Sympathy for the Devil (2023)

IM OVERACTING DURCH DIE NACHT

5/10


sympathyforthedevil© 2023 Leonine


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: YUVAL ADLER

DREHBUCH: LUKE PARADISE

CAST: NICHOLAS CAGE, JOEL KINNAMAN, KAIWI LYMAN, CAMERON LEE PRICE, BURNS BURNS, ALEXIS ZOLLICOFFER, RICH HOPKINS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Was habe ich da unlängst gelesen? Nicholas Cage hat beschlossen, weniger Filme zu machen? Würde dieser Vorsatz für 2024 tatsächlich Gestalt annehmen, blieben immer noch genug Werke übers Jahr verteilt übrig, um den Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Vielleicht wird er ja wählerischer, und nicht jedes dahergelaufene Drehbuch wird von ihm vor der Rundablage bewahrt. Man merkt auch: die Wahl seiner Filme ist längst eine durchdachtere. Mehr Abwechslung heisst es längst. Demnächst wird er in Dram Scenario einen Mann geben, der in den Träumen anderer auftaucht und folglich für Unordnung sorgt. Diesmal allerdings, in Sympathy for the Devil (dabei muss ich unweigerlich an den Song der Rolling Stones denken), sorgt er für Trouble am Rücksitz eines Privat-PKWs, der von Joel Kinnaman gelenkt wird. Dieser gibt einen erschreckend farblosen Durchschnittstypen, der in Kürz nochmals Papa werden wird. Auf dem Weg ins Krankenhaus – oder genauer gesagt: bereits dort angekommen, wird dessen restliche Agenda so ziemlich über den Haufen geworfen. Ein rotmähniger Typ mit Glitzersakko, quasi aufgedonnert fürs Casino, zwängt sich ins Auto und hält dem verstörten Bürger eine Waffe unter die Nase. Entbindung ist also nicht, viel eher begeben sich die beiden wieder auf die Straße, quer durch Las Vegas und darüber hinaus. Dieser scheinbar vom Wahnsinn anheim geholte Typ hat irgendeine Rechnung offen. Oder er will einfach nur von A nach B. Irgendetwas scheint da nicht auserzählt, da lauern Geheimnisse am Fahrbahnrand, die nach und nach in den Schein der Straßenlampen kommen, wenn nicht gar ins heimelige Licht eines Diners im Nirgendwo, ganz klassisch im Sechzigerlook und mit kaum fluktuierender Kundschaft, denn es ist mitten in der Nacht, und vielleicht ist Cage gar einer, der aus dem Reich des Unerklärlichen kommt.

Lange hält uns Yuval Adler (u. a. Die Agentin, The Secrets wie Keep – ebenfalls mit Joel Kinnaman) im Unklaren darüber, was die beiden eigentlich verbindet oder nicht verbindet. Und eigentlich ist es auch ziemlich egal. Denn das Einzige, was an diesem Film wirklich fasziniert, ist Nicholas Cage. Zweifelsohne ist der Mann immer noch eine einzigartige Nummer. Sein Overacting ist Markenzeichen, und in vielen anderen Fällen ist dieses Outrieren, wie man in Fachkreisen auch noch sagt, ein Manko. Beim Coppola-Neffen allerdings nicht. Selbst Overacting muss man mal können – dabei ist die Darstellung seiner Figur, wenn man mal die schauspielerischen Spitzen wegnimmt, souverän angelegt, zeugt von Können und bleibt auch glaubhaft. Schwer hingegen hat es da Joel Kinnaman. Gegen Cage hat dieser keine Chance, auch wenn seine Figur vieles zu verbergen scheint und lange Zeit so tut, als wäre nichts. Wenn der für diese Art Film unvermeidliche Storytwist uns Zusehern dann die Gnade erweist, aus seinem Drehbuchloch hervorzukommen, entgleitet die Rolle. Doch Cage schert das nicht. Er weiß, dass er seinen Filmpartner platt macht, auch wenn das Kräftemessen zwischen den beiden ab und an die Seite des Siegers wechselt. Auch das ist vorhersehbar, denn wie sonst soll man Spannung in einem Film halten, der sich mit einigen Ausnahmen als Zweipersonen-Thriller durch die Nacht kämpfen muss. Filme dieser Art gibt es viele, anderen fällt dabei gerne Collateral mit Tom Cruise und Jamie Foxx ein. Doch dieser Film ist, was er ist, und betrachtet seinen Plot maximal aus sozialphilosophischer Distanz. Adler zieht in seinem Film aber eine gewichtige Background-Ebene ein, die das ganze Dilemma letztlich erklären soll. Nun, es bleiben wenige Worte für eine dünne Story, die, sobald man sie gehört hat, schnell wieder in Vergessenheit gerät. Die Courage zum Psychothriller als perfides Spiel mit Identitäten reicht leider nicht ganz, um in seiner Prämisse zu überzeugen. Cage als manisch grinsender Rotschopf hingegen kann noch einige Zeit länger in Erinnerung bleiben. Sympathy for the Devil ist kaum der Rede wert, die Sympathy for Nicholas Cage jedoch schon.

Sympathy for the Devil (2023)

Hit the Road (2021)

EIN GRENZFALL FÜR DIE FAMILIE

7/10


hittheroad© 2023 Panda Lichtspiele


ORIGINAL: JADDEH KHAKI

LAND / JAHR: IRAN 2021

REGIE / DREHBUCH: PANAH PANAHI

CAST: HASSAN MADJOONI, PANTEA PANAHIHA, RAYAN SARLAK, AMIN SIMIAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Zwei Jahre hat es gebraucht, um diesen Film in die Kinos zu bringen. Vor rund zwei Jahren lief Hit the Road im Festivalprogramm der Viennale ’21 – was letztlich den Ausschlag gibt für eine derartige Verspätung, darüber kann man spekulieren. Gut ist, dass Panah Panahis Roadmovie es geschafft hat, ans Ziel zu kommen. Nämlich dorthin, wo er hingehört – auf die Leinwand. Für knappe 90 Minuten nimmt uns der Iraner mit auf eine höchstpersönliche Autofahrt quer durchs Land, vorbei an atemberaubenden Felsformationen, durch fruchtbares Land und über grüne Hügel. Es ist ein Weg des Abschieds, doch wer hier wen verlässt oder ob alle gehen, kristallisiert sich erst viel später heraus. Klar ist, dass Mutter, Vater und die beiden Söhne, zwischen denen ein enormer Altersunterschied liegt, nicht per Gaudi einen Ausflug unternehmen, obwohl man beim jüngsten Spross Rahma, der für sich allein die Party seines Lebens schmeißt und vor lauter Liebe zur Welt stets den Boden küsst, auf dem er wandelt, durchaus die Meinung vertreten kann, dass alles nur existiert, um Spaß zu haben und Scherze zu treiben. Rahma (eine Wucht: Rayan Sarlak) ist das quirlige Zentrum dieser kleinen Gemeinschaft, die ewige Sonne, um ihn herum schwerfällige und leichtere Trabanten. Papa trägt einen Gips, die Mutter weiß nie, ob sie lachen oder weinen soll, der ältere Sohn gibt sich wortkarg, denkt nach, ist so angespannt, als würde er in den Krieg ziehen oder verfolgt werden. Und der Hund? Der liegt im Sterben.

