Julie – eine Frau gibt nicht auf (2021)

DIE GEHETZTE VON PARIS

6,5/10


julie© 2021 Novoprod Fugu Films


ORIGINALTITEL: À PLEIN TEMPS

LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

REGIE / DREHBUCH: ERIC GRAVEL

CAST: LAURE CALAMY, ANNE SUAREZ, GENEVIÉVE MNICH, NOLAN ARIZMENDI, CYRIL GUEÏ, LUCIE GALLO, SASHA LEMAÎTRE CREMASCHI, AGATHE DRONNE U. A.

LÄNGE: 1 STD 25 MIN


An jedem Tag muss die Schlacht des Alltags geschlagen werden. Jeden Tag, ist es nicht das ewig herbeigesehnte Wochenende, reißen uns in aller Herrgotts Früh technische Gerätschaften wie auch immer aus dem Schlaf. Jeden Tag müssen wir gefallen, funktionieren, das Beste geben. Wo ist die Work-Life-Balance denn eigentlich hin? Sie wird zur netten Theorie, die man anstreben, aber nie umsetzen kann. Denn das Beste ist oft nicht gut genug. Und will man mal das Beste auch energisch durchsetzen, sind die, von denen man schließlich abhängig sein muss, am Besten nicht interessiert. Denn Julie, zweifache Mutter und geschieden, muss tagtäglich aus einem Vorort vor Paris in die Stadt pendeln, um ihrer Arbeit als Reinigungskraft in einem Nobelhotel nachgehen.

Blöd nur, dass die Gewerkschaften der Fahrbediensteten allesamt streiken und Julie ordentlich hudeln muss, um zeitgerecht ihre Arbeit zu beginnen. Wie immer im Leben kommt alles zusammen, was man gut und gerne übers Jahr verteilen könnte. Erschwerend zu diesem logistischen Engpass kommt die Chance auf einen Jobwechsel inklusive Bewerbungsgespräche, die kaum während der regulären Arbeitszeit unterzubringen sind. Als ob das nicht reichen würde, quält die Bank mit der Aufforderung, endlich die Raten fürs Haus zu bezahlen. Und überhaupt sieht sich die betagte Nachbarin nicht mehr imstande, die beiden Kinder zu betreuen. Eine andere oder ein anderer hätte angesichts dieser übermannenden Schwierigkeiten entweder längst resigniert oder wäre Amok gelaufen wie Michel Douglas in Falling Down. Julie, überzeugend dargeboten von Laure Calamy, mit all den Nuancen zwischen Ehrgeiz, Überlebenswillen und Erschöpfung, lässt diese schwierige Zeit aber nicht zu ihrem eigenen Waterloo werden. Sie geht Risiken ein, um all das gleichzeitig zu stemmen. Der sozialpolitische Hintergrund mit den urbanen Streiks und den bürgerkriegsähnlichen Unruhen in den Banlieues lässt Eric Gravels Film erscheinen wie ein semidokumentarisches Drama der Gebrüder Dardenne (Zwei Tage, eine Nacht mit Marion Cotillard), allerdings nur gelegentlich, denn so ausgesprochen kontrastreich und nüchtern wie deren Werke ist Julie – eine Frau gibt nicht auf (im Original schlicht und einfach A Plein temps – Vollzeit) nicht geworden. Hinter Calamys überaus charmanter und reizender Art, die Dinge zu meistern, scheint man fast eine französische Komödie zu vermuten, und die Tonalität ist weicher, geschmeidiger und auf weniger Reibung aus. Die Reibung entsteht aus den schwierigen Umständen, die sich immer höher auftürmen, bis gar nichts mehr geht. Ist Julie die Chronologie eines Burnouts? Wohl eher die rastlose, umtriebige und durchgetaktete Beobachtung des Alltags einer Durchschnittsbürgerin, die Hürden überwinden muss, welche tausendfach anderswo genauso existieren. Der Fokus aufs Individuum aber lässt dieses Bravourstück eines Spagats zwischen Ausbeutung, sozialer Ignoranz und doch auch aufkeimender Solidarität zwischen den Leidtragenden zu einem abenteuerlichen Thriller werden, der in einer Filmrealität spielt, die der Protagonistin nicht so kaltschnäuzig gegenübersteht wie in den Filmen der Dardennes. Das Schicksal fordert Julie zwar heraus, behält sie aber in seiner Gunst.

Dass Calamys Figur die Dinge wohl letztlich nicht doch hinbiegen wird, steht niemals wirklich zur Debatte. Und dennoch hetzt und hechelt man mit, wenn die Getriebene von Paris alles gleichzeitig und am besten gestern meistern muss. Dass manche Faktoren wohl im Vorfeld besser durchdacht hätten werden können, will man Julie am liebsten gar nicht nachsehen – doch selbst hätte man wohl auch das eine oder andere nicht beachtet und es sich schwieriger gestaltet als nötig.

Julie – eine Frau gibt nicht auf (2021)

The Power (2021)

STROMSPAREN FÜR ANGSTHASEN

5/10


thepower© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2021

REGIE / DREHBUCH: CORINNA FAITH

CAST: ROSE WILLIAMS, MARLEY CHESHAM, NUALA MCGOWAN, ANJELICA SERRA, SARAH HOARE, EMMA RIGBY, THEO BARKLEM-BIGGS, CHARLIE CARRICK U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Orte, an denen es spukt, sind meist jene, an denen jede Menge Leute zu Tode gekommen sind. Was kommt da sofort in den Sinn? Natürlich Krankenhäuser. Lars von Trier hat aus dieser einleuchtenden Prämisse eine ganze Serie kreiert, sie nennt sich The Kingdom – Hospital der Geister – dänisch, düster und grotesk. Als britische Antwort auf das Paranormale an einem Ort des Leidens und leider nicht Genesens könnte The Power herhalten, eine Independentproduktion und ein Film von Corinna Faith, die dieses Szenario auch selbst ersonnen hat. Kinoauswertung fand der Streifen keine, stattdessen durfte der Streamingdienst Shudder sein Portfolio durch einen Grusel aufpolieren, der mit Isolation, Traumata und der Angst vor dem Dunkel spielt, in welcher die eigene Fantasie gerne Streiche spielt und das seit Kindertagen vorhandene und nur leidlich unterdrückbare magische Denken fördert. In so einem Setting findet sich die Pflegeaspirantin Val (Rose Williams) wieder – reichlich ungelegen zu einer Zeit, als das Royal Imfirmary Hospital die meisten seiner Patienten längst woanders hin, in andere Stadtteile Londons, ausgelagert hat, da es hier, im Osten der Metropole, aufgrund von Arbeiterstreiks und Kosteneinsparungen der Regierung immer wieder zu systematischen Stromabschaltungen kommt. Der politische Hintergrund des Films ist keine Fiktion, sondern verifizierte Geschichte – diese rigorosen Einsparungsmaßnahmen gab es in den Siebzigerjahren tatsächlich. Während eines Energie-Lockdowns wie diesen muss dennoch manche Ordnung gewährleistet werden, so auch in besagter Klinik, die immerhin noch Langzeitpatienten zu betreuen hat, die nicht unbedingt an elektronischen Geräten hängen.

