Mother’s Baby (2025)

DA IST WAS FAUL IM WINDELSTAAT

7/10


© 2025 Freibeuter Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND 2025

REGIE: JOHANNA MODER

DREHBUCH: ARNE KOHLWEYER, JOHANNA MODER

KAMERA: ROBERT OBERRAINER

CAST: MARIE LEUENBERGER, HANS LÖW, CLAES BANG, JULIA FRANZ RICHTER, JUDITH ALTENBERGER, CAROLINE FRANK, NINA FOG, JULIA KOCH, MONA KOSPACH U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Es schreit nicht, es weint nicht, es schläft so still, dass Mutter meinen könnte, der Allmächtige hätte es zu sich genommen: Babys, zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Eltern, die, auf das Schlimmste in der frühen Kindschaft vorbereitet, plötzlich völlig entstresst gar eine Verschwörung vermuten. So könnte man Johanne Moders neuen Film synoptisch übers Knie brechen, der sich vom revolutionsmüden Hipster-Parship aus Waren einmal Revoluzzer verabschiedet hat, um mit dem Genrekino anzudocken. Ganz so wie Andreas Prochaska, der diesjährig mit Welcome Home Baby ganz ähnlich, und doch wieder ganz anders, die Themen der Mutterschaft in einen dörflichen Albtraum verpackt. Das österreichische Horrorkino pulsiert mit diesen beiden Filmen durch den Kino-Herbst, wobei Johanna Moder deutlich weniger ihr Heil im Nachinterpretieren bereits etablierter Versatzstücke sucht. Mother’s Baby will sich bewusst nicht zu blankem Horror bekennen – Verdacht, Paranoia und eine postnatal belastete Psyche sind die Hauptingredienzien für einen Suspense voller Indizien, in dem Marie Leuenberger (Verbrannte Erde, und eben auch mit Stiller im Kino) zwischen ratloser Jungmutter und mutiger Hobby-Detektivin in eigener Sache den gesamten Film auf ihren Blickwinkel reduziert. Das macht uns, ob wir wollen oder nicht, zu Verbündeten, und auch wenn wir uns wundern, was Jungmutter Julia alles vermutet – wir können diesem zusammenfabulierten Netz nur schwer entschlüpfen, schon gar nicht, wenn sich die ganze Welt gegen ein einziges Individuum stellt, dem, wie Kassandra aus der Antike, niemand Glauben schenkt. Auszuhalten ist das nicht – dieser Zustand, allein mit der möglichen Wahrheit.

Das Rundum-Sorglos-Baby

Leuenbergers Figur der misstrauischen Mutter ist jedoch keine gebrochene, kümmerliche, vulnerable Seele ohne Resilienz, sondern ihr eigener Fels in der Brandung, wenn schon Gatte Hans Löw nichts von Julias Verdächtigungen wissen will. Diese fußen aber alle auf klar erkennbaren, seltsamen Verhaltensmustern, die Gynäkologe Claes Bang (genial als Dracula in der zweiteiligen Bram Stoker-Interpretation auf Netflix) und Hebamme Gerlinde an den Tag legen. Als Gerlinde ist hier Julia Franz Richter zu sehen, die in Welcome Home Baby ihrerseits eine werdende Mutter verkörpert, die ähnlich wie Mia Farrow in Rosemary’s Baby wie die Jungfrau zum Kind kommt.

Denn zu Beginn, da ist alles noch froher Erwartung, als Dr. Vilfort seiner Patientin verspricht, das es mit dem Mutterglück diesmal auch wirklich klappen wird. Als es dann nach neun Monaten endlich soweit ist, und die Geburt schwieriger wird als gedacht, entschwindet das Baby ganz plötzlich in den Armen des Arztes dem Blickfeld seiner Mutter – bis auf weiteres. Frühgeburt, Atemnot, Sauerstoffgehalt, all das hört Julia sehr viel später als Begründung. Daheim dann sind die Auffälligkeiten, was das Kind selbst betrifft, unübersehbar. Es ist, als würde sich der Spross den Bedürfnissen der Erwachsenen anpassen, wie eingangs erwähnt tut er all das, um den Eltern eben nicht die schwierigste Zeit des Familienlebens zu bescheren – sondern verhält sich unerwartet geräusch- und bedürfnislos. In Julia keimt der Verdacht, dass hier irgendetwas nicht stimmt, dass das Baby vielleicht gar nicht das ihre ist? Die aufdringliche Hebamme und die Sache mit dem Axolotl als ideales Haustier bestärken nur den Horror im Kopf der Mutter, die dann, auf sich allein gestellt, Ermittlungen auf eigene Faust anstellt.

Verdacht alleine hält lange vor

Mother’s Baby ist wohldosierte Mystery, die lange in der Schwebe bleibt, dabei aber nicht schwurbelt oder ich in unheilvollem Indiziensalat verliert wie Andreas Prochaska in seinem Folk-Grusel. Das Unheimliche hier ist wohl eher schleichende Skepsis und Argwohn, Moder spielt mit der Sorge der Vernachlässigung, der Wucht der Verantwortung und der maternalen Identität. Übertragen wird das Ganze aber nicht, so wie in Die My Love probiert und gescheitert, auf die innere Psyche der Mutterfigur, sondern hinterfragt als bröckelnde Rundumwahrnehmung die Sicht auf die Welt und deren Werte nach einem Paradigmenwechsel, den jede werdende Familie erlebt. Moder hätte beim Psycho- und Gesellschaftsdrama bleiben können, doch die Lust am Kleinkind-Horror, den es nicht erst seit Das Omen gibt, ist einfach zu groß, um nicht darin wühlen zu wollen. So bleibt Mother’s Baby stets greifbar und bodenständig, bürdet sich auch nicht zu viel auf, sondern setzt seinen perfiden, leisen Albtraum als zielorientierte Kritik auf eine Optimierungsgesellschaft in Szene, die vor nichts mehr zurückschreckt.