Verfolgt zu werden wäre in Anbetracht der Tatsache, dass alle fünf unterwegs sind zur türkischen Grenze, gar nicht mal so abwegig. Im Iran herrschen andere Regeln, was die Ausreise betrifft. Da muss man schon wissen wie, um ein besseres Leben anderswo zu ergattern. Alles scheint organisiert, unter Dach und Fach. Die Fahrt ist lang, zu erzählen gäbe es viel, doch kaum jemand findet den Zugang durch all den Smalltalk hindurch genau dorthin, wo Angst, Kummer und Vertrauen liegen. Immer wieder hält das Auto an, immer wieder finden sich Momente der Klarheit und der Mut, das unmittelbar Bevorstehende anzusprechen.

Für dieses waschechte Roadmovie, das durch den Nordwesten Irans führt, braucht es weder eine twistreiche Story noch einen komplexen Plot, sondern lediglich Raum und Zeit für Konfrontationen. Jafar Panahis (u. a. No Bears) Bruder Panah nutzt diese cineastische Mitfahrgelegenheit, um vor allem auch mit musikalischer Färbung die Emotionen hin und herfluten zu lassen, wie schwappendes Wasser in einer Wanne. Oft blickt der Vater gedankenverloren und verbittert ins Narrenkästchen, nachdem er für Rahma den kauzigen Brummbären gegeben hat. Dann setzt die Klassik ein, Tastenmusik in Moll. Für die Mutter gibt’s persische Schlager mit schmachtend- kitschigen Texten, zu denen sie gar mitsingt. Worte, die etwas bedeuten, sind ein schwer zu ergatterndes Gut – ist der Moment gerade günstig, lässt Parhani das Gespräch laufen, minutenlang, ohne Druck, ganz entspannt, irgendwo am Fluss, während dahinter das Wasser rauscht. Parhani spielt auch mit erzählerischen Ebenen, lässt essenzielles im Hintergrund und anderes, wichtigeres, nach vorne treten, obwohl dieses Wichtige nicht mehr preisgibt als den Blick. Der Moment der Wahrheit bleibt auf Distanz, ganz weit weg stehen wir und beobachten das Drama eines Neuanfangs. Über allem das quirlige Gekreische Rahmas.

Persisches Kino ist seit jeher bereichernd – und auch Hit the Road bringt einiges an neuen Sichtweisen und veränderten Prioritäten mit. Die Art, wie Parhani den Alltag des Reisens einfängt und klarstellt, dass niemand jemals auf einen Abschied wie diesen vorbereitet sein kann, trägt eine gewisse Bescheidenheit in sich und eine Akzeptanz den Dingen gegenüber, die zu tun sind. Der kleine, hyperaktive Rahma aber wird, obwohl er nichts aktiv dazu beiträgt, die Inkarnation einer hoffnungsvollen Zukunft. Er ist die Stütze, die die Familie nicht zerbrechen lässt.

Hit the Road (2021)

Sophia, der Tod und ich (2023)

WER SPÄTER STIRBT IST TROTZDEM TOT

4,5/10


Sophia, der Tod und ich© 2023 DCM / Stephan Rabold 


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2023

REGIE: CHARLY HÜBNER

DREHBUCH: LENA MAY GRAF, NACH DEM ROMAN VON THEES UHLMANN

CAST: DIMITRIJ SCHAAD, MARC HOSEMANN, ANNA MARIA MÜHE, JOHANNA GASTDORF, LINA BECKMANN, JOSEF OSTENDORF, CARLO LJUBEK, CHARLY HÜBNER, MATEO KANNGIESSER U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Kaum ist man geboren, hängt sich der Tod bereits an einen dran. Jederzeit kann’s passieren, und die so unergründliche Entität nimmt uns mit ins Jenseits. Dabei gibt’s aber durchaus findige Köpfe, die dem Gevatter ein Schnippchen schlagen können. Die vielleicht mit ihm Schach spielen wie bei Ingmar Bergman, die vielleicht auch auf die Idee kommen, ihm Hochprozentiges einzuflößen, bis er nicht mehr gerade gehen kann wie im Song der Austro-Band EAV. Der Tod ist manipulierbar, wenn man weiß, wie. Oder man nimmt ihn hin und hat dabei noch das Glück im Unglück, die Sache etwas aufzuschieben, um reinen Tisch zu schaffen und manch Angelegenheit zu klären, die zu Lebzeiten lange im Unklaren lag.

Der Musiker Thees Uhlmann, Sänger der Hamburger Band Tomte, hat übers Sterben einen skurril anmutenden, im Kern selbst aber ernüchternd resignierenden Roman geschrieben, der einen Taugenichts als Jedermann ins Bild rückt. Ihn muss einer der Handlanger des Todes über seine sterblichen Rechte aufklären, bevor er ihn mitnimmt. So steht er also vor der Wohnungstür eines vom Wein beseelten Reiner und gönnt ihm drei Minuten, um sein Leben abzuschließen. Natürlich funktioniert das nicht, Morten de Sarg – wie sich der blasse Gentleman nennt – verpasst seinen Einsatz, weil Reiners Ex namens Sophia die Party crasht. Ein wichtiger Termin steht schließlich an – die Mama feiert Geburtstag, und die beiden, mit dem Tod im Schlepptau, müssen in den Norden reisen. De Sarg bleibt nichts anderes übrig, als sich seinem Klienten an die Fersen zu heften, muss er doch den Auftrag von ganz oben erfüllen, sonst gerät die göttliche Ordnung ins Wanken. Und das will schließlich niemand erleben, wenn sowas passiert. Die Frage ist: Will man erleben, was passiert, wenn der ganz persönliche „Boandlkramer“ wie im Song besagter EAV irdische Genüsse plötzlich schätzen lernt? Im Grunde wäre das witzig – unter der Regie von Debütant Charly Hübner (u. a. Mittagsstunde) und den heiseren Auftritten von Marc Hosemann als blassen Störenfried allerdings tüncht ein unfreiwillig unkomischer Humor nur die schreckliche Gewissheit, dem Unausweichlichen entgegengehen zu müssen.