Val wird bereits zu Beginn ins kalte Wasser geworfen. Dunkelschichten werden ihr aufgebrummt, und nur mit einer Petroleumlampe ausgestattet, als befänden wir uns im vorigen Jahrhundert, muss sie durch finstere Gänge hindurch ihre Runden ziehen und nach dem Rechten sehen. Es wäre kein Horrorfilm, gäbe es in diesem Gemäuer nicht eine obskure Präsenz, die titelgebende Power – eine unheimliche Macht, die sich Val bemächtigen will.

Warum sie das will, das muss die angstgepeinigte junge Frau erst herausfinden, um vielleicht diesen Spuk loszuwerden, der ihr im Genick sitzt wie ein Nachtmahr. Und es ist ja nicht nur das Unerklärliche hier in diesem Krankenhaus – es sind auch die werten Kolleginnen und Kollegen, die denken, in der Anarchie der Dunkelheit und des Blackouts gäbe es keine sonst wie gearteten moralischen Regeln. Alles zusammengenommen ergibt The Power also einen altmodischen Grusel in blassen Bildern und mit vielen Schatten. Corinna Faith versucht mit allerlei Versatzstücken des Genres eine unmittelbare Stimmung zu erzeugen, die ihr Wirkung aus der Unberechenbarkeit des Mysteriösen bezieht – wenn sie das denn wäre. Doch The Power strengt sich in jeder Hinsicht an, ihren Schrecken in allen nur erdenklichen Aspekten zu begründen. Dieses Überkonstrukt an Deshalbs und Darums, diese eigene Furcht davor, Begebenheiten unerklärt zu lassen, denn es könnte ja ein Defizit im Storytelling sein, bremst The Power allzu oft aus.

The Power (2021)

Verlorene Illusionen (2021)

DIE INFLUENCER VON DAMALS

7/10


verloreneillusionen© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

REGIE: XAVIER GIANNOLI

DREHBUCH: XAVIER GIANNOLI & JACQUES FIESCHI, NACH DEM ROMAN VON HONORÉ DE BALZAC

CAST: BENJAMIN VOISIN, CÉCILE DE FRANCE, VINCENT LACOSTE, XAVIER DOLAN, SALOMÉ DEWAELS, JEANNE BALIBAR, GÉRARD DEPARDIEU, ANDRÉ MARCON U. A.

LÄNGE: 2 STD 24 MIN


Honoré de Balzac hat es schon immer gewusst. Und wir – wir wissen das auch nicht erst seit Inseratenaffären, Chat-Nachrichten und sympathisierenden oder antipathierenden Zeitungsartikeln, die die einen pushen und die anderen fallen lassen. Wer Geld hat, schafft an. Und hat das, soweit man zurückblickt, so schon immer praktiziert. In der Verfilmung des Romans Verlorene Illusionen aus dem neunzehnten Jahrhundert und geschrieben von niemand geringerem als Honoré de Balzac, gibt es keine Untersuchungsausschüsse oder Gerichtsverhandlungen wegen falscher Aussagen. Es gibt keine Prozesse wegen Rufschädigung oder übler Nachrede. In diesem Sündenpfuhl namens Paris ist niemandem, der Einfluss hat, auch nur irgendetwas heilig. Wer den Schaden hat, hat den Spott, wer die richtigen Beziehungen, der kann sich so lange hofieren lassen, bis andere mehr bieten, bessere Beziehungen haben oder einfach die schiere spitzbübische Freude daran finden, ohne Rücksicht auf Verluste die Gesellschaft nach Gutdünken zu manipulieren, bis nicht mehr erkennbar scheint, was eigentlich dessen Meinung war.

In dieses freie Spiel der Kräfte, in diesen Ring, in dem jeder gegen jeden kämpft, Bündnisse schließt, um sie wieder zu brechen – in diese Urgewalten aus Einfluss und Redefluss wirft sich der junge, noch nicht sehr wohlhabende Dichter und Schreiberling Lucien (Benjamin Voisin) dank der gönnerhaften Verliebtheit seiner Mäzenin Louise de Bargeton (Cécile de France), die, und das darf keiner wissen, mit dem knackigen Feschak längst eine Liaison hat. Im frühen 19. Jahrhundert können amouröse Verbindungen zwischen unterschiedlichen Klassen das Gefälle im Ansehen nicht überwinden, und da Louise de Bargeton keine Lust auf jedwede Ächtung hat, bleibt das Gspusi geheim. Wie Felix Krull, der vorgab, etwas zu sein, was er nicht hat, stehen Lucien dank seiner Mäzenin manche Türen offen, um in der Haute Volée mitzumischen. Bald wird bekannt, dass der Möchtegern-Literat weniger mit seinen sperrigen Gedichten auf sich aufmerksam macht, als vielmehr mit seiner spitzen Feder, die tief in die süffisante Polemik taucht, um Snobs und VIPs zu diskreditieren. Die Zeitungen sehen sowas gerne, die Leserschaft zerreißt sich die Mäuler, der Content wird zum Gesprächsstoff – und Lucien wird bald ganz oben angekommen sein. Was einen dort oben erwartet, ist erstens von kurzer Dauer und zweitens aus fast jeder moralischen Erzählung wie das Amen im Gebet: Wer hoch steigt, wird tief fallen. Und bald nutzen ihm all seine Beziehungen nichts mehr, nicht mal die mit dem resoluten Verleger Dauriat, dem Gerard Depardieu im wahrsten Sinne des Wortes Gewicht verleiht.

