Momo (2025)

WER HAT AN DER UHR GEDREHT?

6/10


© 2025 Constantin Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: CHRISTIAN DITTER

DREHBUCH: CHRISTIAN DITTER, NACH DEM ROMAN VON MICHAEL ENDE

KAMERA: CHRISTIAN REIN

CAST: ALEXA GOODALL, ARALOYIN OSHUNREMI, KIM BODNIA, CLAES BANG, LAURA HADDOCK, MARTIN FREEMAN, DAVID SCHÜTTER, JENNIFER AMAKA PETERSON, LINA MARUYAMA, RITAKAHN CHEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN



Den Cast hätte Michael Ende wohl abgenickt. Vor allem mit dem bezaubernd sympathischen Martin Freeman – einem Mann, dem man einfach nicht böse sein kann. Der ehemalige Hobbit und die rechte Hand eines modernen Sherlock Holmes versprüht als Meister Hora den magischen Esprit eines Charakters, den Ende so geschrieben haben muss. Freeman changiert zwischen jovialer Weisheit und kindlicher Verschmitztheit wie einst der gute Heinz Rühmann, der den Meister der Stunden wohl ähnlich dargeboten hätte. Die rotgelockte britische Schauspielerin Alexa Goodall ist ebenfalls ein Glücksgriff – wie einst Radost Bockel steht ihr die verpeilte Lummerland-Attitüde, vermengt mit dem sie umgebenden Mysterium ihrer Herkunft (wie so oft bei Michael Ende) ausnehmend gut. Die Szenen, in denen sie sich direkt konfrontiert sieht mit dem obersten Zeitdieb Claes Bang sind die besten, vor allem auch, weil auch jener, der ein bisschen so aussieht wie Christopher Lee in jungen Jahren, den grauen Anzugträger diabolisches Charisma verleiht, scheinbar unantastbar, allem erhaben, und so falsch wie der Teufel selbst.

Ein Upgrade für den Klassiker

Mit diesem Trio hat die Neuverfilmung von Momo schon eine Menge in trockenen Tüchern. Stellt sich natürlich die Frage: Wie diese parabelhafte Betrachtung der modernen Welt, geschrieben in den Siebzigern, für die heutige Zeit adaptieren, die schon so viel weiter ist als jene aus den Achtzigern, in denen sich Johannes Schaaf an die erste Verfilmung herangewagt hat?

Statt an Zigarren zu ziehen geben sich die Zeitdiebe diesmal den entspannenden temporären Sprühnebel mit dem Inhalator. Ein High-Tech-Armband gibt den Leuten diesmal vor, wann sie wo wieviel Zeit sparen können, es wäre wegen der Prozessoptimierung – mittlerweile ein geflügeltes und durchs Dorf getriebene Fachwort zur Effiziensteigerung. Und schon sind wir angekommen in der schönen neuen Arbeits- und Lebenswelt, die sich, wie kann es anders sein, genauso grau, gehetzt und verkniffen anfühlt wie unsere tatsächliche urbane Welt. Statt Armband haben wir die Apple Watch oder das Smartphone, viele Unterschiede gibt’s da nicht. Hätten wir Momo, würde sie erkennen: Es sind wir selbst, die auf die große Erfüllung hinsteuern, die niemals kommen wird, weil sich auch dort, wo der vermeintliche Silberstreifen am Horizont auftaucht, nur unsere gehetzte Gegenwart spiegelt. Was wollen wir denn damit erreichen, mit all dieser Effizienz? Mehr Profit. Wofür eigentlich?

Weder Hommage noch originär

Michael Endes Allegorie ist so zeitlos und treffend, dass sie sich wie eine perfekte Blaupause für spätere Generationen eignet; ein narratives Template, um die veränderbaren Variablen des Fortschritts ganz einfach zu ersetzen. So variabel wie diese Vorlage erscheint allerdings auch die Umsetzung von Momo für das Zeitalter der Sozialen Medien – vielleicht, weil uns ohnehin jede Menge substanzloser, generischer Content umgibt, der durch den KI-Slop, der im Film ja noch nicht mal berücksichtigt wird, Lebens- und Arbeitsqualität zusehends entwertet. Regisseur Christian Ditter (Vorstadtkrokodile, Biohackers) kann sich kaum für eine visuelle Tonalität entscheiden, mal gerät sein Film als dystopische Achtziger-Science-Fiction, mal als Hommage an Schaafs altem, weitaus stilsicheren Film mit mechatronischer Schildkröte und deutlichen Kulissen, mal als CGI-optimierter Kitsch, wie ihn Peter Jackson in The Lovely Bones gerne hatte. Die Momo-Version 2025 kann sich schwer entscheiden, welchen Weg sie gehen soll, um ihre Geschichte zu erzählen – das bremst den Erzählfluss, passt sich zwischendurch dem Schritttempo der Schildkröte an. Vielleicht sollte man diesen entschleunigten Rhythmus ja gerade deswegen aussitzen, weil die Prämisse ja schließlich jene ist, in Eile langsam zu gehen, wie schon Konfuzius gesagt haben soll.

Das wäre ja schön und gut, aber vielleicht liegt es auch daran, dass der Plot mittlerweile längst allzu bekannt ist und man hauptsächlich bei den Bildern hängenbleibt, die zusammengenommen eine generische Mixtur ergeben.

Momo (2025)

Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer (2023)