Die für uns so geheimnisvolle Welt der Himmelsscharen hätte aus der Feder Neil Gaimans oder gar Terry Pratchetts kommen können. Oder aber, Thees Ullmann gefällt die Idee, die monotheistische Hierarchie des (katholischen) Christentums sowie das Who is Who der literarischen Todesmythologie auf eine popkulturelle Wurstbuden-Gesellschaft herunterzubrechen. Bei Gaiman sind die Gestalten aus der Bibel immer noch in gewissem Maße geheimnisvoll und entrückt, aber dennoch bodenständig. Anders als die kettenrauchende Erzengelin Michaela, die am Flachdach eines Betonbaus anscheinend täglich der Exekutive des Sensenmannes deren Aufträge überreicht, in Form kleiner Notizbüchlein; manche bekommen mehr, manche weniger – und Morten de Sarg nur eines. Der ist ein blasser Mann in Schwarz, ein bisschen wie Mephisto, und doch erstaunlich ahnungslos. Über allem steht Gott als adipöser Lumpensammler, ebenfalls kettenrauchend, nicht wirklich eine sphärische Figur, sondern die Idee eines lebensüberdrüssigen Barbesuchers, der zur Sperrstunde nicht gehen will. Vielleicht ist das alles nur die Vision von Reiner (Dimitrij Schaad, u. a. Aus meiner Haut), und aus der Sicht eines anderen sieht das ganze wieder ganz anders aus.

Sophie, der Tod und ich will sich mit einem Tabu-Thema, das die Menschheit seit Ewigkeiten umtreibt, zwar einen Spaß erlauben, doch das Lachen bleibt unentwegt im Halse stecken, wenn denn manche Situationskomik überhaupt zum Lachen einlädt. Hübners Film ist kein bisschen Wim Wenders – eher ein Dead Man Walking. Es sind die letzten Tage eines angekündigten Toten, der in dieser Zeit keinerlei Freude mehr findet, schon gar keinen Sinn. Manch angedeutete biographische Ursache, die als Motivator für Reiners letzte Reise gelten hätte sollen, zerfällt zur Randnotiz. Das ist wahrlich trist, und da hilft der hampelmännische Ausdruckstanz zweier Jenseits-Beauftragter auch nichts mehr, denn das ist nur noch Fassade.

Nicht vergessen darf man in diesem die Laune vortäuschenden Roadmovie eine überaus reizende Anna Marie Mühe, die mit ihren Bemühungen letztlich scheitert, Klamauk und bittere Taschentuchtragik zusammenzuhalten. Es ist, als wüsste niemand der am Film beteiligten genau, ob die nächste Szene nun eine komische oder traurige sein soll. Erst kurz davor entscheidet man sich, und dann bleibt nur noch die Improvisation anhand eines Konzepts, das prinzipiell – und als metaphysisches Drama wohl besser geeignet – einige kluge Gedanken parat hält, diesen aber das schale Glück, dass manche in Nikotin und Alkohol finden können, vorzieht.

Wäre der Film doch so geworden wie seine Songs. Das Duo Stainer & Madlaina bereichert das Long Goodbye mit eingängigen, kurzen Stücken, die genau das zum Ausdruck bringen, was der Film die ganze Zeit wollte. Sie sind das, was man letztlich mitnimmt aus dem Kino. Um es später nachzuhören. Vielleicht immer wieder.

Sophia, der Tod und ich (2023)

Broker – Familie gesucht (2022)

MENSCHENLEBEN ZU VERGEBEN

6/10


broker© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2022

BUCH / REGIE: HIROKAZU KORE-EDA

CAST: SONG KANG-HO, GANG DONG-WON, BAE DOONA, JI-EUN LEE, LEE JOO-YOUNG, SEUNG-SOO IM, JI-YONG PARK U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Das macht schon was mit jemandem, der draufkommt, nicht gewollt auf die Welt gesetzt worden zu sein. Der rein zufällig lebt und atmet, obwohl er nicht geplant war. Eine Existenz, entstanden aus einem Unfall. Gut, es gibt Eltern, die nehmen dieses Ereignis dankend an, denn es wird ihr Leben verändern und um unersetzbare Aspekte bereichern. Es gibt aber auch welche, die niemals Mutter oder Vater sein wollen. Oder können. Wie fühlt man sich, als ein Kind, das keiner haben will? Eine neue Familie, ja klar. Aber dass die leiblichen Eltern einen nicht wollen, lässt sich, wie es scheint, nicht verwinden. Da kann es passieren, dass man im Erwachsenenalter aus der Not der anderen, die noch nicht wissen, wie ihnen geschieht, weil zu klein, Profit herausschlägt. Zwecks Rache. Als Genugtuung. Als Eigentherapie, wie auch immer.

Dong-soo zum Beispiel, selbst einmal Waisenkind gewesen und in entsprechender Einrichtung aufgewachsen, hat sich darauf spezialisiert, gemeinsam mit seinem älteren Freund Sang-Hyun „weggeworfene“ Babys, wie sie es nennen, an kinderlose Eltern zu verhökern, die das offizielle und oft recht mühsame Prozedere zur Adoption umgehen wollen. Klar ist das ein Verbrechen, nämlich astreiner Menschenhandel. Auf Nachhaltigkeit und Gewissenhaftigkeit, wie das die Behörden tun, kann dabei nur schwer gesetzt werden. Da passiert es eines Nachts, dass das Schicksal des Babys von So-young, abgegeben an der Babyklappe einer Kirche, für die Dong-soo arbeitet, von Polizei und Sozialbehörde genauestens beobachtet wird. Und auch So-young hat es sich tags darauf anders überlegt und will ihr Kind wieder zurück – allerdings ist dieses bereits in den Händen der beiden Gauner, die aber im Grunde ihres Wesens herzensgut sind und von da an die Mutter des Kindes mit auf ihre Tour durchs Land nehmen, um die richtigen Eltern zu finden, die auch bereit sind, einen stolzen Preis zu zahlen. Warum da So-young mitmacht, erscheint anfangs nicht klar. Doch irgendwie fühlt sie sich zu den beiden Außenseitern, die selbst keine Familien haben und verstoßen wurden, hingezogen. Wen wundert es, wenn die Biographie der jungen Mutter ein ähnliches Trauma beinhaltet wie das der beiden Gefährten, die fortan so etwas wie eine notgedrungen zusammengewürfelte Familie bilden.

