen wir alles zwar nicht aus dem schuleigenen Geschichtsunterricht, aber spätestens seit Kevin Costners Der mit dem Wolf tanzt oder frühestens seit The Good, The Bad and the Ugly – wenn Clint Eastwood und Eli Wallach die Nordstaaten als die Südstaaten fehlinterpretieren, tragen sie doch die Uniformen der letztgenannten. In Roberto Minervinis The Damned schiebt sich eine Kolonne der Nordstaaten über schneidend kalte, leicht hügelige Ebenen. Eine Kohorte Soldaten hat den Befehl erhalten, in den Wilden Westen vorzudringen, um an den äußersten Grenzen des besetzten Gebietes zu patrouillieren. Anstrengend und mühsam scheint das Unterfangen, außer dem Zehren an den Kräften vor allem junger Rekruten scheint der Krieg hier nicht mehr zu entbehren als das. Mag sein, dass manche denken, sie hätten mit dieser Mission das Glück auf ihrer Seite. Doch so entlegen und gottverlassen die Gegend auch sein mag – der Krieg, der Tod, er wuchert überall. Er wird hereinbrechen wie ein Unwetter, wie ein Schneesturm. Auf verlorenem Posten sind sie allesamt, und neben dem Exerzieren und anderen Übungen zur Gewährleistung routinierter Angriffe bleibt sogar noch Zeit, über Gott, die Welt und den Beweggründen zu philosophieren, warum man eigentlich hier ist  ­– mitunter sogar freiwillig.

Roberto Minervini ist ein gern gesehener, regelmäßiger Gast bei den Filmfestspielen der Viennale –Eva Sangiorgi hat da schon bereits ihre Favoriten, die immer wieder das Privileg genießen, ihre Werke zeigen zu dürfen. Minervini war bislang eher als Dokumentarfilmer unterwegs – mit The Damned verlässt er dieses Genre zwar nicht ganz, fügt seinem inhaltsarmen Essay aber Elemente hinzu, die einen fiktionalen Spielfilm ausmachen. Allerdings geschieht das aber sehr defensiv. Von enormer Bedeutung sind dabei die Bilder, die das übrige Geschehen bestenfalls billigen und sich in der Entfaltung ihrer episch anmutenden Wirksamkeit nichts dreinreden lassen. Mitunter tun das aber all die alten und jungen, die desillusionierten Fast-Schon-Veteranen und gerade mal erwachsen gewordenen Idealisten, die sehr bald feststellen werden, dass sie vielleicht doch falsch entschieden haben, indem sie einem schnöden Patriotismus folgen.

Die Bilder von Kameramann und Regisseur Carlos Alfonso Corral (Dirty Feathers, lief 2021 auf der Berlinale) sind brillant und erinnern an die Optik Alejandro Gonzáles Iñárritus, insbesondere an sein Abenteuerdrama The Revenant. Weitwinkel, Close Up auf Gesichter im Vordergrund. Die Idee dabei, den Feind in jedweder Gestalt lediglich diffus und unscharf im Hintergrund zu belassen, gibt der Erzählung ihre Metaebene, schafft eine erzählerische Tiefe, eine Kluft zwischen den Parteien, und einen ganz klaren, sehr prägnanten Blickwinkel. Man fragt sich, ob nicht doch die Natur der eigentliche Feind ist, ob es nicht vielleicht doch die eigenen idealisierten Weltvorstellungen sind, die Menschen wie diese hier, mit ihren ausdrucksstarken Gesichtern, antreiben.