BLUTJUNG DURCH DIE NACHT

8/10


Humanist Vampire Seeking© 2023 H264

ORIGINALTITEL: HUMANIST VAMPIRE SEEKING CONSENTING SUICIDAL PERSON

LAND / JAHR: KANADA 2023

REGIE: ARIANE LOUIS-SEIZE

DREHBUCH: ARIANE LOUIS-SEIZE, CHRISTINE DOYON

CAST: SARA MONTPETIT, FÉLIX-ANTOINE BÉNARD, STEVE LAPLANTE, SOPHIE CADIEUX, NOÉMIE O’FARRELL, MARIE BRASSARD, ARNAUD VACHON, PATRICK HIVON U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Von wegen seelenlose Böslinge: Vampire sind von dämonischen Mächten verfluchte Gestalten, die sehr wohl zu allerlei Empfindungen fähig sind. Das einzige Problem: Sie können eben nicht anders, und müssen, um selbst zu überleben, anderen wehtun. Wie Raubtiere, nur menschlich. Doch wie menschlich können Bram Stokers Blutsauger denn überhaupt noch sein? Wie sehr erinnern sie sich noch an ihren Urzustand als sterbliches Individuum, sofern sie nicht ohnehin schon als Vampir auf die Welt gekommen sind? Lässt sich ein Gewissen ausprägen wie jenes, welches die kleine Sasha verspürt? Gerade mal zu ihrem 68. Geburtstag gibt’s ein ganz besonderes Geschenk: einen menschlichen Partyclown, den die ganze Sippschaft als Highlight des Tages gemeinsam ausschlürfen darf. Auch Sasha soll langsam von Blutkonserven auf Selbstfang umerzogen und vorbereitet werden – doch das untote Mädchen weigert sich. Die feinfühlige Vampirin, von welcher schon im Titel die Rede ist, bringt es nicht übers Herz, unschuldige Sterbliche zu ermorden, auch wenn es dabei ums eigene Überleben geht. Mit dem Latein am Ende, wird Sasha an ihre ältere Cousine übergeben, die ihr zeigen soll, wo und wie geerntet wird. Als alles danach aussieht, als würde das Mädchen sich lieber selbst als andere tilgen, macht sie die Bekanntschaft mit dem depressiven Paul, der nichts lieber tun würde als seinem eigenen Leben ein Ende zu bereiten. Noch dazu, wenn es anderen zum Vorteil gereicht.

Man kann sich vorstellen, welchen Pakt die beiden jungen Gestalten eingehen werden. Wenn einer gibt, kann der andere nehmen. Doch so einfach scheint nicht mal das zu sein. Denn zwischen Sasha und Paul entwickelt sich sowas wie Zuneigung und Respekt vor den Prinzipien des jeweils anderen. Und nicht nur das: Es könnte sogar sein, als entspänne sich obendrein eine kleine Romanze, wenn die Vampirin ihr Opfer zu sich nachhause einlädt, um der Lieblingsschallplatte zu lauschen. Eine Szene, die zu den unvergesslichsten des Films zählt – lakonisch und liebevoll.

Wer sich noch an Jim Jarmuschs Only Lovers Left Alive mit Tilda Swinton und Tom Hiddleston erinnern kann, sieht in Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer eine gewisse Verwandtschaft. Das liegt vorallem an Sara Montpetit, die als so blasses wie zartes Geschöpf der Nacht, die den Look von Wednesday Addams und Sheila Vand als Vampirin aus A Girl Walks Home Alone at Night trägt und mit minimaler Mimik eine ganze Bandbreite an Emotionen präsentiert. Mit ihr hat Ariane Louis-Seize in ihrem Langfilmdebüt dem Genre des Vampirfilms erfrischend unkitschige Vibes hinzugefügt. La Boum für Nachtgestalten, mit Anlehnung an den Kosmos von Anne Rice, die mit der Thematik humanistischer Zähnefletscher Louis-Seize vielleicht sogar inspiriert hat. Und auch wenn die Idee nicht unbedingt neu ist – die Balance zwischen Komödie und atmosphärischem Vampirfilm zu finden, ohne seine Figuren jemals auch nur ansatzweise der Lächerlichkeit preiszugeben, zeugt von einem empathischen Inszenierungsstil und viel Liebe für all die schrägen und todessehnsüchtigen Charaktere. Félix-Antoine Bénad als Möchtegern-Selbstmörder Paul ist ebenfalls eine Entdeckung, er wäre in Harold and Maude wohl eine treffsichere Wahl für ersteren gewesen. Doch statt der alten Dame ist es diesmal ein mysteriöses Mädchen – beide zusammen sind wohl eines der erquicklichsten Paare des Filmjahres. Und wenn beide dann versuchen, das Beste aus ihrer misslichen Lage zu machen, ohne ihre Ideale zu verraten, strotzt der Film nur so vor Cleverness.

Das ganze Twilight-Franchise ist im Gegensatz zu dieser samtschwarzen, urbanen Mär einer Zuneigung lediglich die Behauptung einer empfundenen Romanze. Diese zarten Bande, die hier geschlossen werden, sind dem feingeistigen Understatement eines Vampir-Daseins würdig. Inklusive nadelspitzer Eckzähne. Denn ohne die geht es nicht. Oder doch?

Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer (2023)

Nightmare – Mörderische Träume (1984)

WENN TEENAGER TRÄUMEN

7,5/10


nightmareonelmstreet© 1984 New Line Cinema


ORIGINALTITEL: A NIGHTMARE ON ELM STREET

LAND / JAHR: USA 1984

REGIE / DREHBUCH: WES CRAVEN

CAST: ROBERT ENGLUND, HEATHER LANGENKAMP, JOHN SAXON, RONEE BLAKLEY, AMANDA WYSS, JOHNNY DEPP, NICK CORRI, CHARLES FLEISCHER U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN 


Der Traum im Traum im Traum – wie Christopher Nolan sein Publikum mit dem mentalen Ebenen-Thriller Inception durch die Dimensionen gewirbelt hat, brachte weit weniger durchdacht, aber immerhin schon spielerisch und lustvoll genug, Wes Craven anno 1984 aufs Tapet, und zwar mit einem blutjungen Mittlerweile-Klassiker aus dem Slasher-Genre, der sich die abgrundtiefe Bösartigkeit des Antagonisten aus John Carpenters Halloween zu eigen machte und dabei aber noch eine Metaebene weiter ging. Es ist die der unendlichen Weiten der Träume, vorzugsweise des bösen, finsteren, panikmachenden Albtraums, in welchem eine hämisch grinsende Schreckensgestalt Jagd auf jene macht, die ruhig und friedlich in ihren Betten liegen. Den fürs Leben unverzichtbaren Schlaf dafür zu missbrauchen, um ihn mit malträtierenden Vibes zu tränken, ist schon eine fiese Klasse für sich. Denn ohne Schlaf kommt der Mensch nicht aus, Insomnie macht ihn kaputt, genauso wie der Mangel an Nahrung. Schuld an dieser Abnormität ist ein finsterer Geselle ohne Skrupel, ein längst in den ewigen Jagdgründen befindlicher böser Bube an sich – nicht Mike Myers, sondern Fred Krüger, auch gerne Freddy genannt und von ahnungslosen Kindern in einem 1-2-3-Reim besungen.

Dieser ehemalige Kindermörder, von Grund auf und völlig grundlos das Böse personifizierend, ist leicht erkennbar an seinem rotgrün gestreiften Pullover, der verbrannten Haut und seinem zerbeulten Fedora. Markant eben auch die vier Messerklingen, die, an der rechten Hand montiert, den einen oder anderen Teenagerleib aufzuschlitzen gedenken. Wes Craven interessiert kein bisschen, wie es dazu kommen hat können, dass ein Mensch wie Fred Krüger es geschafft hat, sein irdisches Dasein in die Dimension der Träume zu schaffen. Doch genau dieser Umstand ist es, – nämlich Fragen nicht zu beantworten und Ursachen nicht zu ergründen – die einen Horrorfilm wirklich schrecklich machen. Weil niemand weiß, warum, wieso, weshalb. Letztlich bleibt die Hoffnung auf eine dem Unterhaltungskino inhärenten Gerechtigkeit, die letztlich das Gute gewinnen lässt, weil alles danach strebt, Anomalien wie diese auszumerzen.