Mother’s Baby (2025)

Die My Love (2025)

JENNIFER LAWRENCE STECKT FEST

5/10


© 2025 MUBI / Polyfilm


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2025

REGIE: LYNNE RAMSAY

DREHBUCH: LYNNE RAMSAY, ALICE BIRCH, ENDA WALSH, NACH EINEM ROMAN VON ARIANA HARWICZ

KAMERA: SEAMUS MCGARVEY

CAST: JENNIFER LAWRENCE, ROBERT PATTINSON, LAKEITH STANFIELD, SISSY SPACEK, NICK NOLTE, SARAH LIND, GABRIELLE ROSE, VICTOR ZINCK JR., DEBS HOWARD U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Laut dem Portal gesundheit.gv.at äußern sich die Anzeichen für eine postnatale Depression wie folgt so: Andauernde getrübte Stimmung, Ängste, Schlafstörungen, Störungen der Konzentration, Grübeln, Zweifel am Selbstwert und Verlust von Interessen. Letzteres Symptom ist bei Jennifer Lawrence ganz stark ausgeprägt: Die junge Mutter, die mit dem neugeborenen Sohn und ihrem Ehemann ins leerstehende Haus von dessen Onkel zieht, der sich, wie sich später herausstellt, mit der Schrotflinte umgebracht haben soll, findet sich in Lynne Ramsays neuestem Film in einem festgefahrenen Zustand wieder, der mit der Überdrüssigkeit gleichgesetzt werden kann, nicht schon wieder all die Stereotypen einer kinderpflegenden Hausfrau zu übernehmen, die nur darauf wartet, dass der geldverdienende männliche Part endlich heimkommt, um dann in die bereits bereitgestellten Hauspantoffeln zu schlüpfen, die ihn geradewegs an den Mittagstisch bringen, wo das mit Liebe zubereitete Essen auf die Minute genau vor sich hindampft.

Wenn Rollenbilder langweilen

Grace, diese zutiefst gelangweilte Mutter, will das nicht. Es kotzt sie an, es quält sie Tag für Tag, es unterfordert sie, ihren geliebten Sohn, dem sie für all das nicht die Schuld gibt, im natürlichen Rhythmus der Monotonie beim Heranwachsen Gesellschaft zu leisten. So was machen Mütter eben? Mittlerweile längst nicht mehr. Doch Robert Pattinson kommt nicht auf die Idee, diese Rollenbilder neu abzuwägen, obwohl er ganz genau weiß, dass Grace sehr wohl Ambitionen hat, als Schriftstellerin Karriere zu machen. In diesem ländlichen Amerika bringt die Verweigerung eines solchen Umdenkens vielleicht eine Art Rosenkrieg. Letztes Jahr auf der Viennale lief ein ähnlicher Film, weitaus komödiantischer, der sich mit den verteilten Rollen innerhalb eines familiären Mikrokosmos auf phantastische Weise auseinandersetzt: Nightbitch. Während Amy Adams den Determinismus der Mutterfigur auf archaische Weise hinterfragt, will Jennifer Lawrence einfach nur dieser Stasis entkommen.

Auf der Stelle rotieren

Doch Jennifer Lawrence steckt fest. Weil Lynne Ramsay feststeckt. Die My Love, basierend auf dem schwarzhumorigen Roman Mátate, amor der Argentinierin Ariana Harwicz, will Lawrence spielfilmlang die Möglichkeit geben, in mannigfaltiger Ausdrucksweise Symptome der Langeweile und der Antriebslosigkeit darzustellen. Da fällt ihr vieles ein – was man eben so tut, wenn man sich zu nichts überwinden kann, wir kennen so einen Zustand zumindest temporär und ohne klinischer Diagnose mehr als gut. Da gibt es Tage, da hat man zu gar nichts Lust. Jennifer Lawrence hat das zwei Stunden lang. Vorzugsweise kriecht sie dabei wie ein Tier auf allen Vieren durchs kniehose Gras vor dem Haus. Depressiv wirkt sie dabei nicht, eher auf pauschalisierte Weise durchgeknallt, was nun weniger ein Krankheitsbild darstellt als die Möglichkeit, ungehemmt zu schauspielern. Wonach genau sie sich dabei orientiert? Ihre Rolle gibt keine Richtung vor, nur den Unwillen für alles, den Willen des Ausbruchs überspielend. Robert Pattinson ist die ganze Zeit zwar auch zugegen und gleichzeitig aber auffallend abwesend, als hätte er gegen das exaltierte Spiel seiner Schauspielkollegin sowieso keine Chance.