Eine gewisse opulente Schwere kann man Xavier Giannolis Schicksalsschwarte von einem Film auch nicht wirklich absprechen. Statt gekleckert wird geklotzt, es biegen sich die gebohnerten Parkettböden in schmucken Hallen unter der Last des fein rausgeputzten Wer-bin-ich-wer-war-ich-Establishments, es trägt Benjamin Voisin als Lucien sein für die Öffentlichkeit erdachtes Ich zur Schau, als gäbe es kein Morgen mehr. Jenseits dieser Herrenhäuser und Prunkräume wird die Hauptstadt Frankreichs zu einem alle Werte über Bord werfenden Sodom und Gomorrha der Influencer und Follower von anno dazumal, zu einer geschichtlichen Anti-Nostalgie in üppigen Bildern, bei der man mit Erschrecken – obwohl man es längst gewusst hat – feststellt, dass die Welt niemals anders war. Dass seit jeher Meinungen gemacht wurden, Fake News verbreitet und Verlierer, die aus irgendwelchen Gründen auch immer plötzlich büßen müssen, durch den Dreck gezogen werden. Einen fast schon investigativen Gesellschaftsroman hat Balzac da geschrieben, Giannoli tischt uns die entsprechenden Bilder dazu auf, zusammengepresst auf ohnehin noch zweieinhalb Stunden, und dennoch zum Bersten voll mit Intrigen, Begehrlichkeiten und gnadenlosem Anarcho-Kapitalismus, der das ganze Räderwerk erst zum Laufen bringt. Es läuft bis heute.

Verlorene Illusionen (2021)

Plan A – Was würdest du tun? (2021)

RACHE, NICHT GERECHTIGKEIT

5/10


PlanA© 2021 Camino Filmverleih


LAND / JAHR: ISRAEL, DEUTSCHLAND 2021

REGIE / DREHBUCH: DORON & YOAV PAZ

CAST: AUGUST DIEHL, SYLVIA HOEKS, MICHAEL ALONI, NIKOLAI KINSKI, MILTON WELSH, OZ ZEHAVI, ECKHARD PREUSS, BARBARA BAUER, ISHAI GOLAN, KAI IVO BAULITZ, AENNE SCHWARZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Verkehrte Welt? Israel mache sich derzeit, so sagen einige, im Konflikt mit der Terrororganisation Hamas des Völkermordes schuldig. Gerade Israel, jener nach dem zweiten Weltkrieg gegründete Staat, der mithilfe der in Europa verfolgten Juden errichtet wurde – sehr zum Missfallen eines anderen Staates, der zur gleichen Zeit am gleichen Ort seine Heimat hat: Palästina. Da haben wohl jene Herrschaften, die damals die Grenzen zogen, nicht genau hingesehen. Jetzt haben die einen keine Heimat mehr, während die anderen ihre neue Heimat um jeden Quadratmeter verteidigen. Das schürt Frust, das schürt Hass, das schürt Ressentiments auf beiden Seiten. Klar, dass es dort irgendwann so sehr eskaliert, dass es das Zeug dazu hätte, einen dritten Weltkrieg zu entfachen. Dass die Israelis sich dort nicht mehr vertreiben lassen wollen, nachdem sie aus ganz Europa vertrieben wurden, kann man ihnen nicht verdenken. Das erlittene Leid ist nicht wiedergutzumachen, der Holocaust ist für immer ein Teil des ethnischen wie religiösen Bewusstseins – auf dass nie wieder etwas Ähnliches geschähe. Nur leider ist das passiert: Der systematische Angriff der Hamas im Oktober letzten Jahres.

Doch wie war das damals, nach dem letzten Weltkrieg? Hat sich da das jüdische Volk zur Selbstheilung in den Nahen Osten zurückgezogen, ohne Durst nach Rache? Simon Wiesenthal zum Beispiel wollte sich schließlich nicht zu einer emotional motivierten Genugtuung hinreissen lassen, sein Credo lautete stets: Gerechtigkeit, nicht Rache. Wie klug und letztlich effektiv: sämtliche Schergen des Nazi-Regimes erhielten, nachdem sie aufgespürt wurden, ihren Prozess. Doch nicht alle tickten so. Die Nakam zum Beispiel, eine jüdische Organisation, die sich zum Ziel setzte, Millionen Deutsche nach dem Auge-um-Auge-Prinzip zu ermorden. Für diesen Racheakt hätten sie das Trinkwasser großer deutscher Städte vergiftet, der Plan scheiterte aber bereits im Vorfeld. Auf Basis dieser Fakten erzählen die israelischen Filmemacher Doron und Yoav Paz in ihrem Geschichtsdrama Plan A – Was würdest du tun? eine womöglich etwas frei formulierte Nachstellung eines fast vergessenen Kapitels der Nachkriegszeit mit dem Zuviel an weichgezeichnetem Melodrama und in einer wenig speziellen, weil leidenschaftslosen Inszenierung.

August Diehl, der bereits international bekannte und heimische Produktionen stets veredelnde Charaktermime, gibt die fiktive Identifikationsfigur des Juden Max, der nach dem Ende des Krieges sein altes Zuhause von arischen Deutschen besetzt sieht und folglich nicht mehr weiß, wohin mit seiner Existenz. Empfohlen wird ihm, wie so vielen seiner Leidensgenossen, nach Israel auszuwandern. Bevor Max aber diese Option reifen lassen kann, macht er Bekanntschaft mit den bereits erwähnten Rächern, die sich als eine Art Inglourious Basterds das Recht herausnehmen, Handlanger des alten Systems aufzuspüren und hinzurichten. Irgendwie scheint Max das Vorhaben suspekt und arbeitet fortan für die britische Armee, um herauszufinden, was die Nakam im Schilde führen. Dabei fällt ihm schwer, das eigene Verlangen nach Rache zu unterdrücken, um nicht die Gründung des Staates Israel zu gefährden.

Plan A – Was würdest du tun? widmet sich dank erzählerischer Freiheit nicht nur den Umständen, die zu dieser Fast-Umsetzung eines verheerenden Racheakts geführt hätten, sondern lässt auch die alternative Realität in der Vorstellung von August Diehls Figur Wirklichkeit werden. Aufschlussreich ist das Drama der Gebrüder Paz auf jeden Fall – die Umsetzung setzt jedoch auf Schablonen. Sowohl die fiktive zentrale Figur des Max noch das ihn umgebende, ebenfalls – so vermute ich – fiktive Ensemble bleiben flach. Die Eigenständigkeit der Charaktere fehlt; diese scheinen aus mehreren, ähnlich gelagerten Rollen aus ähnlichen, aber anderen Filmen zusammengesetzt zu sein. Die prinzipiell spannende Geschichte um Moral, Vergebung und natürlich Vergeltung entwickelt selten einen entsprechenden Sog und erstaunt eigentlich nur aufgrund seines im Hintergrund errichteten, historischen Kontextes.