Song Kang-ho, wohl der berühmteste südkoreanische Schauspieler, und das schon seit Jahrzehnten, war Haus- und Hofakteur Park Chan-wooks und wurde durch Bong Joon-hos Parasite weltbekannt. Jetzt hat er letztes Jahr glatt noch die Goldene Palme für sein Schauspiel im vorliegenden Film namens Broker – Familie gesucht erhalten. Er spielt nicht schlecht, was anderes würde mich auch wundern, doch eine herausragende Leistung ist das keine. Dafür spielen ihn seine Kolleginnen und Kollegen fast schon an die Wand, allen voran Im Seung-soo als der kleine Hua-Jin, der sich in den Wagen der Broker schleicht, weil diese für ihn eine Familie sein könnten.

Die Idee des Films, inszeniert und geschrieben von Palme-Gewinner Hirokazu Kore-Eda, der mit dem thematisch recht ähnlichen Shoplifters auf sich aufmerksam machte, hat alles, was ein Seelenwärmer fürs Kino so braucht: Wehmut, Hoffnung, die inspirierende Eigendynamik einer kleinen Gemeinschaft und das erstrebenswerte Gefühl, gebraucht zu werden. Alle, die hier durch Südkorea tuckern, sind Verstoßene, denen das Glück in ihrem Unglück widerfährt, einander plötzlich wichtig zu sein. Dafür findet der Filmemacher vielsagende Momente voller Wahrhaftigkeit, die aber dennoch recht spärlich gesät sind. Denn so richtig mitnehmen will Broker sein Publikum manchmal doch nicht. Es ist, als wären sich die fünf Individuen selbst genug, und wir als Zuseher müssen gar nicht so genau nachvollziehen können, was nun als nächstes passiert.

Zu sprunghaft erscheint mir der Film, nachdem er sich anfangs recht viel Zeit gelassen hat, um überhaupt in Fahrt zu kommen. Kaum sind die Reisenden in Busan, sind sie plötzlich in Uljin oder Seoul. Dann sind da plötzlich Eltern, dort plötzlich Eltern. Es reißt Kore-Eda herum in seinem Skript, und zumindest mich selbst irritiert der plötzliche Orts- und Szenenwechsel manchmal doch so sehr, dass es mich fast bis zum Ende auf Distanz hält. Broker – Familie gesucht ist ein Film, der manche Details verschluckt, während er manchen wiederum zu viel Aufmerksamkeit schenkt. Dazwischen finden sich einige szenische Highlights, die aber dennoch keinen perfekten Film daraus machen.

Broker – Familie gesucht (2022)

Der Pfad (2022)

DIE ZUVERSICHT JUNGER UNBEUGSAMER

6/10


derpfad© 2022 Warner Bros. Deutschland


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, SPANIEN 2022

REGIE: TOBIAS WIEMANN

BUCH: RÜDIGER BERTRAM, JYETTE-MERLE BÖHRNSEN

CAST: JULIUS WECKAUF, NONNA CARDONER, VOLKER BRUCH, JYETTE-MERLE BÖHRNSEN, LUCAS PRISOR, BRUNA CUSÍ, ANNA MARIA MÜHE U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Älteren Kindern und Jugendlichen die verheerende Zeit des Nazi-Regimes näherzubringen, ist eine noble und auch äußerst wichtige Sache, welche das Kino der Gegenwart als seine Pflicht ansieht, hier ab und an auch den belehrenden und erkenntnisfördernden Part zu übernehmen. Vor vier Jahren flimmerte die Verfilmung des Buches Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ebenfalls schon über die Leinwand – und ja, solide inszeniert und in gewissem Maße schonend für jugendliche Gemüter hat Caroline Link hier das Drama von Flucht, permanenter Angst und Heimatverlust auf ein vernünftiges Maß an Intensität heruntergebrochen. Verständlich, nachvollziehbar, für Kinder das Abenteuer eines Ausnahmezustandes, der Stress verursacht.

Der Pfad von Tobias Wiemann (u. a. Amelie rennt) ist ebenfalls so ein Film, gemacht für Jugendliche, gefällig in seinem Drama und auffallend gnadenlos hinsichtlich einer omnipräsenten Bedrohung, die den beiden Kindern gefühlt aus allen Richtungen auf die Pelle rückt. Sehr bald auf sich allein gestellt, müssen sie einen Zustand meistern, den man normalerweise nur aus Fantasyromanen kennt, und dort ist es das Abenteuer des Guten gegen das Böse, mit offensichtlichem Erfolg für ersteres, denn wir leben in einer Welt der Moral in Märchen und Fiktion. Die Realität, die Geschichte Europas, sieht natürlich anders aus. Und so mag das Abenteuer stellvertretend für Gräuel stehen, die nicht mal noch Halbwüchsigen nicht nur die Familie, sondern auch das Leben entreißen will. Dagegen stemmt sich Rolf (Julius Weckauf, großer Durchbruch mit Der Junge muss an die frische Luft – und zwar zu Recht) mit seinem Vater Ludwig (Volker Bruch, Kommissar Gideon Rath aus Babylon Berlin), der als kritischer Journalist Anfang der Vierzigerjahre auf die Abschussliste gerät. Bis nach Paris und dann nach Marseille haben sich beide durchgeschlagen, jetzt heißt es noch über die Pyrenäen und dann an die Küste, wo ein Flüchtlingsschiff wartet und beide in die USA bringen soll, wo bereits die Mutter wartet. Im Rucksack hat Rolf stets ein Buch Erich Kästners: Der 35. Mai. Eine Geschichte, in der alles möglich und auf den Kopf gestellt scheint – in Zeiten wie diesen ein trostspendender, mentaler Support. Mithilfe von Nuria, einer ortsansässigen Bergführerin und selbst noch nicht mal ein Teenager, gelangen sie ins Gebirge – wo das Schicksal sich wenden wird. Und Rolf von seinem Vater Abschied nehmen muss.