Rockstar der Psychose

Das sieht auch Ramsey so und interessiert sich kaum für alles Periphere in diesem Psychogramm des Stillstands, das lediglich eine Ausgangssituation für etwas beschreibt, was die ganze Zeit nicht kommt. Immer und immer wieder das gleiche, immer und immer wieder die indisponierte Jennifer Lawrence zwischen kindlicher Überdrehtheit und an den Wänden hochgehender Fadesse, stets auf eine Weise angekündigt, die den großen, abgründigen, gespenstischen Psychothriller verspricht, und dann aber nur Zaungast der ersten Reihe die rockstarähnliche Aufbäumung einer Psyche anhimmelt, die in einer saftigen Krise steckt. Mehr wird das Ganze nicht, und irgendwann ist nicht nur Jennifer Lawrence langweilig, sondern auch mir, dem Zuseher, der hinter all der Verhaltensauffälligkeit einen hohlen Kern vermutet.

Filmische Psychogramme, die Krankheitsbilder geschickt in einen Thriller verpacken, mögen mitunter gelingen, so wie Roman Polanskis nihilistisches Paranoia-Drama Ekel mit Catherine Deneuve, die auf eine Weise dem Wahnsinn verfällt, da läuft es einem kalt den Rücken runter. Suspense trifft auf Psychose – den Suspense lässt Die My Love nicht durch die Tür.

Die My Love (2025)

Echo Valley (2025)

DIE MAMA WIRD’S SCHON RICHTEN

5,5/10


© 2025 Apple TV+


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE: MICHAEL PEARCE

DREHBUCH: BRAD INGELSBY

CAST: JULIANNE MOORE, SYDNEY SWEENEY, DOMNHALL GLEESON, FIONA SHAW, KYLE MACLACHLAN, REBECCA CRESKOFF, AUDREY GRACE MARSHALL U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Flap Flap Flap – da rattert der elterliche Helikopter und umkreist seinen Nachwuchs, von welchem er glaubt, ihn überwachen zu müssen, damit ihm nichts passiert. Das wäre die eine Extreme, für die man Erwachsene gerne schütteln würde, um sie zur Besinnung zu bringen. Das andere Extrem ist, wenn die Großen den Kleinen nichts zutrauen. Wenn man als Vater oder Mutter andauernd die Pflicht verspürt, dem Kind jedwede Verantwortung abzunehmen, völlig entgegengesetzt dem Montessori-Leitsatz: Hilf mir, es selbst zu tun. Wäre Julianne Moore als fest im Sattel sitzende Muttergottes nicht so völlig davon überzeugt gewesen, dass ihre Tochter sich niemals selbst aus der Misere ziehen könnte, die man Leben nennt, wäre ein Film wieder dieser gar nicht erst entstanden. Echo Valley schiebt uns eine Prämisse unters Gesäß, die sauer aufstößt, weil Moore in ihrer Mutterrolle völlig versagt. Und das nicht, weil sie nichts für ihr Kind tun würde, sondern eben weil sie alles tut. Viel zu viel, aus manischer Fürsorge und mangelndem Zutrauen. Die Konsequenz ist ein verkorkstes jugendliches Leben, eine Drogensucht und eine fiese Instrumentalisierung der eigenen Eltern oder eben nur der Mutter, denn der Vater – Kyle McLachlan – schert sich einen Dreck. Auch er hat jeden Glauben an seine Tochter verloren, und ja, das rächt sich irgendwann.

Während Mutter Kate, so Moores Rolle, in trauter Einsamkeit ihre Pferdekoppel namens Echo Valley betreibt und mehr halbherzig als enthusiastisch Teenagermädels das Reiten beibringt, überkommt Tochter Claire wiedermal der Drang, daheim vorbeizusehen. Es braucht nicht lang und der Besuch eskaliert, Claire macht einen auf hysterisch und dampft ab – nur, um nach kurzer Zeit wiederzukommen, weil sie Mist gebaut hat, und Mama, davon geht sie mal aus, es richten wird, egal wie herausfordernd das Problem auch sein mag. Zugegeben, es ist ein durchaus ernstes, schließlich liegt ein Toter auf der Rückbank ihres Wagens, der grimmige Ausgang eine Drogengeschichte. Prinzipiell würde man als Erwachsener darüber nachdenken, nicht doch die Polizei zu alarmieren, denn nichts ist erzieherisch wertvoller, als den Kindern beizubringen, für ihre Fehler geradezustehen. Doch die Amis haben es nicht so mit der Exekutive, das wissen wir aus vielen Filmen. Keine Ahnung, was für ein schreckliches Schicksal sie dabei erwarten könnte, vermutlich fahrlässige Tötung oder eben Totschlag, noch dazu ist Papa Anwalt, der sicherlich einen Deal aushandeln könnte. So denke ich mir, während der Noch-Nicht-Thriller so dahinplätschert und Julianne Moore natürlich in ihrem mütterlichen Ehrgeiz, weil Tochter nichts auf die Reihe bekommt, das Falsche tut. Richtig ungemütlich wird es dann, wenn Domnhall Gleeson (endlich wieder gut) als schmieriger Drogendealer den Bildschirm verschönert – und ein Spiel um Schein und Sein einläutet, während das Mutter-Tochter-Drama in der Versenkung verschwindet.