Wes Craven hat keine Skrupel, der Ordnung nicht zu folgen. Sein Teenie-Slasher ist den moralischen Parametern erhaben, er ist die Antithese zum pädagogisch wertvollen Genrefilm und schickt die Nachsitzer aus dem Breakfast Club in die Vorhölle der Bettruhe. Niemand darf mehr schlafen, und wenn doch, muss eine wie Nancy Thompson gewappnet sein. Träume sind hier nicht nur Schäume, sondern Geisterbahn-Parcours, die, wie bei Träumen so üblich, gesteuert werden könnten, hätte man das Know-How dazu. So wie Jamie Lee Curtis gegen Mike Myers kämpft bald Heather Langenkamp (sowohl auch im Original als auch in diversen Fortsetzungen) gegen ihre Nemesis, gegen den hässlichen Schlitzer, der sich allerlei anmaßt.

Und dann sind da die Dimensionen, die Wach- und Traumzeiten, die Craven durcheinanderbringt, bis man wirklich nicht mehr feststellen kann, was nun wirklich ist. Auf die Spitze getrieben wird dies mit einem vom Meister höchstselbst abgelehnten Ende, welches dank Cravens Produzent aber dennoch in die Endfassung kam. Eine weise Entscheidung? Jedenfalls eine, die noch mehr irritiert. Interpretationen darüber gibt’s viele. Und schließlich ist der Umstand, über einen Film länger nachzudenken als üblich, geradezu eine Auszeichnung.

Mittlerweile vierzig Jahre alt, hat Nightmare – Mörderische Träume immer noch seine perfiden Momente, die sogar spätere Klassiker wie Kevin – Allein zu Haus vorwegnehmen – oder eben Nolans Inception. Verknüpft mit der reuelösen Bösartigkeit des zu bekämpfenden und unverbesserlichen Monsters und einigen ikonischen Szenen wie jene mit Heather Langenkamp in der Badewanne bietet dieser augenzwinkernd-originelle Horror immer noch schreckliche Unterhaltung vom Feinsten. Manches ist charmant angestaubt wie bei Ghostbusters, manches wirklich verblüffend zeitlos. Der Blutzoll ist enorm, die Lust am Einschlafen geringer als sonst.

Nightmare – Mörderische Träume (1984)

Madame Web (2024)

IM NETZ DER VORSEHUNG

5/10


madamwweb© 2024 CTMG, Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: S. J. CLARKSON

DREHBUCH: MATT SAZAMA, BURK SHARPLESS, CLAIRE PARKER, S. J. CLARKSON

CAST: DAKOTA JOHNSON, SYDNEY SWEENEY, CELESTE O‘ CONNOR, ISABELA MERCED, TAHAR RAHIM, ADAM SCOTT, EMMA ROBERTS, MIKE EPPS, JOSÉ MARIA YAZPIK, ZOSIA MAMET, JILL HENNESSY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Es pfeifen die Spatzen schon von den Dächern: Superheldenfilme sind in der Krise, der Hype ist abgeflaut, das Publikum hat alles schon gesehen und das wiederum mehrfach. Helden- und Heldinnengenesen lassen sich kaum mehr voneinander unterscheiden, die Antagonisten sind austauschbar. Das epochale Gewitter des Infinity-Krieges, qualitativer Höhepunkt des Genres, liegt lange zurück. Was danach kam, waren ambitionierte Spielereien in den Rauchschwaden längst abgeschossener Knüller-Raketen. Die lobenswerte und engagierte Grundidee, Marvel-Serien mit Filmen zu verbinden und so einen noch komplexeren roten Faden zu erschaffen, war ob des viel zu hohen Anspruchs leider ein Schuss in den Ofen. Ist man Fan genug, und zwar ein solcher, der sich alles antut, von Kinofilmen bis zur Streaming-Featurette, mag die Rechnung vielleicht aufgehen. Doch Leute wie diese sind nicht die breite Masse. Filme wie The Marvels, der eigentlich nur dann funktioniert, wenn man auch all den anderen Content kennt, können bei Gelegenheits-Kinobesuchern, die einen in sich geschlossenen Content konsumieren wollen, kaum punkten. Disneys Marvel steckt in einer Art Pensionsschock, denn die alte Riege hat ausgedient, die Luft ist draußen, umdenken ist angesagt.

Sony macht die Sache ganz anders. Sony hat das SSU, das Sony’s Spider-Man Universe und bringt originelle Animationsfilme ins Kino, die kein Vorwissen brauchen. Sonst muss sich das Studio eigentlich nur mit Venom herumschlagen, während sich der Junge aus der Nachbarschaft bei Marvel herumtreibt. Luft genug also, um Mauerblümchen wie Morbius oder gar Madame Web auf die Leinwand zu bringen. Madame Web? Wer ist das nun wieder? Gwen Stacy im weißen Spinnen-Overall? Irgendeine der vielen Alternativen aus dem Multiversum? Mitnichten. Diese Madame Web ist neu und gar nicht mal so auf Superheldin gebürstet wie sonst. Sie hat die Gabe, in die nahe Zukunft zu blicken. Und sonst? Das wäre alles. Doch zu wenig ist das prinzipiell mal nicht.

Cassandra Webb ist anfangs mal eine, die zwar nicht als Super-, aber als Alltagsheldin durchgeht: Sie ist Sanitäterin. Ihre Superkräfte liegen im sozial kompetenten Umgang mit Unfallopfern und Sterbenden, sie rettet Leben auf menschliche und nicht übermenschliche Weise. Cassandra wird urplötzlich von Déjà-vus heimgesucht, die, wenn sie eintreten, gar nicht als solche zu erkennen sind, sondern erst dann, wenn sich Szenen auf seltsame Weise wiederholen. Erst nach ein paar Anfangsschwierigkeiten schnallt sie die Lage: Sie kann vorab sehen, was in den nächsten Minuten passieren wird. Und noch ein bisschen später erkennt sie, dass das, was sie sieht, keinem Determinismus unterworfen, sondern veränderbar ist. Die nächstmögliche Zukunft ist das, was sie als Waffe in der Hand hat, um den finsteren und zugegeben recht eindimensional platzierten Superschurken Ezechiel Sims (Tahar Rahim) im schwarz-roten Spiderman-Kostüm in seine Schranken zu weisen. Der ist nämlich scharf auf drei Teenager, die ihn laut eines prophetischen Traums irgendwann einmal in die ewigen Jagdgründe verbannen werden. So folgt eines aufs andere und das Dreimäderlhaus, das sich hinten und vorne kaum auskennt, gerät unter die Obhut Madame Webs, die in dieser Origin-Story gar nicht mal so weit kommt, um ihre ganzen Asse auszuspielen. J. K. Clarkson inszeniert den Anfang von etwas, der womöglich nie kommen wird, weil Madame Web weit, weit hinter den finanziellen Erwartungen und einem ansehnlichen IMDB-Ranking zurückfällt.