Ähnlich wie Wie zwischen Himmel und Erde, Maria Blumencrons selbst verfilmte Erlebnisse einer Flucht aus dem kommunistischen China über den Himalaya will Der Pfad sich ganz sicher nicht nur auf den Survival-Trip zweier Kinder konzentrieren, sondern auch den politischen Aspekt betrachten. Von Menschenschmugglern und Fluchtrouten ist die Rede, von Deals und Bestechung zur Befreiung von Rebellen, die für die gute Sache kämpfen. Und von der Akzeptanz des Unmöglichen, die einhergeht mit dem zwangsläufig viel zu früh geführten Schritt aus der Welt der Kindheit in eine ernüchternd-brutale Realität. Wie Julius Weckauf „erwachsen“ werden muss, weil ihm sonst nichts anderes übrigbleibt, weil auch die Obhut der Eltern fehlt, zeigt sich als stark gespieltes Jugendkino mit dem Herzen am rechten Fleck und einer wunderbaren Chemie zwischen den beiden Jungstars, die zwischen lakonischem Humor und Sehnsucht nach Schutz und Geborgenheit stets die Contenance der Unbeugsamen wahren.

Der Pfad (2022)

EO

DEN MENSCHEN (ER)TRAGEN

5/10


EO© 2022 Rapid Eye Movies


LAND / JAHR: POLEN, ITALIEN 2022

REGIE: JERZY SKOLIMOWSKI

BUCH: JERZY SKOLIMOWSKI, EWA PIASKOWSKA

CAST: SECHS HAUSESEL, SANDRA DRZYMALSKA, LORENZO ZURZOLO, MATEUSZ KOŚCIUKIEWICZ, ISABELLE HUPPERT U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Die Sklaverei scheint abgeschafft? Nicht bei den Tieren. Alles, was auf vier Beinen steht, sich nutzen lässt und Mammon lukriert, dabei kein Wort zustande bringt, um sich mitzuteilen, sondern nur gutturale Laute von sich gibt, vom Grunzen bis zum Wiehern, ist uns Menschen gerade mal gut genug, um es auszunutzen. In so manchen Ländern mag die Achtsamkeit in Bezug auf tierisches Leben eine Reifung erlebt haben – an den meisten Orten dieser Welt bestehen dafür nach wie vor keinerlei Ressourcen. Und die Selbstreflexion, die stellt sich von selbst nicht ein, ist doch der eigene Vorteil des denkenden Individuums immer der, der einem am nächsten ist. Das Wohl der Tiere ist da nur noch Luxus, den sich keiner leisten will. Und wenn doch, dann ist diese Harmonie von viel zu kurzer Dauer. Bestes Beispiel für den Kreuzweg eines Nutztiers bietet dabei immer noch der Esel. Klein, stoisch, genügsam und scheinbar gleichmütig allen Höhen und Tiefen seiner Existenz gegenüber. Der Blick aus den großen, runden, schwarzen Augen ist immer derselbe, die egal, was sie sehen müssen, hinnehmen. Als wüsste der Esel, dass er seine Pflichten zu erfüllen hat, und für nichts anderes auf der Welt ist, als Wägen zu ziehen, sich reiten zu lassen oder als Eigentum von jemand anderem zum Symbol zu gereichen.

Dieser Esel, genannt EO (Das polnische „I-Ah“) lebt zu Beginn dieses Films als Zirkustier gemeinsam mit seiner Artistin Kassandra gar nicht mal so schlecht. Die junge Dompteurin weiß den Wert des Tieres zu schätzen, schenkt ihm sogar mütterliche Liebe, pflegt und streichelt es. Doch dann passiert das: Tierschützer steigen auf die Barrikaden, die örtliche Exekutive beschlagnahmt das gesamte animalische Inventar, EO wird verschachert und kommt bei einem Pferdegestüt unter, wo sein Kreuzweg erst so richtig beginnt. Von dort nämlich bricht er aus, womöglich sucht er seinen Bezugsmenschen aus dem Zirkus, wandert von Polen gar bis nach Italien, wird misshandelt, entwendet und wieder versklavt, wird dann illegal in einem LKW außer Landes gebracht und an irgendeiner Raststation von einem Glücksspieler entwendet, der das gezeichnete Wesen zu Isabelle Huppert bringt, einer gottesfürchtigen, seltsamen Person, deren Auftritt völlig zusammenhanglos und aus der Luft gegriffen scheint, und die daher auch niemals mit dem Esel interagiert, was dieser wiederum nutzt, um nochmal auszubrechen.

Und so wandert er durch rund 90 Minuten Film, dieser graue Stoiker mit den Wachelohren und der pelzigen Schnute, dargestellt von sechs verschiedenen Tieren seiner Art. Der polnische Künstler Jerzy Skolimowski, der längst nicht nur Regie führt, lässt sein niemals zur Ruhe kommendes Wesen die Welt der Menschen aus seinem Blickwinkel betrachten – was nicht heißt, dass wir wortwörtlich alles mit dessen Augen sehen. Was EO widerfährt, sind die Schattenseiten eines sich über allem stellenden Unterjochers, der als minder ansieht, was er nicht versteht. Der besitzt, was keinen Besitzanspruch hegt. Der Gewalt ausübt an dem, der nicht vorsätzlich Gewalt ausüben kann. So sind sie, die Menschen, scheint sich EO zu denken, und dann träumt er wieder – oder wir sehen Gedanken und Visionen des Tieres, die, in rotes Licht getaucht, aus Fetzen der Erinnerung und Sehnsüchten bestehen.

Smolikowski hält nicht viel davon, es dem Publikum leicht zu machen. Harte Schnitte, stroboskopische Lichteffekte und andauernd diese Düsternis aus künstlichem Licht, dann wieder weite Landschaften und Nutztierromantik, wenn Pferde auf einer Koppel in Zeitlupe dahingaloppieren. Davon aber gibt es herzlich wenig – und es scheint auch niemals zu passieren, dass EO auf seinem Weg in Situationen gerät, die nicht nur seinen tierischen Geist weiterbringen, sondern auch den des Menschen an sich. Wie schon Robert Bresson mit seinem existenzialistischen Drama Zum Beispiel Balthasar gleichnamigen Esel durch eine gequälte Existenz führt und ihn am Ende die Kugel gibt, hält auch Smolikowski an diesem Nihilismus fest. Und so lässt er den Esel zwar nicht immer tiefer in den dunklen Brunnen gleiten, holt ihn aber von dort auch nicht wieder herauf. Pure Tristesse trifft Experimentalfilm, der noch dazu mit einer akustischen Untermalung aufgeigt, die durch ihre tönende und wummernde Penetranz von den visuellen Feinheiten ablenkt.