Michael Pearce, der eine ausgezeichnete Arbeit mit seiner Psychothriller-Romanze Beast vorgelegt hat, lässt sich diesmal von einem durchwachsenen Krimiplot höchstselbst um den Finger wickeln. Die zweite Hälfte des direkt auf Apple TV+ erschienenen Star-Vehikels konstruiert auf Teufel komm raus ein falsche Fährten legendes Psychoduell, das eine Mutterfigur als Macherin mit harter Haut auf die eine Seite des Rings stellt, ihr gegenüber Blondschopf Gleeson. Dass der Plot eine unerwartete Wendung macht und ganz andere Ziele ansteuert, ist beim Film erfrischend willkommen, und dennoch fragt man sich inständig, ob dieser umständliche Handlungsbogen auch wirklich seine Mühe wert war. Im Hinterkopf bleibt immer noch Plan A, die richtige Entscheidung der Mutter. Andererseits: Auf diese Weise wird Moore zum „tapferen Schneiderlein“, das auf unberechenbar geistesblitzende Weise mehrere Fliegen mit einer Klappe erschlägt.

Echo Valley (2025)

Blitz (2024)

IM SCHUTZ DER MUTTER

5/10


Blitz© 2024 Apple TV+


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: STEVE MCQUEEN

CAST: SAOIRSE RONAN, ELLIOTT HEFFERNAN, HARRIS DICKINSON, BENJAMIN CLEMENTINE, KATHY BURKE, PAUL WELLER, STEPHEN GRAHAM, LEIGH GILL, ALEX JENNINGS U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN 


Eben erst kann Saoirse Ronan im Alkoholiker- und Neuanfangsdrama The Outrun das Kinopublikum davon überzeugen, wie sehr ihre schauspielerischen Fähigkeiten durch die emphatische Vorgehensweise einer klugen Regie (in diesem Fall durch Nora Fingscheidt) ausgeschöpft werden können. Kann sein, dass hier zumindest eine Nominierung für welchen Preis auch immer winkt. Zeitgleich können Abonnenten auf der Streaming-Plattform des Apfel-Konzerns einem Jugendfilm folgen, der die unverwechselbare Irin ebenfalls auf seiner Casting-Liste weiß. Und niemand geringerer als Steve McQueen führt Regie, von welchem wir eine ganze Reihe unbequemer Filme gewohnt sind, darunter 12 Years A Slave. Das Sklavendrama, ich erinnere mich noch gut, spart dabei nicht mit Szenen, die lange im Gedächtnis bleiben. Elf Jahre später und nach dem Unterwelt-Thriller Widows aus dem Jahr 2018 begibt sich der Afroamerikaner auf Augenhöhe eines neunjährigen Jungen, der während des Zweiten Weltkriegs und der Phase des von den Deutschen initiierten Blitzkrieges von Mama getrennt werden soll, um irgendwo am Land zum eigenen Schutz einer temporären Pflegefamilie zugeteilt zu werden. Schweren Herzens muss Saoirse Ronan als ebendiese Bezugsperson des kleinen George eine emotional belastende Entscheidung treffen, denn hier im London des Jahres 1940/41 ist niemand mehr sicher, der nicht rechtzeitig nach Ertönen der Alarmsirenen in einem bombensicheren Keller Zuflucht finden kann. Klar wird: Diese Sicherheitszonen sind rar, oftmals dient nur die Untergrundbahn als Notlösung. Nichts für einen Jungen wie George. Als dieser, enttäuscht von seiner Mutter und überhaupt enttäuscht vom jungen Leben, im Zug Richtung Unbekannt sitzt, überkommt ihn der Impuls, einfach auszusteigen. Das tut er dann auch, und schlägt sich von der Provinz aus wieder nach London durch, um zurück zu seiner Mum zu gelangen, denn nur dort, so meint er, ist der sicherste Platz auf Erden.

Was dem Buben dabei widerfährt, erinnert fast schon an das Schicksal eines Waisenjungen namens Oliver Twist, niedergeschrieben von Charles Dickens. Den Krieg aus der Sicht eines Kindes zu erzählen – diese Idee hatte schon John Boorman in seinem 1987 veröffentlichten Drama Hope & Glory – Der Krieg der Kinder. Dort schildert der Regiemeister die Erlebnisse eines Jungen namens Bill, der den Blitzkrieg als spektakuläres Abenteuer wahrnimmt. Kenneth Branagh nimmt in Belfast seine eigene Kindheit während des Nordirlandkonflikts in den Sechzigerjahren zum Thema – auch dort ist die Sicht eines jungen Menschen auf ein für ihn teils unerklärbares Katastrophenszenario die oberste einzuhaltende Konsequenz, um Politik und Geschichte erfrischend neu zu erfassen.

Blitz geht diese Konsequenz leider nicht ein. Anstatt sich auf den neunjährigen George zu konzentrieren, setzt McQueen auf zwei Perspektiven. Jene der Mutter und natürlich des Kindes. Was dabei passiert, ist eine kompromissvolle Gratwanderung zwischen konventioneller Erzählweise über die Rolle von Londons Bevölkerung während des Bombardements im Zweiten Weltkrieg und den mit Kinderaugen wahrgenommenen, traumatischen Ausnahmezuständen zwischen Verdunkelung und Trümmerlandschaft. Durch den zweigeteilten Fokus hat keine der beiden Geschichten wirklich die Chance, tiefen- und gesellschaftspsychologisch relevant zu werden. Ganz im Gegenteil. Saoirse Ronan hat niemals die Chance, ihre Rolle zu vertiefen, auch ihre Storyline bleibt halbherziges Fernsehdrama, gut ausgestattet, aber flach. Die Sicht des George hat gute Ansätze, verliert sich aber im bemühten Szenario eines klassischen Erlebnisromans mit nur wenig Experimentierfreude. Als ausgesprochen biederer Kriegsfilm bereichert Blitz sowohl dramaturgisch als auch emotional das Genre nur geringfügig.