The Damned ist fast wie eine Art Meditation oder Gebet, ein In-sich-kehren im Schnee, irgendwo in der Wildnis, völlig verloren – als wäre Kubricks Astronaut aus 2001 – Odyssee im Weltraum unterwegs in die Selbsterkenntnis jenseits des Jupiters. Und dennoch erwartet man sich ein Kriegsdrama, das letztlich profane Erwartungen erfüllt. Das einen Höhepunkt, eine Wende, eine Conclusio besitzt. The Damned verzichtet auf all das. Als die Momentaufnahme eines prädestinierten Untergangs bleibt Minervinis Film wie Szenen aus einem größeren Ganzen, wie das Fragment eines viel stärkeren Films, der auch mehr Biographisches erzählt und sich nicht damit begnügt, die Fotozeile aus einem National Geographic-Magazins zu sein. Das ist beeindruckend anzusehen, ist aber letztlich zu lethargisch, die Dialoge den Protagonisten zu sehr in den Mund gelegt, als dass sie tatsächlich Statements einer vorangegangenen inneren Reise wären. Den die lässt sich selten spüren.

The Damned (2024)

The Outrun (2024)

EIN SELKIE AM TROCKENEN

6,5/10


theoutrun© 2024 Viennale


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2024

REGIE: NORA FINGSCHEIDT

DREHBUCH: NORA FINGSCHEIDT, AMY LIPTROT, NACH IHREN MEMOIREN

CAST: SAOIRSE RONAN, PAAPA ESSIEDU, STEPHEN DILLANE, SASKIA REEVES, NABIL ELOUAHABI, IZUKA HOYLE, LAUREN LYLE U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Weibliche Charaktere, die aus dem sozialen Raster fallen oder am System vorbeiexistieren, liegen stets im Fokus der Filmemacherin Nora Fingscheidt, die mit ihrem radikalen Problemkind-Drama Systemsprenger weltweit auf sich aufmerksam machte. Netflix klopfte an und gab ihr die Regie für den Sandra Bullock-Streifen The Unforgivable, indem der Star eine ehemalige Straftäterin gibt, die im Alltag nicht mehr Fuß fassen kann. Ähnlich geht es nun in ihrem neuesten Werk The Outrun zu. Statt anarchischem Schreihals oder einer zutiefst depressiven Bullock färbt sich diesmal Saoirse Ronan die Haare blau. Wobei die Farbe Blau zumindest in unseren Kreisen hier gerne mit einem Zustand des völligen Kontrollverlusts einhergeht, der dann einsetzt, wenn man zu tief ins Glas geblickt hat. In diesem Film ist Filmcharakter Rona genau so jemand: Eine Alkoholikerin. Als wäre sie eine Kneipenkumpanin von Amy Winehouse gewesen, nur ohne deren Ruhm, war das Gift im Glas auch das Gift für ihre Beziehung, ihre Zukunft, ihr Studium. The Outrun zeigt aber nicht den Verfallsprozess einer jungen Frau, sondern knüpft eigentlich dort an, wo diese das Ruder herumreisst. Den Entzug bereits überstanden, macht sich Rona auf in Richtung Heimat ihrer Kindheit. Und die ist nicht im Londoner Umland, sondern viel weiter weg. Ganz weit draußen im Nordosten der Insel Großbritannien, zu Schottland gehörend und am Ende der Welt: Auf dem Orkney-Archipel.

Felsen, Strände, ganz viel Küste und sturmgepeitschte See. Wiesen, vereinzelte Steinhäuser und unter Mühsal betriebene Viehbetriebe, wie Ronas Eltern welche führen. Die sind wiederum getrennt, denn Papa ist aufgrund einer bipolaren Störung nicht unwesentlich daran beteiligt, dass seine Tochter so manches aus ihrer Kindheit mitnehmen musste, worauf sie lieber verzichtet hätte. Dennoch ist das Nirgendwo im Takt der Gezeiten genau jene Form von Reduktion, die jemanden wie Rona auch psychisch wieder rebooten kann. Einen Neuanfang unter extremen Witterungen und unter den Blicken der Kegelrobben, von denen manche tatsächlich Selkies sein könnten – Mischwesen aus Mensch und Tier, Gestalten aus der schottischen Mythologie. Wesen, die zwischen den Elementen wandeln, sich jedoch stets nach dem Meer sehnen.