EO mag in manchen Szenen zu einem tierischen Pinocchio werden wollen, doch dann begnügt sich das Mensch-Tier-Gleichnis mit zynischer Schwermut, die zum Teil sogar dem Fehlen einer narrativen Entwicklung geschuldet sind. Ein Film also wie ein Mühlrad, dessen Schlinge EO um den Hals hat – und immer weiter, immer weiter laufen muss, stetig im Kreis.

EO

End of the Road

THE QUEEN IS NOT AMUSED

3,5/10


endoftheroad© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MILLICENT SHELTON

BUCH: CHRISTOPHER J. MOORE, DAVID LOUGHERY

CAST: QUEEN LATIFAH, BEAU BRIDGES, LUDACRIS, MYCHALA LEE, SHAUN DIXON, JESSE LUKEN, FRANCES LEE MCCAIN, TABATHA SHAUN U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Wenn man in den USA Überland unterwegs ist und dabei in einem Motel übernachten muss, gilt als erste Regel: Mische dich niemals – ich wiederhole: niemals – in Angelegenheiten der Zimmernachbarn ein. Auch wenn sich diese lautstark zu irgendwelchen Handgemengen hinreissen lassen, die noch dazu das Ableben eines der Streitenden nach sich ziehen. Die zweite Regel besagt: Auch wenn es den Anschein hat, dass die Querelen nebenan nun vorbei sind und dort niemand mehr aufzufinden ist: Gehe niemals dort hinein und schnüffle am Tatort rum. Und die dritte Regel – obwohl man davon ausgehen sollte, dass niemand so bescheuert sein sollte, diese wirklich und wahrhaftig zu brechen: Nimm, nachdem du Regel zwei schon gebrochen hast und sowieso alles egal ist, zumindest nichts mit, was nicht dir gehört. Auch – oder gerade, wenn es Millionen an Dollars sind, die in einer Tasche unterm Waschbecken ihrer Abholung harren. Diese Millionen lässt niemand so einfach stehen. Schon gar nicht jemand, der den Vorbesitzer dieses Trageutensils in die ewigen Jagdgründe geschickt hat.

Nun, so viel bei Verstand sollte zumindest jeder sein, der bis zehn zählen kann. Ist er aber nicht. Da gibt es den naiven Reggie (Rapper Chris „Ludacris“ Bridges), ein Ex-Knastbruder, der gemeinsam mit seiner älteren Schwester Brenda (Queen Latifah), seiner Nichte und seinem Neffen unterwegs ist zu deren Mutter, um neu anzufangen. Die Fahrt ist lang, und ohne Sleepover wird’s nicht gehen. Und siehe da: Die Nacht bringt eingangs erwähnte Unruhen mit sich. Und siehe da: der naive Reggie bricht Regel Nummer drei und schnappt sich, ohne dass die anderen es wissen, die Tasche voller Geld. Was folgt, sind Komplikationen, die entstehen, wenn man sich unter den Nagel reisst, was einem nicht gehört. Bares in Taschen ist meist unrechtmäßiges Eigentum von Verbrechern, die auch nicht zögern, Gewalt anzuwenden. In End of the Road kommt es, wie es kommen muss. Zum Glück aber haben sie einen kauzigen Sheriff in Gestalt von Beau Bridges an ihrer Seite, den genauso gut Clint Eastwood oder gar Liam Neeson hätten spielen können. Behäbig, jovial, und im Bilde, wenn es um gesetzliche Schieflagen geht.

Um diese flüchtenden und jagenden Figuren weht der Staub eines unerbittlichen New Mexiko. Die Einschicht und Isolation dieses Landstriches, der Hang zur Anarchie, die Gesetzlosigkeit, wie sie schon Steven Spielberg in seinem Duell bestens beschrieb, und die schon der Roadmovie-Thriller Joyride knackig formuliert hat, trägt auch in End of the Road von Millicent Shelton dazu bei, die Anzahl an Möglichkeiten, um aus dieser Sache schadlos herauszukommen, drastisch zu reduzieren. Wäre Queen Latifah nicht, die als Big Mama ordentlich auf den Putz haut und auch gleich einem ganzen Dutzend stiernackiger Nazis zeigt, wo die mütterlichen Instinkte herkommen, wäre der auf Netflix erschienene Durchreise-Thriller ein dramaturgischer Kolbenreiber mitten auf dem Highway.

Doch es kommt kein Hitcher, es kommt kein Truck, es kommt, wie man befürchtet hat, dass es nicht kommen soll. End of the Road bedient sich stereotypischen Story-Twists, die so abgenützt sind, dass sie jeglichen Suspense vermissen lassen. Die so konstruiert sind, dass sich selbst Millicent Shelton (die leider nicht das Script selbst schrieb) am Ende gar nicht mehr bemüht, ihren Film sorgfältig auszuerzählen. Und Queen Latifah? Nun, sie tut, was eine verzweifelte Mutter eben tut, um es allen recht zu machen. Selbst ihrem trotteligen jüngeren Bruder, den man eigentlich durch Sonne und Mond schießen sollte.

End of the Road

Bones and All

ZUM FRESSEN GERN

6/10


bonesandall© 2022 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc.  All Rights Reserved.


LAND / JAHR: ITALIEN, USA 2022

REGIE: LUCA GUADAGNINO

BUCH: DAVID KAJGANICH, NACH DEM ROMAN VON CAMILLE DE ANGELIS

CAST: TAYLOR RUSSELL, TIMOTHÉE CHALAMET, MARK RYLANCE, ANDRÉ HOLLAND, MICHAEL STUHLBARG, DAVID GORDON GREEN, JESSICA HARPER, CHLOË SEVIGNY U. A.