Blitz (2024)

In Liebe, Eure Hilde (2024)

AUS LIEBE IM WIDERSTAND

6/10


in-liebe-eure-hilde© 2024 Pandora Film / Frederic Batier


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2024

REGIE: ANDREAS DRESEN

DREHBUCH: LAILA STIELER

CAST: LIV LISA FRIES, JOHANNES HEGEMANN, LISA WAGNER, ALEXANDER SCHEER, EMMA BADING, SINA MARTENS, LISA HRDINA, LENA URZENDOWSKY, NICO EHRENTEIT, FRITZI HABERLANDT, FLORIAN LUKAS U. A.

LÄNGE: 2 STD 4 MIN


Schluchzen, Tränen, Betroffenheit im Kinosaal. Emotionale, mitunter verstörte Missstimmung. Wohin mit den eigenen Emotionen nach einem Film wie diesem?

In Liebe, Eure Hilde von Andreas Dresen fordert und überfordert. Das biographische Drama als schwermütig zu bezeichnen, wäre fast schon banal. Schwer verdaulich trifft es eher, nur: Schwer verdaulich muss auch nicht zwingend bedeuten, dass sich dahinter ein guter Film versteckt. Die Schwere eines Films liegt dabei weniger an den Themen. Es lassen sich diese auch ganz anders erzählen, ohne dabei die Relevanz zu verlieren. Einen Film über den Holocaust zu erzählen in Form einer Tragikomödie wie Das Leben ist schön, mag ein innovativer Ansatz gewesen sein. Sexueller Missbrauch und Demenz im Doppelpack zu bearbeiten, ohne dabei das Publikum danach zum Therapeuten schicken zu müssen, mag Michel Franco in Memory gelungen sein. Andreas Dresen nimmt sich nach Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush erneut einer True Story an, gebettet in den biographischen Auszug über eine historische Person. Sein neuer Film handelt vom Schicksal der Widerstandskämpferin Hilde Coppi, die im August 1943 wegen Hochverrats und Spionage hingerichtet wurde. Dieser Fall erinnert unweigerlich an Sophie Scholl. Marc Rothemund hat im Jahr 2005 der weißen Rose ein erschütterndes und stark auf ihr Tun und Wirken fokussiertes Denkmal gesetzt, Julia Jentsch absolvierte dabei wohl eine ihrer besten Acts. Nun folgt ihr Liv Lisa Fries, bekannt aus der fulminanten zeitgeschichtlichen Krimiserie Babylon Berlin, und erhält dabei von Andreas Dresen reichlich Spielzeit, um jene noch so erdenkliche Emotion, die eine junge Frau mit diesen Ambitionen zu dieser Zeit und unter diesen Umständen gehabt haben kann, in ihre Rolle zu legen. Niemals ist das zu dick aufgetragen, denn Fries legt in all ihren Auftritten stets eine grundlegende Natürlichkeit an den Tag, die kein Regisseur der Welt ihr austreiben kann. Mit diesem schauspielerischen As im Ärmel hätte In Liebe, Eure Hilde ein wegweisendes Politdrama werden können. Doch Dresen hatte etwas andere im Sinn: Das Tun und Wirken Hilde Coppis außen vorzulassen und stattdessen den Menschen dahinter zu präsentieren. Leider ein Trugschluss. Denn Menschen wie Coppi definieren sich vorallem durch ihre Ideale, ihre Ideen und hehren Ziele. Dresen macht aus dieser historischen Person etwas, womit diese, würde sie den Film sehen, vielleicht selbst nicht glücklich gewesen wäre.

Was bleibt, ist die Rolle der Frau als bedingungslos Liebende, als fürsorgliche Mutter und hinnehmende Ehefrau. Wieviel davon ist tatsächlich so gewesen? Ihr Sohn Hans Coppi, der am Ende des Filmes dann auch noch zu Wort kommt, kann darüber keinen Aufschluss geben. Briefe aus dem Gefängnis allerdings schon. Drehbuchautorin Laila Stieler ersinnt daraus eine viel zu bescheidene Betrachtung einer austauschbaren, universellen Frauenrolle, die, so wie es scheint, in den Widerstand hineingerutscht zu sein scheint, unreflektiert und aus bedingungsloser Liebe im Rollenbild der Vierziger. Fast schon erscheint diese Prämisse seltsam trivial, um es sich leisten zu können, den Aspekt des Widerstandes nur peripher zu behandeln. Dieses Periphere betrifft allerdings auch all die anderen Personen, die Hilde umgeben. Sie bleiben schemenhaft und grob umrissen, Johannes Hegemann gibt Hans Coppi auffallend wenig Charakter, geschweige denn Charisma. All das wird von Liv Lisa Fries überblendet, die den Film so schmerzlich macht.