Saoirse Ronan könnte so jemand sein, natürlich im übertragenen Sinn. Fingscheidt spielt mit dieser Mythologie und mit Ronans Haarfarbe, flechtet sie ein, nimmt sie als Metaebene in die Verfilmung eines autobiografischen Romans auf, den Autorin Amy Liptrot verfasst hat, um über ihre Sucht und die Überwindung selbiger zu schreiben. Mit Ronan mag da die richtige Besetzung gefunden worden sein – ihre Begeisterung für die ungebändigte Natur kann sie transportieren. Die Rolle der Süchtigen allerdings weniger. Dafür umschifft Fingscheidt den Absturz großräumig, streift auch deren Beziehung nur flüchtig. Im Trend liegt derzeit, und das merkt man auch hier, eine gegen die eigentliche Chronologie der Handlung gerichtete Abfolge an Rückblenden zu streuen. Bei The Outrun kommen diese entweder zu früh oder zu spät ins Spiel. Dass Ronans Figur und deren Entwicklung bei gezielterem Timing an Griffigkeit gewonnen hätte, bleibt zu vermuten.

Anfangs ist es auch so, dass Fingscheidts Drama Mühe hat, zu diesem Thema eine neue Perspektive zu finden. Erst sehr viel später, wenn sich auch die Familiengeschichte offenbart oder Ronan langsam, aber doch, das Trauma des Alkoholkonsums hinter sich lässt, um neue Horizonte zu erschließen, mag der Funke überspringen, mag die Selbstfindung dann auch mitreißen. Im Tosen der Wellen wird der Neuanfang schließlich zur Metapher in Form einer unbegrenzten, naturgebundenen Superkraft, die jeder mobilisieren kann. Vorausgesetzt, die Parameter des Umfelds stimmen.

The Outrun (2024)

Rumours (2024)

AM GIPFEL DER HOHLEN PHRASEN

6,5/10


rumours© 2024 Viennale


LAND / JAHR: KANADA, DEUTSCHLAND 2024

REGIE: GUY MADDIN, EVAN & GALEN JOHNSON

DREHBUCH: EVAN JOHNSON

CAST: CATE BLANCHETT, CHARLES DANCE, NIKKI AMUKA-BIRD, DENIS MÉNOCHET, ROY DUPUIS, ROLANDO RAVELLO, TAKEHIRO HIRA, ALICIA VIKANDER, ZLATKO BURIĆ U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Politik ist in erster Linie eines: Zugang zu Macht. Hat man sich diese mal für eine Legislaturperiode gesichert, gibt es die Wahl zwischen dem Agieren fürs Allgemeinwohl, um die Lebenssituation derer zu verbessern, für die man sich verantwortlich zeichnet. Und der Verfolgung ganz persönlicher Agenden zur Umsetzung idealistischer und völlig am Begehren des Volkes vorbeigehender Ziele. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Die Bereicherung an Wohlstand und Ansehen, sonst nichts. Welchen Weg wohl diese sieben Kapazunder gewählt haben, die anlässlich eines G7-Gipfels im deutschen Dankerode zusammengekommen sind? Vielleicht sind sie ja auch nur des Regierens müde geworden. Und haben sich frei nach dem Peter-Prinzip so sehr an die oberste Kante gelebter Menschheitsgeschichte gepusht, dass sie, angekommen am Ende der Nahrungskette, ihr Politprogramm längst ausgehöhlt haben.