Plan A – Was würdest du tun? (2021)

Trolljäger: Das Erwachen der Titanen (2021)

KEIN MITTEL GEGEN TROLLWUT

6/10


Trollhunters: Rise Of The Titans© 2021 Netflix Inc.


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: ANDREW L. SCHMIDT, JOHANE MATTE & FRANCISCO RUIZ VELASCO

DREHBUCH: MARC GUGGENHEIM, KEVIN HAGEMAN

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): EMILE HIRSCH, LEXI MEDRANO, KELSEY GRAMMER, CHARLIE SAXTON, TATIANA MASLANY, DIEGO LUNA, NICK FROST, ALFRED MOLINA, STEVEN YEUN U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Ich behaupte jetzt einfach: Zu den besten Animationsserien für die ganze Familie zählt Trolljäger, das über mehrere Staffeln immer weiter ausgebaute Abenteuer rund um das Städtchen Arcadia und allem, was darunter und darüber existiert. Ähnlich wie in Joss Whedons Sunnydale aus Buffy – The Vampire Slayer, unter welchem das Tor zur Hölle immer mal wieder aufgerissen wurde und alle möglichen Kreaturen, vor allem Vampire, fröhliche Urständ feierten, gibt’s unter dieser beschaulichen Kleinstadt hier das Reich der Trolle. Klingt vielversprechend – und ist es auch. Da gibt es die Guten und die Bösen, Möchtegern-Alleinherrscher und jene, die sich die uns bekannte Erde unter den Nagel reißen wollen. Um das zu vereiteln, dafür gibt’s den Auserwählten, eben wie bei Buffy. Diese(r) Auserwählte, er (oder sie) nennt sich Trolljäger. Und erfunden hat das Ganze niemand geringerer als Monster-Mastermind Guillermo del Toro, der sein detailreiches Universum bereits in Jugendbüchern erzählt und hier als Produzent seiner eigenen Adaption fungiert hat.

Dass der Mexikaner da mitmischt, das erkennt man alleine schon am Design der Kreaturen, die alle irgendwie an seine Gestalten aus Hellboy oder Pans Labyrinth erinnern, nur noch verspielter, experimentierfreudiger, natürlich auch dem deutlich jüngeren Publikum angepasst, welches da vor dem Homescreen nägelkauend so manch spannender, mitunter mit der Jugendfreigabe von 12 Jahren versehener Episode dem Schicksal des jungen Jim und seinen Freunden Claire, Toby und Blinky folgt und sich gar zum Binge-Watching hinreißen lässt, denn immer wieder gibt es Cliffhanger, die man einfach nicht so im Raum stehen lassen kann.

Ergänzt wurde die von Dreamworks kreierte Trolljäger-Serie durch Spin-Offs wie 3 von Oben oder Die Zauberer, doch spätestens da bin ich selbst schon ausgestiegen, war die ganze Story dann doch zu ausufernd und vielleicht auch zu zerfahren, mitunter sowieso noch viel turbulenter als die eigentliche, durchaus aber als meisterhaft zu bezeichnenden Serie, die ihren ganz eigenen Look gefunden hat und sowieso alles bietet, was Del Toro-Fans so lieben. Selbst Ron Perlman, der sowieso beste Hellboy ever, darf einen gehörnten Fiesling synchronisieren. Nach drei Staffeln und einem weitgehend offenen Ende war dann Schluss. Was drei Jahre nach Abschluss der primären Storyline dann folgte, war 2021 Trolljäger: Das Erwachen der Titanen.

Kennt man die Geschichten aus Arcadia, aber nicht die beiden Spin-Offs, ist das weiter kein Problem. Kennt man die Spin-Offs, aber die Kernstory nicht, kann das schon mal für Verwirrung sorgen. Kennt man nichts von alledem und hat’s nicht so mit Animationsserien, braucht man dieses Grande Finale gar nicht auf dem Schirm zu haben. Eine Grundkenntnis dieser Welt ist also Voraussetzung. Und hat man die, geht die Post ab. Mit wuchtigen Giganten, die wie in Del Toros Pacific Rim mit donnernden Schritten die Erdkruste dünner machen, sind Schauwerte, wie es sich für ein Finale gehört. Es kämpfen Ungeheuer und Menschen Seite an Seite gegen magische Antagonistinnen in Gestalt personifizierter natürlicher Elemente. In all den bereits gesichteten Episoden haben sie irgendwo ihren Ursprung. Bezwungen müssen sie werden, im Rahmen eines augenzwinkernden Trickfilmgewitters, in denen altbekannte Charaktere ihre Hämmer und Schwerter schwingen; alles in schmuckem Design und einem Farbspektrum Marke Regenbogen. Das kann auf die Dauer recht ermüdend werden, wenn in Stakkato eine Wendung die andere herumreißt. Gut ist es, wenn das ganze Projekt sein Ende findet, und tatsächlich ist das Ende vom Ende fast schon schwermütig – wenn da nicht diese pfiffige Wendung wäre, die diesem epischen Treiben noch eine gewisse Mindfuck-Note verleiht.

Trolljäger: Das Erwachen der Titanen (2021)

Hit the Road (2021)