LÄNGE: 2 STD 11 MIN


Da lobe ich mir Hannibal Lecter: Zumindest hat sich dieser die Leber gebraten und fein gewürzt und dazu noch einen Chianti genossen. Das ist Kannibalismus mit Stil. Andererseits: Der belesene Feingeist mit Hang zur Bestie ist ein Psychopath und nicht von so genetisch bedingtem Zwang durchs Leben gepeitscht wie diese beiden jungen Endteenies hier in Luca Guadagninos neuem, gar auf der heurigen Viennale gezeigten Horrordrama Bones and All. Bei so viel unüberwindbarer Triebhaftigkeit haben Tischmanieren das Nachsehen. Kein italienischer Wein im Dekanter, und die Serviette steckt sich auch niemand in den Ausschnitt, denn Blut bekommt man selten gut raus, hat man nicht gerade Dr. Beckmanns zur Hand. Und so ist dieses Besudele mit dem Lebenssaft Menschen wie Taylor Russel oder Timothée Chalamet ein von Kindheitstagen an vertrauter Umstand. Die Gier auf Menschenfleisch hat deren Leben mit Hindernissen zugepflastert, dass es ärger nicht geht. Kaum beißt Maren ihrer besten Freundin den Finger ab, muss Papa mit Kind fluchtartig das Land verlassen. Vielleicht ließe sich diese Anomalie ja erklären – keine Ahnung, warum in diesem Fall nicht die Wissenschaft herangezogen wurde, denn nicht alle hätten vermutlich die Lösung für solche Extreme im 21. Jahrhundert auf dem Scheiterhaufen gesehen. Aber was sich nicht erklären lässt, will man sich auch nicht erklären lassen. So kommt es, dass Maren bald allein dasteht, weil der leidgeprüfte Vater das Handtuch wirft. Was tun, mit taufrischen achtzehn Jahren und keinerlei Schulpflicht? Sie trifft auf den seltsamen Sully, einem Eigenbrötler und Obdachlosen, der sie auf eine halbe Meile hin bereits gerochen hat, trägt er doch dasselbe Handicap mit sich herum wie Maren. Wenig später ist es dann Lee, wohl altersadäquater als die von Mark Rylance verkörperte Figur. Und wenig zimperlich, was die Beschaffung von Frischfleisch angeht. Mit dieser Hingabe aufgrund impulsiven Hungers und einer gestohlenen Karre bewegen sich die beiden quer durch die Vereinigten Staaten, weil Maren ihre verschollene Mutter finden und das Rätsel um diese äußerst unangenehme Veranlagung lüften will.

We are what we are – so nennt sich zumindest ein mexikanischer und später nachverfilmter amerikanischer Horrorfilm rund um eine kannibalische Familie, die mit Sicherheit lieber auf Grillhühner stehen würde als auf die eigene Spezies. Doch sie sind nun mal, was sie sind. Genauso sehen das Maren und Lee. Und vielleicht auch Sully. Basierend auf dem Jugendbuch (!) von Camille DeAngelis setzt Luca Guadagnino nach dem phänomenalen Liebesfilm Call Me By Your Name abermals den schlaksigen Chalamet in Szene. Der gibt einen James Dean-Outlaw mit gefärbter Lockenpracht, aber sonst wenigen schauspielerischen Extras. Der schöne Star spielt mittlerweile meist sich selbst, während Taylor Russel (Waves, Lost in Space) als introvertierte Vagabundin ihrem Co-Star, aber nicht Mark Rylance, die Show stiehlt. Vielleicht liegt‘s an der fehlenden Chemie zwischen den beiden. Das toxische Süppchen kocht lieber Spielbergs Lieblingsstar Rylance, der die verkappte Psycho-Nummer hochfährt, und am liebsten würde man ihm einen ganzen Film gönnen, würde er seine abstoßenden Attitüden nicht so sehr zelebrieren. Doch das ist gut so, diese Rolle gibt dem Film etwas Tiefe, während das übrige Szenario in den Tag, oder besser gesagt, in filmische zwei Stunden hineinlebt, ohne ein konkretes Ziel zu haben. Ja, gut, die Mutter in Minnesota. Aber in welchem Film sucht denn nicht irgendwer irgendwann seine Erzeuger, angetrieben von apokalyptischen Umständen im Rücken? Noch dazu weiß Guadagnino mit der Geißel des Fleisches nicht ganz so gut umzugehen. Als Metapher für ein Coming of Age-Roadmovie ist das Konzept zu vage, denn der Kannibalismus ist längst kein Ventil für das Erwachsenwerden wie in Julia Ducournaus viel einprägsamerem und sehr ähnlich gelagerten Drama Raw. Decournau wagt viel mehr Schritte hinaus aus der Box, während Guadagnino in gewisser Weise gutzuheißen gedenkt, dass Natural Born Killers wie diese, die nicht wie bei Oliver Stone erst durch dysfunktionale Medienpädagogik so gemacht wurden, ihr gesellschaftsschädigendes Verhalten nicht zwingend in den Griff kriegen müssen. Warum die Abkehr von der Gesellschaft? Vorwiegend dürfte es Scham sein. Oder die Lust am Anderssein.

Bones and All

Pixie

KEIN TASCHENGELD FÜR BÖSE JUNGS

4,5/10


pixie© 2022 Plaion Pictures / Aidan Monaghan


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2020

REGIE: BARNABY THOMPSON

BUCH: PRESTON THOMPSON

CAST: OLIVIA COOKE, BEN HARDY, DARYL MCCORMACK, FRA FEE, RORY FLECK-BYRNE, COLM MEANEY, ALEC BALDWIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Einmal um die ganze Welt, und die Taschen voller Geld… tja, davon hat sicherlich nicht nur der ehrenwerte Karel Gott als kleiner Bub geträumt. Denn: Ohne Geld ka Musi. Ohne Moos nix los. Auf dieser oder einer ähnlichen unbefriedigenden Gesamtsituation mangels Ersparten basieren rund die Hälfte aller Unterhaltungsfilme, die ihre Pro- und Antagonisten aufs kriminelle Pflaster schicken. Schön und gut, als Zuseher reizen solche Thematiken immer, denn dort, auf dem Bildschirm oder der Leinwand, sieht man Leute Dinge probieren, zu denen man sich selbst nicht hinreißen lassen würde, aus Scham oder Skrupel oder einfach, weil man zu wenig Mumm dafür hat. Im Kino sind der Mumm und die Tendenz zum Verbrechen das, was uns zum Zusehen verlockt. Nicht selten fühlt man sich, vermengt mit Schadenfreude, mehr als bestätigt, die eigene gesetzestreuen Blase noch nicht verlassen zu haben, wenn der Coup am Screen schiefgeht. Sowas nennt man dann Film Noir. Weniger traurig sehen dann Filme aus, die jemanden wie Olivia Cooke, die derzeit ja Westeros in House of the Dragon beehrt, ins Rennen schicken.