Die lieben Sieben sind: Deutschlands Kanzlerin Hilda Ortmann, in welcher Cate Blanchett wohl weniger eine Reminiszenz an Angela Merkel sieht als vielmehr die ganz offensichtliche parodistische Verzerrung einer Ursula van der Leyen. Die britische, reicht eifrige Premierministerin Cardosa Dewinth (Nikki Amuka-Bird), der viel zu alte amerikanische Präsident Edison Wolcott (Charles Dance), dauermüde, neben der Spur und ganz klar Joe Biden imitierend, der sich beim letzten Schlagabtausch mit Donald Trump im Fernsehen ähnlich präsentiert hat. Wer sich hier noch eingefunden hat: Der italienische Premier, ein Schnorrer unter dem Herrn. Der französische Präsident (Denis Ménochet), der über Sonnenuhren philosophieren wird. Und Japans Polit-Oberhaupt als die farbloseste Gestalt in diesem tolldreisten Reigen der Phrasendrescher, die sich im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens einer globalen Krise stellen müssen. Welcher Natur diese sein mag, darüber lässt sich nur mutmaßen. Doch vielleicht hat sie mit den Moorleichen zu tun, die in der Nähe des Anwesens gefunden wurden. Vielleicht ist bereits jetzt schon das Ende der Menschheit nahe. So genau weiß man das nicht. So genau wissen es nicht mal die G7, denn was sie auszeichnet, ist ihre erschreckende Inkompetenz darin, konstruktive Strategien zu erarbeiten. Ehrlich: Wer will das schon an einem lauen, alkoholreichen Abend mit gutem Essen? Wer will das schon, wenn die amourösen Sorgen des labilen, kanadischen Premierministers viel interessanter scheinen? Der wird schließlich verkörpert von Roy Dupuis. Mit langer grauer Mähne und dem Auftreten als Frauenheld und Schwerenöter, stets an der Kippe zur romantisch motivierten Weinerlichkeit, lenkt er die liebevoll-sarkastische Weltuntergangs-Satire Rumours in eine Richtung, die schon Stanley Kubrick mit Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben eingeschlagen hat. In dieser Nacht der lebenden Toten oder der zum Tode verurteilten Lebenden ist die Symphonie der leeren Worte das Requiem auf einen kolportierten Fortschritt, der nur so tut, als ob er die Dauerprobleme der Menschheit in den Griff bekommt.

Das Regie-Trio Guy Maddin (bislang wohl eher bekannt für experimentelles Kino wie The Green Fog) sowie Evan und Galen Johnson haben eine diebische Freude daran, den Mächtigen dieser Welt Grips und Wort zu stehlen. Oder aber: die Politik dahinter als das zu entlarven, was sie stets zu sein scheint: Die Liebesmühe pflichtbewusst verfasster Schulaufgaben unwilliger Unterstufler.

Doch das Wortspiel, die privaten Befindlichkeiten, das Geplänkel allein – das alles reicht nicht. Rumours lässt die Oberen durch den deutschen Wald irren, lässt sie Hirn finden und Alicia Vikander, die nur schwedisch spricht. Das Ensemble der Sieben wird dabei zusehends entindividualisiert und zum Sinnbild ihrer Staaten, die sie vertreten. Immer abstrakter wird das Spiel, zur satirischen Karikatur eines Landes mit all seinen Klischees werden Blanchett, Charles Dance und Co. Diese Klischees aber haben einen erschreckend wahren Kern. Und wenn sich dieser ganz offenbart, ist es längst zu spät. Für sie und für uns alle.

Ein schneidend spaßiger Film ist Rumours geworden, das Endzeitabenteuer der Wichtigen, die ihre Prioritäten nicht mehr erkennen, mit Hang zum Genre des Phantastischen.

Rumours (2024)

Universal Language (2024)

BABEL LIEGT IN KANADA

8,5/10


universallanguage© 2024 Viennale


LAND / JAHR: KANADA 2024

REGIE: MATTHEW RANKIN

DREHBUCH: ILA FIROUZABADI, PIROUZ NEMATI, MATTHEW RANKIN

CAST: MATTHEW RANKIN, PIROUZ NEMATI, ROJINA ESMAEILI, SABA VAHEDYOUSEFI, SOBHAN JAVADI, MANI SOLEYMANLOU, DANIELLE FICHAUD U. A.

LÄNGE: 1 STD 29 MIN


Eines hatten mehrere Filme in der Auswahl der Viennale gemeinsam: In ihnen war es saukalt. In Anora herrschten Minusgrade, in The Damned froren sich sämtliche Soldaten der Nordstaaten während des Bürgerkrieges den Allerwertesten ab, und in Universal Language wird Winnipeg, die Hauptstadt Manitobas in Kanada, zur urbanen Frostbeule, in der es so kalt ist, dass die Wäsche am Balkon, die andere zum Trocknen aufhängen, bretthart gefriert. Allerdings, so ließ sich Darsteller Pirouz Nemati während eines Q&A nach dem Film entlocken, ist die Darstellung der Kälte in diesem Film keinesfalls übertrieben. Den Klimawandel würde man dort wohl kaum vermuten, wohl schon eher den Wandel der Sprachen. Denn so seltsam es auch klingen mag und, sofern man sich nicht selbst davon überzeugen könnte, es niemals glauben möchte: In Winnipeg spricht man Farsi.