EIN GRENZFALL FÜR DIE FAMILIE

7/10


hittheroad© 2023 Panda Lichtspiele


ORIGINAL: JADDEH KHAKI

LAND / JAHR: IRAN 2021

REGIE / DREHBUCH: PANAH PANAHI

CAST: HASSAN MADJOONI, PANTEA PANAHIHA, RAYAN SARLAK, AMIN SIMIAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Zwei Jahre hat es gebraucht, um diesen Film in die Kinos zu bringen. Vor rund zwei Jahren lief Hit the Road im Festivalprogramm der Viennale ’21 – was letztlich den Ausschlag gibt für eine derartige Verspätung, darüber kann man spekulieren. Gut ist, dass Panah Panahis Roadmovie es geschafft hat, ans Ziel zu kommen. Nämlich dorthin, wo er hingehört – auf die Leinwand. Für knappe 90 Minuten nimmt uns der Iraner mit auf eine höchstpersönliche Autofahrt quer durchs Land, vorbei an atemberaubenden Felsformationen, durch fruchtbares Land und über grüne Hügel. Es ist ein Weg des Abschieds, doch wer hier wen verlässt oder ob alle gehen, kristallisiert sich erst viel später heraus. Klar ist, dass Mutter, Vater und die beiden Söhne, zwischen denen ein enormer Altersunterschied liegt, nicht per Gaudi einen Ausflug unternehmen, obwohl man beim jüngsten Spross Rahma, der für sich allein die Party seines Lebens schmeißt und vor lauter Liebe zur Welt stets den Boden küsst, auf dem er wandelt, durchaus die Meinung vertreten kann, dass alles nur existiert, um Spaß zu haben und Scherze zu treiben. Rahma (eine Wucht: Rayan Sarlak) ist das quirlige Zentrum dieser kleinen Gemeinschaft, die ewige Sonne, um ihn herum schwerfällige und leichtere Trabanten. Papa trägt einen Gips, die Mutter weiß nie, ob sie lachen oder weinen soll, der ältere Sohn gibt sich wortkarg, denkt nach, ist so angespannt, als würde er in den Krieg ziehen oder verfolgt werden. Und der Hund? Der liegt im Sterben.

Verfolgt zu werden wäre in Anbetracht der Tatsache, dass alle fünf unterwegs sind zur türkischen Grenze, gar nicht mal so abwegig. Im Iran herrschen andere Regeln, was die Ausreise betrifft. Da muss man schon wissen wie, um ein besseres Leben anderswo zu ergattern. Alles scheint organisiert, unter Dach und Fach. Die Fahrt ist lang, zu erzählen gäbe es viel, doch kaum jemand findet den Zugang durch all den Smalltalk hindurch genau dorthin, wo Angst, Kummer und Vertrauen liegen. Immer wieder hält das Auto an, immer wieder finden sich Momente der Klarheit und der Mut, das unmittelbar Bevorstehende anzusprechen.

Für dieses waschechte Roadmovie, das durch den Nordwesten Irans führt, braucht es weder eine twistreiche Story noch einen komplexen Plot, sondern lediglich Raum und Zeit für Konfrontationen. Jafar Panahis (u. a. No Bears) Bruder Panah nutzt diese cineastische Mitfahrgelegenheit, um vor allem auch mit musikalischer Färbung die Emotionen hin und herfluten zu lassen, wie schwappendes Wasser in einer Wanne. Oft blickt der Vater gedankenverloren und verbittert ins Narrenkästchen, nachdem er für Rahma den kauzigen Brummbären gegeben hat. Dann setzt die Klassik ein, Tastenmusik in Moll. Für die Mutter gibt’s persische Schlager mit schmachtend- kitschigen Texten, zu denen sie gar mitsingt. Worte, die etwas bedeuten, sind ein schwer zu ergatterndes Gut – ist der Moment gerade günstig, lässt Parhani das Gespräch laufen, minutenlang, ohne Druck, ganz entspannt, irgendwo am Fluss, während dahinter das Wasser rauscht. Parhani spielt auch mit erzählerischen Ebenen, lässt essenzielles im Hintergrund und anderes, wichtigeres, nach vorne treten, obwohl dieses Wichtige nicht mehr preisgibt als den Blick. Der Moment der Wahrheit bleibt auf Distanz, ganz weit weg stehen wir und beobachten das Drama eines Neuanfangs. Über allem das quirlige Gekreische Rahmas.

Persisches Kino ist seit jeher bereichernd – und auch Hit the Road bringt einiges an neuen Sichtweisen und veränderten Prioritäten mit. Die Art, wie Parhani den Alltag des Reisens einfängt und klarstellt, dass niemand jemals auf einen Abschied wie diesen vorbereitet sein kann, trägt eine gewisse Bescheidenheit in sich und eine Akzeptanz den Dingen gegenüber, die zu tun sind. Der kleine, hyperaktive Rahma aber wird, obwohl er nichts aktiv dazu beiträgt, die Inkarnation einer hoffnungsvollen Zukunft. Er ist die Stütze, die die Familie nicht zerbrechen lässt.

Hit the Road (2021)

Raging Fire (2021)

COPS IM WECHSELSTROM

5,5/10


ragingfire© 2022 Plaion Pictures


LAND / JAHR: CHINA 2021

REGIE: BENNY CHAN

DREHBUCH: BENNY CHAN, RYAN LING, TIM TONG

CAST: DONNIE YEN, NICHOLAS TSE, QIN LAN, PATRICK TAM, BEN LAM, DEEP NG, YU KANG, HENRY PRINCE MAK U. A.

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Die Macht ist mit mir und ich bin mit der Macht. Bei dieser Phrase bekommen Star Wars-Fans feuchte Augen, und obendrein verbinden sie diese noch mit Donnie Yens prägender Performance als blinder Wächter der Whills in Rogue One – A Star Wars Story. Der Martial Arts-Star hat sich damit für immer seinen Platz im Kanon des Franchise gesichert. Charisma hat er schließlich, und dieses stellte er im letzten John Wick-Kapitel ebenfalls zur Schau. Als längst müde gewordener Profikiller, der sich eigentlich nur gemeinsam mit seiner Tochter für seinen Lebensabend zurückziehen und dann doch noch gegen den strähnigen Keanu Reeves antreten muss, gibt er einen Konterpart mit Understatement. Und wenn eine Rolle wie diese schon so angegossen sitzt, ist die Mission eines Polizisten, der sich mit seinen eigenen Fehlern von damals auseinandersetzen muss, natürlich nicht fern.

Als selbstredend hartgesottener, aber moralisch höchst integrer Cop Cheung Sung-bong muss sich Donnie Yen vor seiner eigenen Moral verantworten. Eine spannende Idee, da der Protagonist dieses explosiven Katz und Maus-Spiels tatsächlich zwischen zwei Mühlsteine gerät, die beide jeweils ihre Berechtigung haben, sich zu drehen. In einem Rechtssystem allerdings und als Vertreter des Gesetzes ist die Einhaltung dieser wohl oberste Priorität, die über allem stehen soll. Wirklich über allem? Sogar über Freundschaft, Teamgeist und Loyalität? Über Vertrauen, Solidarität und andere ähnliche zwischenmenschliche Wertigkeiten? Cheung muss seine Prioritäten neu sortieren. Sein Schützling Yai Kong-ngo nämlich hat bei einem Einsatz vor langer Zeit Recht mit Rache und Wut verwechselt und so den potenziellen Zeugen eines Verbrechens um die Ecke gebracht. Hätte nicht sein müssen – darf auch nicht sein. Solche Internal Affairs müssen aufgeklärt und Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen werden. Kong-ngo landet im Gefängnis – viele Jahre später, nach dessen Freilassung, hat dieser nun, längst kein Polizist mehr, sondern schwerer Krimineller, die Gelegenheit, die mit falschen Moralvorstellungen durchdrungenen Exekutive ihrem einzigen Richter zuzuführen – den der Vergeltung.