Einen Flop par excellence hat sich Sony da eingetreten. Das tut weh. Weniger aber schmerzt der Film selbst, dem man eine gewisse konstruierte Belanglosgkeit schwer absprechen kann, der aber im Grunde das bisschen, was er zu bieten hat, nämlich weniger Superhelden-Action als vielmehr Teenager-Abenteuer mit phantastischen Tendenzen, solide verpackt. Ist Madame Web also eine Themenverfehlung? Sagen wir so: Der Film ist mehr Begleitwerk als zentrales Zugpferd für ein halbgares Franchise, das Sony einfach nicht so hinbekommen kann wie schon die längste Zeit Marvel Studios, das vieles ausprobiert hat, auch auf die Gefahr hin, zu versagen. Madame Web hat ein funktionierendes Ensemble auf der Habenseite, bestehend aus Sidney Sweeney, Isabel Merced, Celeste O’Connor (derzeit mit Ghostbusters: Frozen Empire im Kino) und natürlich Dakota Johnson, die ihre Arbeit ernst nimmt und mit dem, was ihr in die Hand gegeben wird, zufrieden scheint. Alle vier arbeiten im Teamwork, und sie stehen auch im Schulterschluss verhaltensauffälligen Szenen gegenüber, welche die Stimmungslage des Films auf irritierende Weise umstoßen.

Das kann man nachsehen. Und den Film trotz allem auf eine Weise genießen, wie man eskapistisches und anspruchsloses Effekte-Kino eben genießen kann, ohne viel zu hinterfragen. Das Superheldenkino wird es nicht weiterbringen oder gar retten. Dafür ist das Abenteuer zu kleinlaut.

Madame Web (2024)

How To Have Sex (2023)

HANGOVER MIT MÄDCHEN

7,5/10


howtohavesex© 2023 Polyfilm


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, GRIECHENLAND, BELGIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: MOLLY MANNING WALKER

CAST: MIA MCKENNA-BRUCE, LARA PEAKE, ENVA LEWIS, SHAUN THOMAS, SAMUEL BOTTOMLEY, LAURA AMBLER, EILIDH LOAN, DAISY JELLEY U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Diese Nacht wird unsere Nacht. Diese Nacht wird nicht wie jede andere, sie wird phänomenal. Und generell – der Urlaub in Griechenland soll für drei junge Frauen im Teenageralter, die, so viel wissen wir, noch nicht volljährig sind, endlich das bringen, was sie zu erwachsenen Frauen machen wird: Das erste Mal Sex. Dieses energische Streben nach einem männlichen (oder weiblichen) Sparring-Partner für den Geschlechtsverkehr klingt fast so, als wäre How To Have Sex die XX-Version von Eis am Stiel. Doch was in den Sexklamotten gerne und zur Gänze ausgeklammert wird, erfährt in diesem höchst sensiblen und über ganzer Linie auch paraverbal funktionierendem Coming of Age-Drama seine kritische, aber faire Bühne. Weder lässt sich das authentische Gesellschaftsportrait auf Schuldzuweisungen ein, noch will es so junge Menschen wie Tara eines Besseren belehren – dass nämlich die rosarote, verheißungsvolle Vorstellung vom Wunder der Geschlechtsakts, der logischerweise mit Respekt, Zuneigung und Achtsamkeit einhergehen muss sollte, dem nackten Realismus, also der praktischen Umsetzung zur erstbesten Gelegenheit, nichts entgegensetzen kann. Was Tara von diesem Party-Urlaub wohl mit nachhause nehmen wird, ist die ernüchternde Erkenntnis, dass die Teenager-Blase, diese Barbie world, wenn man so will, irgendwann mitsamt ihres schillernden Farbspektrums zerplatzen wird müssen. Wenn nicht jetzt, dann irgendwann später. Dem Imperativ des Partyfeierns folgt der Hangover nach dem erschöpfenden Nichts einer Scheinwelt.

Tara ist nicht allein hier auf Kreta, ihre BFFs Skye und Em sind ebenfalls mit von der Partie, und alle drei wollen nur das eine. Sollte, rein praktisch gesehen, nicht so schwierig werden in dieser anarchischen Welt aus Alkohol, Dancefloor und einer Menge notgeiler Jungs, die junge Frauen als Gelegenheitsbeute gerne mal entjungfern. Minuten später ist der Akt bereits vergessen, und was bleibt, ist das Gefühl, missbraucht worden zu sein. So wird es Tara schließlich ergehen, die nach einer turbulenten Nacht, in der sich alle aus den Augen verlieren, gar nicht erst heimkommt, sondern verstört, schockiert und desillusioniert in einem menschenleeren, mit Plastikmüll übersäten Halligalli-Küstenort a lá Ballermann, umherirrt. Die britische Regisseurin Molly Manning Walker setzt in ihrem keinesfalls reißerischen, sondern behutsamen Psychodrama eine angesichts ihrer Performance wohl vielversprechendsten Nachwuchsdarstellerinnen in Szene, die man seit langem gesehen hat. Mia McKenna-Bruce erinnert an Florence Pugh und agiert auch mindestens so gut wie ihre bereits berühmte Kollegin, die mit Lady Macbeth eine ähnliche starke Frauenfigur darstellen konnte. Bei McKenna-Bruce liegt die Kraft aber im Mut zur Verletzbarkeit. Sie ist das Zentrum eines Films, der eigentlich ganz ihr gehört – das lässt sich nach der Halbzeit deutlich erkennen, wenn die Kamera minutenlang auf dem Gesicht der jungen Britin verweilt und in ihrem Ausdruck liest wie in einer Klageschrift, die anprangert, dass diese ganze Show namens Partyleben keinen Mehrwert hat und nur nimmt statt gibt. Sie erschöpft, sie ermüdet, immer hohler und leerer fühlt es sich an, wenn die Nacht zum Tag wird und keiner mehr so richtig kann, aber muss. Dass Gruppenzwang und Gefallensucht das eigene Ich schlecht behandeln, dass Erwartungen unterwandert wurden und Prinzessinnen-Sex etwas ist, dass man erwarten muss. Keiner der Protagonistinnen und Protagonisten weiß es besser, jede und jeder ist in seiner Unzulänglichkeit zwar nicht entschuldbar, aber nachzuvollziehen. Der Druck, so sein zu müssen, wie die anderen es wollen, findet selten ein Ventil – Taras verletzte Seele muss damit klarkommen, mit ihren Erfahrungen allein zu bleiben.