Der dargestellte Schmerz aber ist das nächste Problem nebst dem verpeilten Fokus, den Dresen gesetzt hat: Sein Hinhalten genau dorthin, wo es wehtut, mag dem Film Authentizität geben und das Publikum auch die Chance geben, allerhand nachzuspüren, was man nicht erleben will. Die Zuseher müssen sensibilisiert werden. Des Öfteren jedoch ertappt sich Dresen dabei, dieses Schmerzempfinden zum Selbstzweck werden zu lassen. Ob minutenlanges Wehen-Management bei der Geburt des kleinen Hans oder die Hinrichtung selbst: Für In Liebe, Eure Hilde hat das kaum einen Nutzen. Es sei denn, die Qualität eines Films misst sich an seiner Schwere.

In Liebe, Eure Hilde (2024)

Parallele Mütter

DIE BUNTE WELT VERLORENER WAHRHEITEN

6/10


parallelemuetter© 2022 Studiocanal GmbH


LAND / JAHR: SPANIEN 2021

BUCH / REGIE: PEDRO ALMODÓVAR

CAST: PENÉLOPE CRUZ, MILENA SMIT, ISRAEL ELEJALDE, AITANA SÁNCHEZ-GIJÓN, JULIETA SERRANO, ROSSY DE PALMA U. A.

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Als ich zum ersten Mal den Trailer sah, war mir nach nur wenigen Szenen klar, wer hier wieder seinen neuen Film bewirbt: Niemand geringerer als Spaniens Kino-Aushängeschild Pedro Almodóvar – oder eben nur Almodóvar, wie sich in den Opening Credits lesen lässt, die von Alberto Iglesias‘ strengem, spanisch kolorierten Streicher-Score unterlegt sind. Interieur, Mode und Objekte, darunter Keramiken, mit Obst beladen: all die wohlkomponierten Innenraumtableaus teilen sich ein eng gefasstes Farbspektrum, bewusst komplementär. Eine neokubistische Verliebtheit, die der Spanier hier wählt, und vor all dem zweifelnd, leidend und in einer inszenatorischen Geborgenheit ruhend: Penélope Cruz, Haus- und Hofschauspielerin, wenn es gilt, wieder mal Almodóvars familiäre Geheimnisse zu lüften oder zu verarbeiten. In Parallele Mütter begnügt sich der Meister längt nicht nur damit, den geschlossenen Kreis geordneter familiärer Bahnen zu durchbrechen. Diesmal sind auch der Ort und die Zeit etwas, die in den Auseinandersetzungen mit der Wahrheit berücksichtigt werden müssen.

Die Wahrheit – worauf bezieht sie sich diesmal? Auf die dunkle und oft verdrängte Geschichte Spaniens, auf die Wirren unter Diktator Franco und dem Verschwinden unzähliger vermeintlich Oppositioneller, die dem Machtapparat – wie ich auch überall sonst (siehe Russland) – unangenehm aufgefallen waren. Der Großvater von Janis (eben Penélope Cruz) war jedenfalls einer, der das Unglück hatte, exekutiert und in einem Massengrab verscharrt worden zu sein. Dieses scheint im Spanien der Gegenwart endlich gefunden, und darum bittet Janis einen Anthropologen, die Sache ins Rollen zu bringen, damit die Familie ihre Toten ordentlich bestatten kann. Mit diesem Anthropologen landet Janis aber bald im Bett – und siehe da, neun Monate später kreischt das Neugeborene durch die Geburtenstation. Zu selben Zeit und am selben Ort liegt aber noch eine andere in den Wehen – ein Teenie namens Ana, der gar nicht weiß wer der Vater ist. Janis hingegen schon, doch der, den es angeht, bezweifelt das. Vielleicht, weil das Baby so gar nicht danach aussieht, als wäre es das eigene Fleisch und Blut.

Da sind sie wieder, die Geheimnisse und möglichen verborgenen Wahrheiten, welche Penélope Cruz und die einnehmende Newcomerin Milena Smit erst ergründen müssen – genauso wie die Geschichte des eigenen Landes, die laut Almodóvar gerne unter den Teppich gekehrt wird. In Parallele Mütter versucht dieser, mit einem eigentlich recht routinierten, für ihn absolut typischen Konzept so etwas wie ein Gleichnis zu erzeugen, das die nachhaltig historische Komponente des Filmes in seiner Grundkonstellation aufgreifen soll. Der Brückenschlag zu zwei sehr unterschiedlichen Filmteilen müsste so gesehen gelingen – tut es aber nur bedingt. Der Spagat ist recht bemüht, die „parallelen“ Emotionen, die sowohl das Kindesmysterium als auch das Graben in die Vergangenheit auslösen sollen, lassen sich zwar erkennen, versickern aber immer wieder in einem durchaus eloquenten Schauspielkino, kurz nachdem sie sich offenbart haben.

Das soll nicht heißen, der Filmemacher hätte sein Handwerk verlernt – das Drama ist auf Zug inszeniert und keinesfalls langatmig. Mitunter hat man gar das Gefühl, einer Dauerwerbesendung beizuwohnen, da Almodóvar durch das Einblenden von Baby-, Auto- und Kameramarken scheinbar sein ganzes Projekt finanziert hat. Zwischen all dem wenig dezenten Product Placement gibt Milena Smit, sofern man sich auf sie konzentrieren kann, einer solide aufspielenden Cruz nicht wirklich eine Chance, den darstellerischen Schwerpunkt zu verteidigen. Beide zusammen aber harmonisieren – was sich für den Film als Ganzes nur zögerlich unterschreiben lässt.