Man nehme die Welt mit all ihren Bewohnern und schüttelt sie wie in einer Schneekugel (das passt sogar) einmal gründlich durch. Sprachen und Orte verschieben sich. Ein neues Babel entsteht, mit dem Mikroskop hält Matthew Rankin aber weiterhin gezielt auf die merkwürdigen, gesellschaftlichen Strukturen der Bewohner einer Stadt, die Insider wohl szenenweise wiedererkennen würden, andere jedoch keinesfalls. In dieser Stadt, in diesem Stadtkreis, ist das einzige große Rätsel nur der gemeinsame Nenner vieler kleiner Obskuritäten. Ein Panoptikum surrealer Miniaturen wird hinter einer sinnbildlich bröckelnden Fassade schmuck- und fensterloser Häuserfronten sichtbar, auch im Eis stecken so manche Schätze, die geborgen werden wollen. Doch gerade ein Wunsch wie dieser tritt eine Kette an kausalzusammenhängenden Ereignissen los, die immer tiefer und immer lustvoller durch einen Kosmos mäandern, der nur in Träumen existieren kann. Es ist dies wohl der ungewöhnlichste und verblüffendste Film der diesjährigen Filmfestspiele in Wien. Eine Schmuckschatulle, prall gefüllt mit Ideen, die eine karussellartige Geschichte erzählen. Von Truthähnen, Kleenex-Tüchern und einer Neudefinition für den Tourismus attraktiver Sehenswürdigkeiten, für die man mal gut und gerne nicht nur eine Schweigeminute einlegt.

Der kanadische Filmemacher und Visionär Matthew Rankin, bislang stets mit Kurzfilmen vertreten und 2019 mit der bizarren Fake-Biografie The Twentieth Century im Langfilm debütiert, könnte mit Universal Language den Grundstein dafür legen, auch zukünftig ein ausgesuchtes Publikum mit Hang zum Absurden begeistern zu können. Die Herren Wes Anderson – jeder kennt ihn mittlerweile als Ensemblefilmer, dem die Stars die Türen einrennen – und der Schwede Roy Andersson (Über die Unendlichkeit) haben es bereits vorgemacht. Ihre Filme wären in einem Pulk von tausenden anderen so leicht zu erkennen, da ihren Stil und ihre Handschrift niemand sonst imitieren kann. Das Setzkastenkino von Wes Anderson mag wahrlich kurios sein – der Wille zur Dekoration seiner Sets mag aber manchesmal den Tiefgang außen vorlassen. Bei Roy Andersson ist das anders. Seine Momentaufnahmen grimmig-existenzialistischer Alptraumszenen rütteln am Gemüt und vermitteln gespenstisches Bilderbuchkino. Matthew Rankin braucht keine Stars. Seine Kunst erinnert unweigerlich an beide, findet dabei jedoch eine andere Mitte, einen anderen Schwerpunkt. Universal Language hinterfragt gesellschaftliche Strukturen, Wertigkeiten und Identitäten. Er verzerrt auf burleske Weise die Marktwirtschaft, den Familiensinn und menschliche Fehler in der Kommunikation. So skurril-witzig seine Anekdoten auch sind, so lakonisch-melancholisch balancieren sie am Rande einer tieftraurigen, tränenreichen Schwermut. Rankins Tableaus sind nicht von dieser Welt, sie erzählen von einem alternativen Universum voller liebenswerter, aber gewöhnungsbedürftiger Figuren. Dieser frische Wind im Kino des Surrealen ist schneidend kalt. Die Beziehungen unter den Menschen der einzige Weg, sich zu wärmen.

Universal Language (2024)