Gegen alle Erwartungen ist How to Have Sex kein Exzesskino, sondern hält die Würde der Partyjugend dort zusammen, wo sie auseinanderbrechen könnte. Auffallend viel Ruhe setzt Manning Walker zwischen den Nachtlärm, hört und sieht hin, wo andere in ihrer sozialen Inkompetenz erblinden. Was hätte Ulrich Seidl wohl aus diesem Stoff gemacht? Man hätte den Film als vierten Teil seiner Paradies-Reihe sehen können, doch harter Realismus und zynische Gesellschaftskritik hätten daraus einen Sozialporno werden lassen, der nichts zu berichten gewusst hätte außer, dass die verkommene Jugend längst nicht mehr weiß, was sich gehört. Manning Walker geht die Sache anders an. Ihr Film ist wie Aftersun, nur statt des Farewells von Vater Paul Mescal darf sich Tara von einer Traumwelt verabschieden, die nur in den sozialen Medien existiert.

How To Have Sex (2023)

Die geheime Tochter

DAS KIND MIT DEM BAD AUSSCHÜTTEN

7/10


diegeheimetochter© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: SPANIEN 2022

REGIE: MANUEL MARTÍN CUENCA

BUCH: MANUEL MARTÍN CUENCA, ALEJANDRO HERNÁNDEZ

CAST: IRENE VIRGÜEZ, JAVIER GUTIÉRREZ, PATRICIA LÓPEZ ARNAIZ, JUAN CARLOS VILLANUEVA, MARIA MORALES, SOFIAN EL BENAISSATI U. A. 

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Eltern haften für ihre Kinder. Und nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für Minderjährige, die diesen Erwachsenen ihr Vertrauen schenken. Das zumindest tut die 15jährige Irene (Irene Virgüez), eine jugendliche Straftäterin, die von ihrem Freund, ebenfalls straffällig, geschwängert wird. Irene hat niemanden, an den sie sich wenden kann. Und schon gar keine Lust, das Kind auch auszutragen. Womit denn? Und mit welchem Geld? Da hat Javier, einer der Jugendpsychologen aus der Anstalt, eine Idee: Was, wenn eine Hand die andere wäscht? Wenn Irene ihr Kind heimlich bei ihm daheim austrägt und dessen Frau dann so tut, als wäre es ihre eigene Geburt gewesen? Irene ist die Muttersorge los, und jene, die sowieso keinen Nachwuchs zeugen können, haben dann etwas, worauf sie sich freuen können. Das Mädel hat nichts zu verlieren, also willigt sie ein, nachdem sie Javier über alle Regeln, die während dieser Zeit der Schwangerschaft tunlichst befolgt werden müssen, aufklärt. Keine Besuche, keine Ausflüge ins Tal, keine Anrufe. Irene soll als flüchtig gelten und dann, nach neun Monaten, zufällig wieder gefunden werden.

Wir sehr kann man als psychologisch versierter Experte in Sachen Teenager auch nur annehmen, dass das, was eine Problemjugendliche wie Irene vertrauensvoll zusichert, auch neun Monate später noch Bestand hat? Natürlich gar nicht. Mädchen in diesem Alter können wankelmütig und launenhaft sein, lassen sich leicht beeinflussen oder ändern ihre Meinung so oft wie ihren Look. Wieso sollte das beim Kinderkriegen anders sein? Ist es schließlich nicht. Und das stößt Javiers Frau sauer auf, nachdem die Eltern nach mehreren Monaten Isolation einwilligen, dass Irene ihren Freund wiedersehen darf. Ein grundlegender, irreversibler Fehler, der das ganze freudig-hoffnungsvolle Konstrukt werdender Eltern und unbekümmerter Jugend in sich zusammenbrechen lässt.

Autorenfilmer Manuel Martín Cuenca spielt mit der Unreife junger Menschen und der Ratlosigkeit ob deren Zukunft. Volatile Entscheidungen kriechen wie Nebel auf eine spanischen Hochebene und errichten das Dilemma einer ausweglosen Lage, die nur unter Einsatz von Gewalt wieder hingebogen werden kann. Bis es soweit kommt, lässt sich Die geheime Tochter gerade so viel Zeit wie nötig, um die Charaktere in ihrer Risikofreude und Labilität ins Spiel zu bringen. Was eignet sich da besser als eine isolierte Ranch irgendwo in den Bergen – ein paar Meter weiter geht’s steil bergab ins Verderben. Ein Setting, geradezu perfekt für einen Thriller, der sich anfühlt wie aus der Feder Patricia Highsmiths. Die Zutaten: Psychologische Einengung, diktierte Isolation und der manipulative Sprech eigennütziger Erwachsener, die aus ihrer Arroganz weniger Erfahrenen gegenüber keine Kompromisse eingehen wollen. Doch die Rechnung, die sie Irene vorsetzen wollen, haben sie ohne den Instinkt einer Mutter gemacht. Cuenca setzt dabei auf volle Breitseite im Austragen eines Konfliktes, der clever konstruiert und grimmig genug erscheint, um ihn auf eine Länge von neun Monaten dehnen zu können. Vorglühen und Nachbrennen ist alles in diesem Hickhack rund um Selbstbestimmung, dem Missbrauch erzieherischer Verantwortung und jugendlichen Idealen.

Dabei geraten so manche Details zum Selbstläufer oder fast schon zur kleinen Nebenstory: Seit Stephen Kings Cujo oder dem Bluthund-Reißer Bullet Head gab es keine so furchteinflößenden Vierbeiner mehr. Wie sich Irene Virgüez als zäher Teenie mit diesen knurrenden Monstern auseinandersetzt, scheint fast schon ein Film für sich zu sein, ist aber das Sahnehäubchen auf einem europäischen Genrebeitrag, der die gefährliche Dynamik zwischen der Gönnerhaftigkeit des Wohlstands und der notgedrungenen Abhängigkeit sozial Benachteiligter bis in jede dunkle Ecke des abgesteckten Schauplatzes ausnutzt.