Und dieses Gefühl der Rache, der Genugtuung, am besten von langer Hand geplant, zieht sich durch das südostasiatische Actionkino wie keine andere Grundemotion davor oder danach. Rache dominiert unter anderem die Kult-Trilogie von Pak Chan-wook, während der Westen meist geräderte und trauernde Familienmütter und -väter in salonfähigen Psychosen auf den martialischen Feldzug schickt. In Benny Chans Hongkong-Action gerät das Motiv der Rache in den Sog fieser Copstories, die meist im internen Korruptions- und Verbrechenssumpf wühlen. Raging Fire stülpt aber den faulen Polizeistaat nach außen und lässt den Antagonisten bereits als gefallenen Engel aus der für alle klar ersichtlichen Verbrecherposition agieren. Beantwortet diese Konstellation dem Actioner seine moralischen Fragen?

Das Dilemma, mit welchem Donnie Yen jonglieren muss, bleibt aufrecht. Verrat, Gerechtigkeit und Gehorsam finden sich immer noch auf der psychosozialen Metaebene des Films, die aber, je mehr der Konflikt zwischen den Parteien eskaliert, seine Bedeutung verliert. Schnell wird klar, dass die anfangs ambivalente Figur des Hardboiled-Detective nur richtig gehandelt haben kann, denn der Finsterling verkommt zur unberechenbaren Mördergestalt, die selbst die eigene Crew drangsaliert. Vom Hinterfragen der Moral bleibt nichts mehr und scheint im Nachhinein doch nur als Behauptung auf.

Welchen Dingen Benny Chan aber, der kurz nach Fertigstellung seines Films an einer Krebserkrankung verstarb, dennoch sein ganzes Herzblut geschenkt hat, sind die im Hong Kong-Actionfilm obligaten Shootouts, in denen die Kontrahenten ordentlich zur Sache gehen. Das ist perfekt inszeniert und State of the Art – letzten Endes aber mit anderen Genrefilmen austauschbar. Wäre das menschliche Drama mehr im Fokus gewesen; wären die Biografien von Gut und Böse nicht nur mit dem Kompromiss zufrieden gewesen, in ihrer Rahmenhandlung und nicht darüber hinaus zu existieren, hätte Raging Fire das Zeug zu einem rabiaten Klassiker gehabt. So aber verschwindet das Gesehene recht rasch im vollgestellten Fundus ähnlich gelagerter Reißer.

Raging Fire (2021)

Willy’s Wonderland (2021)

AUFWISCHEN UND AUFMISCHEN

5,5/10


willys-wonderland© 2021 Splendid Film


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: KEVIN LEWIS

BUCH: G. O. PARSONS

CAST: NICOLAS CAGE, EMILY TOSTA, BETH GRANT, RIC REITZ, CHRIS WARNER U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Wer ist wohl die coolste Socke auf Gottes Erde? Na, wer? Natürlich Nicolas „Nic“ Cage, der sich gar nicht mal bemüßigt fühlen muss, irgendetwas von dem, was er tut, argumentativ zu untermauern. Cage muss gar nichts sagen. Es versteht ihn auch so ein jeder. Und wer nicht hinhören will, muss eben fühlen. Erst seit Kurzem overactet der Neffe Francis Ford Coppolas als die Ikone des Phantastischen schlechthin über die Leinwand – als Graf Dracula in Renfield, mit spitzen Zähnen und einer Blutgier, die ihresgleichen sucht. Eine Zeit lang war der Mann verliebt in Dutzendware, deren Produzenten ihn als Aushängeschild geliehen hatten. Macht nichts, gutes Geld war das allemal. Und dann gab’s so einiges an der künstlerischen Independent-Front, was ihm dazu verhalf, wieder ganz oben mitzumischen. Wobei: Weg war er nie. Und gottergebener Trashfilm-Veredler, der sich dem Schicksal eines ausrangierten Schauspielers hingeben muss, auch nicht. Weil es vielleicht nur ihn geben kann, um Filme wie Willy’s Wonderland herauszubringen.

Ganz ehrlich: Wer hätte diesen Mann ohne Worte, der sich nicht zu gut dafür ist, die Hände schmutzig zu machen, sonst noch spielen können? Frank Grillo? Dolph Lundgren? Vielleicht „Sisu“ Jorma Tommila, der in seinem Nazi-Actioner auch keine großen Reden schwang. Aber Cage, der ist exaltiert und verrückt genug, um sich auch nicht zu gut dafür zu sein, mit den Puppen zu tanzen, die als mechatronisches Aushängeschild und reif für den Requisiten-Flohmarkt im längst geschlossenen Vergnügungspark namens Willy’s Wonderland vor sich hindämmern. Wer noch keine fünf Nächte bei Freddy’s war, kann für einmal Overnight zumindest hier vorbeischauen – und Cage beim Aufräumen zusehen. Mit welcher ehrgeizigen Konsequenz er das durchzieht, ist beeindruckend. Und die ganze, knapp 90minütige Fieberträumerei wäre eine Ode an den Putzmann geworden, gäbe es da eben nicht diese mordlüsternen, menschengroßen Fabelwesen, die dem wortlosen Mr. Saubermann ans Leder wollen. Der muss nämlich die Nacht hier verbringen, um die Reparatur seines Wagens zu finanzieren. Was er nicht weiß: Niemand rechnet damit, dass Cage hier noch lebend rauskommt. Und als dann noch eine Gruppe Jugendlicher die Bude abfackeln will, weil sie weiß, was da abgeht, wird’s so richtig haarig. Und man wundert sich, wie unfähig sich Young Adults anstellen können, wenn sie in einem Horrorfilm mitspielen, der nur dazu geeignet ist, einen Schlachtplatten-Countdown einzuläuten, bei dem weniger das Blut, sondern viel mehr das streng riechende Maschinenöl spritzt.