Parallele Mütter

Rot

EIN KNUDDEL IM ZWINGER

7,5/10


rot© 2021 Disney/Pixar. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: DOMEE SHI

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): ROSALIE CHIANG, SANDRA OH, AVA MORSE, HYEIN PARK, MAITREYI RAMAKRISHNAN, ORION LEE, WAI CHING HO U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Ein Kind soll Kind sein dürfen. In der elterlichen Obhut gibt’s anfangs sowieso wenig ernsthaften Spielraum, um aus der Rolle zu fallen. Der Anbruch des Teenageralters ändert dann aber so einiges. Die Obhut wird lästig, die Erziehungsnormen zum Gähnen – das Entdecken der eigenen Skills, der eigenen Gefühle und der eigenen Vorlieben lässt Erziehungsberechtigte lieber in der Ecke stehen – ein zugewiesenes Plätzchen, das selbige im Grunde wahrnehmen sollten, aus Liebe zum Nachwuchs. Rat und Beistand on demand gibt’s dafür rund um die Uhr. In so manchen Kinderstuben ist so ein Ansatz nicht mal Grund zur Diskussion, wenn Traditionen und Dogmen die Freiheit rauben, ob religiös motiviert oder einfach nur vererbtes Zeremoniell. Disney hat beim Thema Coming of Age – wie das Subgenre rund um heranreifende Teenies in Kultur und Medien genannt wird – momentan einen Narren gefressen. Erst zu Weihnachten sind der mit nonkonformistischen Verhaltensweisen gesegneten Mirabel aus Encanto die vererbten Wunderkräfte alles andere als in den Schoß gelegt worden. Ihre Rolle in der Welt hat sich die Gute erst erarbeiten müssen – singend und tanzend und die klappernde Villa Madrigal erforschend. Vor den Wurzeln aller Probleme – der Erziehung – macht Disney keinen großen Bogen mehr. Konflikte in der Familie gehören ausgetragen. Es ziemt sich nicht mehr, den Psychoschmarrn der Eltern mitzutragen. Neudefinition ist die Devise, ohne hilfesuchend zurückzublicken.

In einer ähnlichen Dysfunktionalität, die nach außen hin perfekten Frohsinn versprüht, bohrt auch der neue Pixar-Streifen Rot herum. Wie in Encanto fungiert auch hier, im Toronto des 21. Jahrhunderts, ein aus der Zeit gefallenes Matriarchat als Hemmschuh für einen befreiten, selbstbestimmten Lebensentwurf. Disney folgt dabei einem streng erdachten und trendeigenen Vokabular aus Minderheiten- und Frauen-Quote, das durch seine Dominanz alles Männliche zur kleinlauten Randfigur schrumpft. Mal sehen, wie lange noch diese Schräglage mit politischer Korrektheit begründet werden kann, doch momentan will der Mauskonzern mehr als nur alles richtig machen.

In diesem Fall ist Mei Lee ein Mädchen mit asiatischem Migrationshintergrund, gut in Mathe und offen für alles, was momentan im Trend liegt. Diese Leidenschaft für K-Pop (BTS lassen grüßen) und Social Media teilt die aufgeweckte Achtklässlerin mit ihren drei Freundinnen, die alles versuchen, um Karten für das anstehende Boyband-Konzert zu ergattern. Wenn der charakterlich liebevoll ausgearbeiteten Mädchenclique im Manga-Stil die kugelrunden Äugleins vor Begeisterung verschwimmen, wird bei Disney das Gefühl für Zeitgeist großgeschrieben. Währenddessen aber ist unser dreizehnjähriger Star des Films ein emotionales Hormonbündel schlechthin, reift langsam zur Frau und entfesselt ob ihres Gefühlschaos einen riesengroßen, knuddeligen roten Panda, der allerdings sie selbst ist. Ein Fluch? Ein Segen? Was soll dieses Wunder der Gestaltwandlung, für welches sich Mei Lee zunehmend schämt und wovon auch bald Helikoptermama Ming Lee Wind bekommt? Was gar nicht gut ist, denn dieser Bär, der überall für Aufsehen sorgt, ist ein jahrhundertealtes Geheimnis, das unterdrückt werden muss.

Das geht in aufgeklärten Zeiten wie diesen eigentlich überhaupt nicht. Für diese Freiheit, flügge zu werden, bricht Pixar gleich mehrere Lanzen und sucht den Konflikt der Generationen ohne Scheu davor, eingerostete Mutterrollen aus der Reserve zu locken. Das gelingt besser als in Encanto, ist dynamisch, launig und melodramatisch. Und überraschend kausal. Statt gemeinsam als Übermutter und Tochter bei der psychosozialen Familienberatung aufzuschlagen, tut’s die Sache mit dem Problembären, der als liebevoll ausgestaltete Symbolik (jeder mag Pandabären, die schwarzen so wie die roten) Dominanz und juvenile Auflehnung an einen Tisch bringt. Pixar gibt sich dabei trotz so einigem märchenhaften Disney-Zauber nicht mit plotbedingten Floskeln zufrieden, sondern führt den Konflikt recht spielerisch und unbelastend zu einem familiären Wendepunkt, der einen Neuanfang verspricht.