Die geheime Tochter

Rot

EIN KNUDDEL IM ZWINGER

7,5/10


rot© 2021 Disney/Pixar. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: DOMEE SHI

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): ROSALIE CHIANG, SANDRA OH, AVA MORSE, HYEIN PARK, MAITREYI RAMAKRISHNAN, ORION LEE, WAI CHING HO U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Ein Kind soll Kind sein dürfen. In der elterlichen Obhut gibt’s anfangs sowieso wenig ernsthaften Spielraum, um aus der Rolle zu fallen. Der Anbruch des Teenageralters ändert dann aber so einiges. Die Obhut wird lästig, die Erziehungsnormen zum Gähnen – das Entdecken der eigenen Skills, der eigenen Gefühle und der eigenen Vorlieben lässt Erziehungsberechtigte lieber in der Ecke stehen – ein zugewiesenes Plätzchen, das selbige im Grunde wahrnehmen sollten, aus Liebe zum Nachwuchs. Rat und Beistand on demand gibt’s dafür rund um die Uhr. In so manchen Kinderstuben ist so ein Ansatz nicht mal Grund zur Diskussion, wenn Traditionen und Dogmen die Freiheit rauben, ob religiös motiviert oder einfach nur vererbtes Zeremoniell. Disney hat beim Thema Coming of Age – wie das Subgenre rund um heranreifende Teenies in Kultur und Medien genannt wird – momentan einen Narren gefressen. Erst zu Weihnachten sind der mit nonkonformistischen Verhaltensweisen gesegneten Mirabel aus Encanto die vererbten Wunderkräfte alles andere als in den Schoß gelegt worden. Ihre Rolle in der Welt hat sich die Gute erst erarbeiten müssen – singend und tanzend und die klappernde Villa Madrigal erforschend. Vor den Wurzeln aller Probleme – der Erziehung – macht Disney keinen großen Bogen mehr. Konflikte in der Familie gehören ausgetragen. Es ziemt sich nicht mehr, den Psychoschmarrn der Eltern mitzutragen. Neudefinition ist die Devise, ohne hilfesuchend zurückzublicken.

In einer ähnlichen Dysfunktionalität, die nach außen hin perfekten Frohsinn versprüht, bohrt auch der neue Pixar-Streifen Rot herum. Wie in Encanto fungiert auch hier, im Toronto des 21. Jahrhunderts, ein aus der Zeit gefallenes Matriarchat als Hemmschuh für einen befreiten, selbstbestimmten Lebensentwurf. Disney folgt dabei einem streng erdachten und trendeigenen Vokabular aus Minderheiten- und Frauen-Quote, das durch seine Dominanz alles Männliche zur kleinlauten Randfigur schrumpft. Mal sehen, wie lange noch diese Schräglage mit politischer Korrektheit begründet werden kann, doch momentan will der Mauskonzern mehr als nur alles richtig machen.

In diesem Fall ist Mei Lee ein Mädchen mit asiatischem Migrationshintergrund, gut in Mathe und offen für alles, was momentan im Trend liegt. Diese Leidenschaft für K-Pop (BTS lassen grüßen) und Social Media teilt die aufgeweckte Achtklässlerin mit ihren drei Freundinnen, die alles versuchen, um Karten für das anstehende Boyband-Konzert zu ergattern. Wenn der charakterlich liebevoll ausgearbeiteten Mädchenclique im Manga-Stil die kugelrunden Äugleins vor Begeisterung verschwimmen, wird bei Disney das Gefühl für Zeitgeist großgeschrieben. Währenddessen aber ist unser dreizehnjähriger Star des Films ein emotionales Hormonbündel schlechthin, reift langsam zur Frau und entfesselt ob ihres Gefühlschaos einen riesengroßen, knuddeligen roten Panda, der allerdings sie selbst ist. Ein Fluch? Ein Segen? Was soll dieses Wunder der Gestaltwandlung, für welches sich Mei Lee zunehmend schämt und wovon auch bald Helikoptermama Ming Lee Wind bekommt? Was gar nicht gut ist, denn dieser Bär, der überall für Aufsehen sorgt, ist ein jahrhundertealtes Geheimnis, das unterdrückt werden muss.

Das geht in aufgeklärten Zeiten wie diesen eigentlich überhaupt nicht. Für diese Freiheit, flügge zu werden, bricht Pixar gleich mehrere Lanzen und sucht den Konflikt der Generationen ohne Scheu davor, eingerostete Mutterrollen aus der Reserve zu locken. Das gelingt besser als in Encanto, ist dynamisch, launig und melodramatisch. Und überraschend kausal. Statt gemeinsam als Übermutter und Tochter bei der psychosozialen Familienberatung aufzuschlagen, tut’s die Sache mit dem Problembären, der als liebevoll ausgestaltete Symbolik (jeder mag Pandabären, die schwarzen so wie die roten) Dominanz und juvenile Auflehnung an einen Tisch bringt. Pixar gibt sich dabei trotz so einigem märchenhaften Disney-Zauber nicht mit plotbedingten Floskeln zufrieden, sondern führt den Konflikt recht spielerisch und unbelastend zu einem familiären Wendepunkt, der einen Neuanfang verspricht.

Rot

The Hand of God

MARADONA, STEH‘ UNS BEI!

7,5/10


handofgod© 2021 Netflix


LAND / JAHR: ITALIEN 2021

BUCH / REGIE: PAOLO SORRENTINO

CAST: FILIPPO SCOTTI, TONI SERVILLO, TERESA SAPONANGELO, MARLON JOUBERT, LUISA RANIERI, RENATO CARPENTIERI, CIRO CAPANO, BIRTE BERG U. A. 

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Keine Sportart der Welt gleicht so sehr einer Art Religion wie diese. Fußball kann eine Lebenseinstellung sein, zu der man sich bekennt und wofür man sogar Gewalt anwendet, um die Ehre der innigst angefeuerten Mannschaft zu verteidigen. Manchmal entscheidet Fußball auch über Leben und Tod. Zwar nicht direkt, aber so wie bei vielen Dingen in der Welt, die Leidenschaften entfachen, ist der Einfluss auf die absehbare Zukunft enorm.

Wir haben also den Fußball, und wir haben innerhalb dieses sportphilosophischen Bekenntnisses durchaus auch Heilige, für die man gerne auf die Knie geht. Darunter den wohl besten Fußballer aller Zeiten. Und Kenner wissen: Bei The Hand of God kann es sich nur um Diego Maradona handeln, dem kleinen Argentinier mit dem Torschuss-Gen, der vor etwas mehr als einem Jahr erst verstarb und der 1986 zur WM in Mexiko City mit der Hand einen Ball ins Ziel befördert haben soll. Später erklärt Maradona dies mit der selbigen Gottes, die ihn geleitet haben mochte. Ein Claim, den der Spieler von da an nicht mehr loswird – und in dieser Familienprosa aus dem Neapel der Achtziger sein huldigendes Revival findet. Wir sind dabei, als der siebzehnjährige Fabietto via TV diesem kuriosen Moment der Fußballgeschichte beiwohnt. Wir sind dabei, als klar wird, dass Maradona kurze Zeit später ins neapolitanische Fußballteam wechselt. Die Freude ist groß. Eben so groß, wie sie bei Fußball manchmal sein kann.