Warum Nicolas Cage immer zu einer gewissen Zeit seinen Energydrink hinunterkippen muss und ganz versessen darauf ist, den von ihm blankpolierten Flipper-Automaten zu besiegen, während ringsherum schreiend die Next Generation zu Boden geht, wissen wir nicht. Umso kurioser mutet das ganze Szenario an, welches aber, so sehr es auch zu seiner Mission steht, sinnbefreites Grunge-Entertainment zu sein, mit seiner beizeiten vorgetragenen Background-Story für Verwunderung sorgt. Im Laufe des Films „entpuppen“ sich die acht Roboter nämlich als gar nicht mal so widerstandsfähig. In Anbetracht dieser Tatsache erscheint die Prämisse des Plots nicht mal, wenn man beide Augen zudrückt, als haltbar. Kippt diese weg, gemeinsam mit der konstruierten Unterlegenheit der Opfer, bleibt nur ein sich selbst parodierender Nicolas Cage mit Understatement, der all dieses Drumherum gar nicht gebraucht hätte. Ob er schon mal überlegt hat, in einer Reality-Soap mitzuwirken, in welcher er einfach nur anderen hinterherräumt? Könnte was werden.

Willy’s Wonderland (2021)

The Forgiven (2021)

IN DIE WÜSTE GESCHICKT

7/10


the-forgiven© 2022 Roadside Attractions / Vertical Entertainment


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, USA 2021

REGIE: JOHN MICHAEL MCDONAGH

BUCH: JOHN MICHAEL MCDONAGH, NACH DEM ROMAN VON LAWRENCE OSBORNE

CAST: RALPH FIENNES, JESSICA CHASTAIN, MATT SMITH, CALEB LANDRY JONES, SAÏD TAGHMOUI, CHRISTOPHER ABBOTT, ISMAEL KANATER, MOURAD ZAOUI, ABBEY LEE, ALEX JENNINGS U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Wenn die Reichen in der Sonne des Wohlstands braten, dann ist das meistens dort, wo das um jeden Cent ringende Fußvolk zwecks wohliger Klimatisierung der Elite den Palmwedel schwingt. Lange kann das nicht gutgehen. Passiert ein Unglück, verlagern sich die Fronten. So gesehen im letztjährigen Cannes-Gewinner Triangle of Sadness von Ruben Östlund. Doch während dieser nicht so viel fressen kann wie er kotzen möchte angesichts der Weltfremdheit so mancher wohlbetuchter Weltbürger, will John Michael McDonough, der Bruder des Three Billboards-Regisseurs Martin, seine überheblichen Herrenmenschen einfach in die Wüste schicken. Von diesen Leuten, die sich da im schlossähnlichen Anwesen eines steinreichen schwulen Pärchens inmitten der marokkanischen Tausendundeiner-Nacht-Ödnis wiederfinden, wird einer ganz bewusst als Opferlamm zur Schlachtbank geführt. Auf diesem Gebiet des Büßens, stellvertretend für eine ganze Gesellschaft, kennt sich McDonagh mittlerweile aus. 2014 ließ er Brendan Gleeson in Calvary – Am Sonntag bist du tot für die Sünden aller anderen über die Klinge springen. Sich selbst auszuliefern wie seinerzeit Jesus von Nazareth funktioniert als messianischer Gedanke, den Christen in aller Welt wohl nützlich genug finden würden. Zuletzt hatte M. Night Shyamalan in Knock at the Cabin das Prinzip der Aufopferung anhand eines Home Invasion-Diskurses so ziemlich auf den Punkt gebracht, war er doch letzten Endes selbst davon überzeugt, dass sowas funktionieren muss.

In The Forgiven, der Verfilmung des Romans Denen man vergibt von Lawrence Osborne, geht es vorrangig mal darum, wer für eine aus dem heiteren Himmel hereingebrochene Tragödie letztlich die Verantwortung trägt. Jessica Chastain und Ralph Fiennes geben das neureiche und affektierte Ehepaar Henninger, welches an den Landsitz des ebenfalls neureichen, exzentrischen Matt Smith geladen wird – für eine Party in der Wüste, üppig, bunt und dekadent. Dort wird getrunken, gegessen, gebadet. Die Henningers verspäten sich aufgrund eines Unfalls im Dunkeln mitten auf der Landstraße im Nirgendwo. Das Opfer: Ein marokkanischer Junge, der Fossilien verkaufen wollte. Entsetzt über dieses Ereignis, laden sie den toten Jungen ins Auto und bitten den Gastgeber, die Sache zu klären oder bestenfalls in Wohlgefallen für alle aufzulösen, hat dieser doch gute Kontakte zur lokalen Polizei. Doch so einfach, wie Mr. Henninger glaubt, dass die Sache vom Tisch gewischt wird, ist es nicht. Der Vater des Kindes taucht auf und ersucht den arroganten Zyniker, mit ihm zurückzufahren in sein Dorf, um Wiedergutmachung zu leisten.

Chastain und Fiennes sind beides großartige Schauspieler, Fiennes ist seit Schindler Liste sowieso einer meiner Favoriten. Und da er mit einer Rolle berühmt wurde, die wirklich alles verkörpert, was man bei einem Menschen nur ablehnen kann, so ist klar, dass die Auswahl seiner Figuren nicht immer nach den Parametern der Sympathie getroffen werden. Dasselbe gilt für Chastain. Ihre Figuren sind meist kühl, unnahbar und distanziert. In McDonaghs Film können beide wieder das tun, was sie so gut können: Personen spielen, denen man eigentlich nicht zu sagen hätte – oder ihnen fluchend ihr empathisches Defizit vor den Latz knallen würde. Dazwischen gäbe es nichts. Somit eignet sich Fiennes perfekt dafür, völlig losgelöst von den Annehmlichkeiten, die ihn zu dem gemacht haben, der er ist, einer aristotelischen Kartharsis zu folgen – und über das Unglück nachzudenken, dass er verursacht hat. In diesem fremden Niemandsland, in der Fiennes auf die Gnade der Einheimischen angewiesen ist, bröckelt so manche Fassade. Der Fokus des Films liegt auf der Figur des Henninger, der mit so wuchtigen Begriffen wie Schuld und Buße ringen muss. Die Furcht vor den unbekannten Riten, die hier draußen herrschen, ist steter Begleiter.