Wenn schon jemand, der sich Pixie nennt, den Weg raus aus Irland sucht, und zwar mit dem nötigen Taschengeld, und sich dabei den Unmut Alec Baldwins zuzieht, dann sollte das Schicksal diesen jemand auch begünstigen. Pixies, das sind doch die kleinen, aus dem Paradies verstoßene Fabelwesen Großbritanniens, die allerhand Schabernack treiben und gar als Testimonial für eine handflächengroße Buchreihe herhalten müssen, die gerade bei Kindern sehr beliebt ist. Ungefähr so keck und frivol will auch Olivia Cooke daherkommen. Und natürlich muss sie dabei zwei sympathische Möchtegern-Gauner an der Nase herumführen. Wie auch immer. Pixie ist also eine Thrillerkomödie, in der es tatsächlich nur darum geht, wie drei junge Leute zwei Taschen voller Geld entwenden, die der irischen Unterwelt gehören. Natürlich schickt diese ihre besten Soldaten aus. Zu den bösen Jungs zählen wie schon erwähnt Priester Alec Baldwin mit wenig Spielzeit, die fast schon am Cameo grenzt und dessen Figur wenig charakterliche Substanz hat. Und da haben wir Colm Meaney – der ist etwas länger zu sehen, doch auch er bedient sich sämtlicher Verbrecherklischees und möchte so sein wie Tony Soprano. Familienfreundlich, aber nach außen hin unerbittlich. So sind sie doch alle.

Und auf diese Weise, wie all diese Stereotypen durch die grünbraune Landschaft Irlands hintereinander her sind, scheint auch der ganze Film unter einer gewissen Stereotypie zu leiden, aus der nicht mal Olivia Cooke entkommen kann. Dafür, dass Produzent Barnaby Thompson (seinerzeit verantwortlich für Waynes World und einigen Oscar Wilde-Verfilmungen) seinen eigenen Film auch inszeniert und fürs Skript seinen Sohn engagiert hat, kommt dabei wenig geistiges Eigentum zustande, sondern sichtbare Schwärmereien für Genreklassiker, die aber dank ihrer zynischen Tendenzen ihren Plot auch so heiß essen, wie sie ihn gekocht haben. Pixie wird letzten Endes lauwarm serviert, und kaum dürfte das Lebensglück einer frechen Olivia, die alle gegeneinander ausspielt, mehr egal sein als hier. Würde Pixie ein bisschen mehr über ihre eigene Dreistigkeit stolpern, hätte der Streifen deutlich mehr Reibungsfläche.

Pixie

How It Ends

MIT SCHWIEGERPAPA UNTERWEGS

6/10


howitends© 2019 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2018

REGIE: DAVID ROSENTHAL

CAST: THEO JAMES, FOREST WHITAKER, KAT GRAHAM, KERRY BISHE, MARK O’BRIEN, NANCY SORRELL U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Die Welt steht auf kein‘ Fall mehr lang. Das wusste schon Johann Nestroy, als er für seine moralische Komödie Der böse Geist Lumpazivagabundus das sogenannte Kometenlied erdichtet hat. Wenn man wenigstens wüsste, aus welchem Grund die Erde untergeht, wäre ja das ganze Schicksal vielleicht besser zu ertragen, als wenn man im Dunkeln tappt. So wie Theo James in dem 2019 auf Netflix veröffentlichten endzeitlichen Roadmovie How it Ends. Das Problem an Titel und dazugehörigem Film: Man weiß eben nicht, wie es endet. Und schon gar nicht wodurch. Nur so viel: Irgendetwas ist passiert. Etwas ganz Schlimmes. Vielleicht der endgültige Kollaps aufgrund zu hoher Energiepreise? Margin Calls überall? Alles reine Spekulation. Was das amerikanische Volk im Osten des Kontinents, genauer gesagt in New York, als erstes zu spüren bekommt, sind Flugausfälle und eine gekappte Verbindung in den Westen. Für Theo James als werdender Vater Will eine schreckliche Sache, weilt doch die werdende Mutter in der eigentlichen Heimat Seattle, während Will geschäftlich nach New York hat fliegen müssen und dort auch gleich seine Schwiegereltern besucht. Mit Schwiegervater Tom, dargestellt von einem rollenbedingt etwas angriffslustigen Forest Whitaker, hat der Mittdreißiger so gut wie gar nichts gemeinsam, doch die angeheiratete Familie kann man sich eben nicht aussuchen. Als Vater Tom sich anschickt, mit dem Auto gen Westen aufzubrechen, um nach dem Rechten zu sehen, muss Will sich anschließen. Wie in einem Roadmovie dieser Art zu erwarten: Je weiter und je länger beide unterwegs sind, desto apokalyptischer wird die ganze Situation. Und je apokalyptischer diese wird, desto näher rücken die beiden Sturköpfe zusammen, um ihr Ziel zu erreichen.

Während man im Kometenkatastrophendrama Greenland längst wusste, was auf einen zukommt, konnte sich Ric Roman Waugh vollkommen auf das Bewältigen sämtlicher Probleme zum Überleben der Spezies konzentrieren. How it Ends fährt die kontinentale Angelegenheit auf eine Tour of Duty hinunter, die mit den üblichen Komplikationen aufwartet, denen Durchreisende eben mal so begegnen, greift die Anarchie langsam um sich. Whitaker verleiht dem Abenteuer so etwas wie Würde, seine gönnerhaft-resolute Erscheinung als Ex-Marine (was man ihm allerdings nicht so ganz glauben mag) weckt Interesse, und ja, man würde den Mann, würde er am Straßenrand stehen, einfach aufgrund seines Charismas mitnehmen, damit die Fahrt nicht so langweilig wird.

Für Langeweile sorgt die Dystopie dankenswerterweise nicht. Denn David Rosenthal, dessen 2019 gedrehtes Remake von Adrian Lynes Jacob‘s Ladder sang und klanglos in der Versenkung verschwand, lässt die Karotte für den hinterherhoppelnden Hasen – in diesem Fall wir Zuseher – lange genug vom Heck seines staubaufwirbelnden Fahrzeuges baumeln. Diese Karotte: sie ist der wahre Grund für das Desaster. Und Rosenthal, er schweigt. Lässt Rauchsäulen in den Himmel steigen, lässt gar nicht mal wissen, ob sich das ganze nur als nationale oder gar globale Tragödie ausgestaltet. Lässt Straßen sperren und vertröstende Worte von einem selbst recht ratlosen Militär spenden und manch vertrauten Bekannten aufgrund der Extremsituation zu einem psychisch labilen Verbrecher mutieren. Das wiederum scheint wenig glaubhaft, gönnt uns am Ende aber endlich den Thriller, den How it Ends die ganze Zeit auf der Straße vor sich hertrieb, während hinten eben das Gemüse lockt. Was zu spät kommt, bezahlt man im Film mit Kreativität. Leider auch in diesem Fall, denn die Fahrt von Schwiegervater und -sohn hätte auch ein ganz normales, aber gelungenes Generationendrama sein können.

How It Ends