Mir selbst gibt das nicht so viel. Und zugegeben: um Verbreitung von Halbwissen zu vermeiden, musste ich an die Recherche ran. Die Wissenslücke ist nun geschlossen, und dennoch bin ich froh darüber, dass Sorrentinos Film nur im weitesten Sinne mit dem Rasenspiel zu tun hat. Der berühmte Argentinier begleitet Fabietto so ganz nebenbei durch eine Zeit des Erwachsenwerdens und des Schicksals, stets vor der Kulisse des Vesuvs und dem malerischen Leuchten der Küstenstadt in der Dämmerung. Fabietto (gespielt von Langfilmdebütant Filippo Scotti, der an Timothée Chalamet erinnert) ist schüchtern, fasziniert von seiner durchgeknallten, freizügigen Tante Patricia und fasziniert von Maradona. Mädchen spielen kaum eine Rolle, und bevor sich der Junge entscheidet, was er mal werden will, folgt die Tragödie auf dem Fuß. Danach ist nichts mehr so wie vorher, und die magische Welt des Filmemachens hält Einzug, motiviert von niemand geringerem als Federico Fellini. Castet der mal nicht für einen Film und weilt lieber in Cinecitta, ist es der Filmemacher Antonio Capuano (der tatsächlich existiert), der dem Jungspund die Leviten des Lebens liest.

Nicht einfach so nimmt Sorrentino Bezug zu einem Altmeister wie Fellini. Ganz klar bekennt sich dieser zu seiner Liebe für den römischen Filmgott. Auch wenn man dabei erwarten würde, dass die sonst so stolze Bildsprache Sorrentinos ein neues Level erreicht, nimmt er sich in dieser Sache dann doch etwas mehr zurück als erwartet. Klar feiert das Auge mit, und ganz klar wäre das italienische Familiendrama nichts ohne die einen oder anderen grotesken Gestalten und blanken Oberweiten, wie sie bereits aus Fellinis Roma Eindruck hinterlassen haben. Zwischen all dieser üppigen Viva Italia hält Sorrentino seinem ziellos umhersteuernden Jüngling die Hand und tätschelt sie, will nur Gutes für dessen Zukunft. In Ewige Jugend hat der wohl prägnanteste italienische Filmemacher neben Matteo Garrone das Alter durch Licht und Schatten spazieren lassen. In seinem nicht weniger beeindruckenden Drama um jugendliche Ideale und der psychosozialen Wucht einer italienischen Familie erzeugen hohe und tiefe Töne ebenfalls ein bewegendes, erfrischend komplementäres Gesamtbild.

The Hand of God

Booksmart

PARTY MACHT SCHULE

7,5

 

booksmart© 2019 Annapurna Pictures

 

LAND: USA 2019

REGIE: OLIVIA WILDE

CAST: BEANIE FELDSTEIN, KAITLYN DEVER, BILLIE LOURD, SKYLER GISONDO, LISA KUDROW, JASON SUDEIKIS, WILL FORTE U. A.

 

„Wo foahr‘ ma hin? – eine‘ ins Leben!“ – so lässt es das österreichische Musiker-Duo Pizzera & Jaus ertönen. Wie bezeichnend für Olivia Wildes Regiedebüt, die sich dem farbenfrohen Genre des Coming of Age-Films angenommen hat. Da gibt es natürlich unterschiedliche Herangehensweisen. Von der Entdeckung der eigenen Reife, verschachtelt mit der Allegorie eines Monsters, ob Vampir oder Werwolf (u.a. So finster die Nacht oder When Animals dream). Da wäre auch die ziellose Schwerelosigkeit wie sie Lady Bird aka Saoirse Ronan in Greta Gerwigs gleichnamigem Film hatte. Da wären aber auch niveaulose Kalauerkomödien im College-Dunstkreis, die zum Fremdschämen einladen. Oder kluge, niemals peinliche Einblicke in die Gedankenwelt völlig unterschiedlicher Jugendlicher wie in John Hughes immer noch aktuellem Klassiker Breakfast Club. Hughes selbst war ohnehin einer der wenigen, die aus der Pubertät nicht gleich ein Zerrbild notgeiler Sex-Debütanten gemacht hat. Und hat gezeigt, dass da weitaus mehr dahintersteckt als nur Spritztouren und Mädelsaufreißen, Schönheitswahn und Zickenkrieg. Olivia Wilde findet das auch. Und lässt die beiden College-Absolventinnen Molly und Amy so einiges über sich selbst und all die anderen erfahren, die längst nicht das sind, was sie all die Jahre hindurch vorgegeben haben zu sein.

Die Bedenken, die ich bei Filmen wie diesen habe, nämlich, dass sie sich als ordinäres Spaßkino auf Kosten diverser Pennälerklischees entpuppen, ist bei Booksmart so ziemlich unbegründet. Die Zuneigung, die Olivia Wilde ihren jungen Alltagsheldinnen entgegenbringt, macht fehlenden Respekt unmöglich. Beanie Feldstein und Kaitlyn Dever danken es ihr, indem sie aufspielen, als gäbe es kein Morgen mehr. Oder zumindest keine Schule. Was dieser augenzwinkernde Abgesang auf einen längst in seiner Routine liebgewonnenen Lebensabschnitt bereithält, ist das Umtriebige einer Nacht, ein feuchtfröhliches Roadmovie durch jugendliche Feierlichkeiten zwischen Luxusjacht und Gefängnis, doch alles soweit geerdet, dass es zwar klassisch amerikanisch und durchaus schrill einhergeht, dabei aber nie den Tag nach dem Abfeiern aus den Augen verliert. Denn das ist es, was alle hier bewegt, vom Mädchenschwarm bis zum Mauerblümchen: der Morgen nach der Schule, der erste Schritt in eine Zukunft, die mit Selbstbestimmung  frohlockt, aber auch die Obhut der Eltern entzieht. Die eine geht für ein Jahr nach Botswana, die andere nach Yale, und ganz andere versuchen sich im Sport. Dabei wird klar, dass diese Nacht, die hier so liebevoll gezeichnet wird, sämtliche Masken fallen lässt. Was zum Vorschein kommt, ist Neugier, Angst, Unsicherheit und der Versuch, ein jahrelang penibel zugelegtes Image auf Null herunterzusetzen, um sich und die anderen neu kennenzulernen. Oder selbst anders gesehen zu werden. In dieser Nacht haben alle, so unterschiedlich sie auch sein mögen, nämlich genau das gemeinsam: eine ungewisse Zukunft, die alle Absolventen neu definieren wird.