The Forgiven ist einerseits Culture Clash-Drama und andererseits eine Art ergänzendes Nachwort zum noch viel intensiverem Calvary – Am Sonntag bist du tot. Die Begrifflichkeit der Sühne treibt McDonagh anders als Östlund nicht ins Genre der Satire, sondern lässt die Betroffenen die spröde Ernsthaftigkeit einer verzwickten Lage spüren. Sein Film bleibt unaufgeregt und voller Einkehr, setzt den dekadenten Wohlstand mit dem Canossagang in die Wüste in einen szenenwechselnden Dialog, um den sowieso schon unangenehm überhöhten Kontrast nochmal zu verstärken. Was als Conclusio bleibt, ist reines, archaisches Urverhalten, zeitlos seit tausenden von Jahren.

The Forgiven (2021)

Die schwarze Spinne (2021)

DEN TEUFEL WERD‘ ICH TUN

4/10


schwarzespinne© 2021 Ascot Elite


LAND / JAHR: SCHWEIZ, UNGARN 2021

REGIE: MARKUS FISCHER

BUCH: BARBARA SOMMER, PLINIO BACHMANN, NACH EINER NOVELLE VON JEREMIAS GOTTHELF

CAST: LILITH STANGENBERG, NURIT HIRSCHFELD, RONALD ZEHRFELD, ANATOLE TAUBMAN, MARCUS SIGNER, FABIAN KRÜGER, JOSEF OSTENDORF, UELI JÄGGI U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Der größte Vorteil, den sich der Teufel nutzt, ist nicht der, den Menschen glauben zu machen, es gäbe ihn gar nicht. Sondern der, den Menschen glauben zu machen, sie könnten die Vorteile, die Luzifer ihnen anbietet, nutzen, ohne dafür etwas tun zu müssen. Falsch gedacht. Im Zeitalter der Romantik ist der Fürst der Finsternis das Synonym für den unberechenbaren Fortschritt vor allem in Industrie und Technik. Gegenwärtig stehen wir wieder vor so einem Umbruch. Der Teufel mag also wieder des Öfteren in Kunst und Kultur seinen Weg finden, um das Unabsehbare so zu verkörpern, dass man es vielleicht bannen kann.

Das hatte sich Jeremias Gotthelf in der ersten Halbzeit des 19. Jahrhunderts schon gedacht, als er seine mittelalterliche Novelle Die schwarze Spinne schrieb. Natürlich ist das Stoff, der für phantastische Filme adaptiert werden kann, die sowohl das Magische als auch den romantisierten Nostalgiebedarf für mittelalterliche Darstellungen aller Art bedienen könnte. Die Story ist auch denkbar einfach gestrickt, um sich gar nicht erst von ausufernden Landschafts- und Gefühlsbeschreibungen, wie diese nur zu gern zu dieser Zeit in Lettern festgehalten wurden, an den Rand drängen zu lassen.

Die moralische Mär um Teufel, Dämonen und Widerstand spielt im 13. Jahrhundert im Emmental, in einer Gegend, die der Deutschritter-Orden unter seiner Fuchtel hat, nachdem dieser von Kreuzzügen zurückgekehrt war und nun nicht viel mehr mit sich anzufangen weiß als das dort ansässige Volk zu unterjochen. Dass die Mächtigen sich aufspielen, ist gang und gäbe und verwundert wohl kaum, wenn man das menschliche Verhalten zumindest bereits ein bisschen mithilfe der Geschichte analysiert hat. An einem heißen Sommer zu dieser Zeit nötigt also der Recke Hans von Stoffeln seine Untertanen dazu, ihm innerhalb kürzester Zeit eine Allee aus schattenspendenden Bäumen auf dem Weg zu seiner Burg zu pflanzen. Ein unmögliches Vorhaben. Eines, bei welchem die ohnehin schon ausgezehrten und bettelarmen Bauersleute den Kürzeren ziehen. Wäre da nicht der jungen Hebamme Christine (Lilith Stangenberg) der Teufel als Karrenmacher erschienen, und hätte dieser ihr nicht Hilfe angeboten, um das Schicksal abzuwenden. Doch wie das beim Beelzebub eben so ist, wäscht eine Hand schließlich die andere. Der Finsterling macht nichts, ohne etwas ganz Bestimmtes einzufordern. Zum Beispiel den kommenden Nachwuchs. Verrückt müsste man sein, um den Deal nicht einzuhalten oder gar zu versuchen, den Teufel auszutricksen. Doch Christine versucht’s trotzdem – und entfacht die Spinnenpest.

Das alles klingt nach opulentem Horror zwischen Burgtor und Saustall. Ein wilder Ritt hätte das werden können, vielleicht gar so etwas philosophisch-makabres wie der australische Independent-Hexensabbat You Won’t Be Alone mit Noomi Rapace. Statt des Teufels ringt dort eine uralte Hexe um das Neugeborene einer Menschenfrau – mit ungewöhnlicher Wendung. In Gotthelfs Geschichte aber sind Wendungen maximal im Umblättern der Buchseiten zu finden. Der Plot bleibt sonst eher stringent – und erfährt auch unter der Regie des Schweizer Tatort-Regisseurs Markus Fischer kein erfrischendes Update. Die schwarze Spinne, ohne landschaftsbeschreibender Romantik, quält sich durch eine wenig attraktive Parabel um Opferbereitschaft und Widerstand, die unter sperriger Dialogregie leidet und mit Lilith Stangenberg eine unnahbare Heldin in Szene setzt, deren Motivation sich niemals richtig erschließt. Als würde die Produktion unter Geldnot leiden, offenbart sich der Spinnenterror mehr im Wunschdenken der Filmemacher als tatsächlich am Screen. Erschwerend hinzu kommt, sofern keine Untertitel vorhanden, das für Nicht-Schweizer mangelnde Verständnis für Schwyzerdütsch, den zumindest die Deutschritter nicht sprechen, was sich folglich als Wohltat herausstellt, wenn man gerade mal nicht am Inhalt des Gesagten heruminterpretieren muss.

Die schwarze Spinne lässt also keinen frischen Wind durchs Emmental wehen, auch wenn der faulige Geruch des Teufels in der Nase juckt. Die Lust an der Neuinterpretation muss angesichts einer gewissen Rückorientierung an die romantische Schwermut einer düsteren Arme Leute-Mystery weichen. Was zur Folge hat, dass das Auf- und Abtreten der Figuren der nahtlosen Dramaturgie eines Provinztheaters am Dorfplatz gleicht. Auch wenn man dabei noch so nah ans Ensemble rückt, wie eine Gruppe Kinder, die keinen Eintritt zahlen müssen und sich ans Podium drängen – auch dann lässt sich nichts von einem Spirit spüren, der das Publikum vielleicht irgendwann tangieren würde.

Die schwarze Spinne (2021)