Booksmart ist kein sonderlich origineller Wurf, nichts unerwartet Neues. Dafür aber unerwartet bodenständig, wortgewandt und witzig. Ein wohlgesampelter Soundtrack mit fetten Beats pusht so richtig die Lust, einen draufzumachen. Wobei Humor hier nicht zum Selbstzweck verkommt. sondern aus den unerwarteten Situationen resultiert, in denen sich zwei Streberinnen wiederfinden, die dem Trugschluss erliegen, womöglich vieles verpasst zu haben. Beanie Feldstein agiert dabei unglaublich sympathisch und entwickelt einen dermaßen kumpelhaften Ehrgeiz, dem ich mich nicht entziehen kann. Partymachen muss also nicht zwingend etwas sein, das den nächsten Morgen in verschämter Katerstimmung und hinter dicken Sonnenbrillen durchbeißt, sondern kann auch wie das Nachsitzen bei John Hughes zu interessanten Erkenntnissen führen. Solche über verkannte Mitmenschen, Freundschaft oder über das Leben selbst, dem man sich irgendwann stellen muss.

Booksmart

Ein griechischer Sommer

FERIEN WIE DAMALS

6/10

 

Ein griechischer Sommer© 2012 obs/ZDF/LAURENT THURIN NAL

 

ORIGINALTITEL: NICOSTRATOS LE PÉLICAN

LAND: FRANKREICH, GRIECHENLAND 2012

REGIE: OLIVIER HORLAIT

CAST: EMIR KUSTURICA, THIBAULT LE GUELLEC, JADE-ROSE PARKER, FRANÇOIS-XAVIER DEMAISON U. A.

 

Die Ferien sind vorüber, die Schule hat begonnen. Kann sein, dass der sogenannte Altweibersommer zurückkehrt. Der erinnert dann noch mal an die schönen Stunden, die der mittjährliche Urlaub so mit sich brachte, abgesehen vom An- und Abreisestress, vom Ein- und Auspacken und vom Waschen der ganzen Urlaubswäsche. Aber das gehört schließlich dazu. Man würde es vermissen, hätte man nicht alle Hände voll zu tun, um durchschnittlich zwei Wochen irgendwo anders abzuhängen, ob in den Bergen oder am Meer, stets in Reichweite diverser mobiler Endgeräte. Dabei kann natürlich sein, dass, war man in den Bergen, in Balkonien oder im eigenen Land, das Meer immer noch Fokus diverser Sehnsüchte bleibt, so richtig Marke STS und im Sinne von Irgendwann bleib I dann dort, mit den Füßen im weißen Sand, eine Bottle Rotwein in der Hand und so weiter. Austropop-Kenner wissen, was ich meine, kaum ein Lied nährt mehr den Traum, auszusteigen als dieses. Bevor der Herbstalltag also einem Damoklesschwert gleich über uns hereinbricht, ließe sich unter Umständen mit vorliegendem Film der Sommer zumindest in den eigenen vier Wänden noch etwas hinauszögern. Ein griechischer Sommer ist genau das, was der Film beschreibt – eine strahlend schöne Jahreszeit irgendwo in der Ägäis, auf einer kleinen, unbekannten Insel voller pittoresker Küsten und verführerischen Lagunen, versteckt hinter strahlend blauem Meer.

Allerdings geht’s in dem französisch-griechischen Coming-of-Age-Filmchen weniger ums Urlaubmachen und Aussteigen, sondern um einen Vogel. Genauer gesagt um einen Pelikan, und der ins Deutsche übersetzte Titel Ein griechischer Sommer verbirgt im Gegensatz zum Originaltitel, was dahintersteckt. Diesen Pelikan, den findet der Halbwaise Yannis, der mit seinem griesgrämigen Fischervater irgendwo in einem einsamen Häuschen an der Küste lebt, bei einem Matrosen an Bord eines Frachtkahns. Allerdings ist der da noch ein kieliger Jungvogel – im Austausch gegen das Erbstück seiner Mutter kann er diesen aber freikaufen. Der Vater, der weiß natürlich nichts davon. Gut versteckt zieht Yannis den Vogel auf – bis die ganze Insel von der ornithologischen Sensation Wind bekommt.

Überraschend an diesem mediterranen Jugendfilm ist der Auftritt Emir Kusturicas. Der serbische Cannes-Gewinner und Autorenfilmer so schrill-schräger Kunststücke wie Underground oder Time of the Gypsies ist, wie ich zuletzt in On the Milky Road feststellen musste, alles andere als ein guter Schauspieler. In Ein griechischer Sommer schlägt er sich so halbwegs brauchbar mit seiner Rolle herum, sein verzotteltes Aussehen sorgt für mildernde Umstände. Was sonst noch zu sehen ist, passt auf eine Freilichtbühne neben obligatorischem Ausschank, wo es logischerweise auch Ouzo geben sollte. Denn so klischeehaft, wie das kleine Hafenstädtchen und seine aus der Zeit gefallenen Bürger, so kauzig ist das Ganze auch – erst vor einigen Jahren hat sich Christoph Maria Herbst in Highway to Hellas per Esel durch den mediterranen Karst geschleppt. Ähnlich geht es auch hier zu. Außer Fische fangen, dem Ausschenken von Rebensaft und dem Improvisieren mit dem wenigen, was da ist, bleibt nur noch, aufs Meer zu schauen und nichts zu tun. Und auch nichts zu erwarten. Wären da nicht die beiden Teenies Yannis, wie schon eingangs erwähnt, und Angeliki, dem Mädel vom Festland, Nichte des einzigen Barbesitzers der Insel und bald dicke Freundin des frisch gebackenen Vogelvaters. War das Tier anfangs noch eigenartig mechatronisch, ist es als adultes Federvieh ein tatsächlich dressiertes Unikum. Und wäre der Pelikan nicht, wäre der Film ein relativ belangloser Zwischenstopp in den blauweißen Farben von Griechenland, der wenig aufgeweckte Jugenderinnerungen hervorholt. Diese wiederum erinnern an einen ganz anderen Film, nämlich an Wie Brüder im Wind, in welchem ein Junge, der ebenfalls alleine mit seinem griesgrämigen Vater im unwirtlichen Gebirge haust, ein Adlerjunges findet – und großzieht. Im Grunde ist das die gleiche narrative Basis, nur mit weniger Personal. In Ein griechischer Sommer nimmt man die Metapher des Flüggewerdens allerdings leichter, humorvoller, weniger grüblerischer, aber auch leicht hysterischer. Das ist angenehm anders, und somit irgendwie noch eine kleine, filmische Auszeit vor dem Alltag.

Ein griechischer Sommer