Rot

Frau im Dunkeln

BEKENNTNISSE EINER RABENMUTTER

8/10


frauimdunkeln© 2021 Netflix


LAND / JAHR: GRIECHENLAND, USA, GROSSBRITANNIEN, ISRAEL 2020

BUCH / REGIE: MAGGIE GYLLENHAAL, NACH EINEM ROMAN VON ELENA FERRANTE

CAST: OLIVIA COLMAN, JESSIE BUCKLEY, DAKOTA JOHNSON, ED HARRIS, PETER SARSGAARD, PAUL MESCAL, ALBA ROHRWACHER, DAGMARA DOMIŃCZYK U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Am letzten Tag des alten Jahres hat Netflix für sein interessiertes Filmpublikum noch einen besonderen Leckerbissen aus dem Ärmel geschüttelt – das Spielfilmdebüt von Maggie Gyllenhaal, von welcher man ohnehin schon längere Zeit nichts mehr gehört hat, die sich aber mit der Verfilmung von Elena Ferrantes Roman The Lost Daughter umso wirkungsvoller zurückmeldet. Und beileibe ist der Stoff der italienischen Romanautorin keine gemähte Wiese. Nichts, was man so mir nichts dir nichts in Bilder packen und dazu noch ein ausgewogenes Skript verfassen kann. Frau im Dunkeln – so der deutsche Titel – lässt Oscarpreisträgerin Olivia Colman als Professorin während des Sommers Urlaub machen. Wie denn, das ist alles? Fast. Zumindest handlungstechnisch. Das meiste ist Selbstreflexion und Erinnerung, dazwischen die Konfrontation mit Menschen, die auf gewisse Weise begangene Fehler von Colmans Filmfigur aus der Verdrängung zurückführen. Das ist Urlaub, der nicht spur- und ereignislos vorübergeht. Das sind Ferien mit der längst überfälligen seelischen Reinigung.

Und so bezieht Leda Caruso ein großräumiges Appartement auf der griechischen Insel Spetses, und zwar ganz allein. Hausdiener Lyle (Ed Harris) sorgt manchmal für Abwechslung, auch dem Ferialjobber Will gefällt Ledas Gesellschaft. Weniger offenherzig ist allerdings die New Yorker Großfamilie rund um Jungmutter Nina (Dakota Johnson), die sich mit ihrer kleinen Tochter herumschlagen muss und die bereits unter Depressionen leidet, weil sie es dem Mädel einfach nicht recht machen kann. Da passiert es und das Kind verschwindet – Leda beteiligt sich an der Suche und findet sie. Doch damit nicht genug: dessen Lieblingspuppe verschwindet ebenfalls. Die hat sich Leda absichtlich unter den Nagel gerissen. Doch warum nur?

Warum nur? Das ist die große Frage in diesem Film. Und vor allem eine, die Leda selbst nicht beantworten kann. So sind nun mal Gefühlswelten, sie ordnen sich keinem rationalen Muster unter, sie generieren sich aus triggernden Momenten und Assoziationen, aus seltsamen Déjà-vus, die wie gerufen kommen und die Sache mit dem Zufall bemühen. In so einem Nebel aus Vergangenem und Gegenwärtigen lässt Colman als einsame Egoistin ihre Existenz als Mutter zweier Kinder Revue passieren – die Zeitebene wechselt, wir befinden uns rund zwei Jahrzehnte in der Vergangenheit, und Jessie Buckleys junge Leda könnte aufgrund ihres sprachlichen Talents und ihrer literarischen Abhandlungen alles erreichen. Einzig die Kinder nerven, später auch der eigene Ehemann, und so kehrt sie ihrer Familie den Rücken. Eine Rabenmutter, sagt sie selber von sich. Doch die Erkenntnis lässt auf sich warten, im Urlaub ist schließlich genug Zeit dafür, auch wenn sonst nichts zu tun ist.

Wer hätte gedacht, dass es Maggie Gyllenhaal dermaßen gelingt, so einem durchaus abstrakten und auch verschachtelten Stoff das richtige Tempo aufzuerlegen und ein ebensolches Team zusammenzustellen. Dazu gehört auch Kamerafrau Hélène Louvart, die aus dem dichten Stück Schauspielkino ein visuelles Erlebnis kreiert. Extreme Nahaufnahmen wechseln mit in sich ruhenden Arrangements aus Personen – diese Virtuosität erinnert nicht zufällig an den Film Glücklich wie Lazzarro. Dort bewies sich Louvart als Kreatorin einer mediterranen, impressionistischen Stimmung. Coleman und auch Dakota Johnson spiegeln diese mit Bravour. Nicht zu vergessen Jessie Buckley, die als junge Leda Caruso die Last des Mutterseins nicht mit ihrem Drang zur Selbstverwirklichung vereinbaren kann.

Frau im Dunkeln ist ein starker und hypnotisierender Film ohne Leerlauf und mit Bedacht gewählten Worten, die den Brocken an Drama nicht schwerer machen als er ist. Gyllenhaal schafft das Zusammenspiel gewissenhaft agierender Schauspielerinnen, die niemals, wie es scheint, unter den Druck einer egozentrischen Regie geraten, sondern den jeweils eigenen Subtext wirken lassen können. Was dabei rauskommt, ist packend – und auf unerwartete Weise schwerelos.

Frau im Dunkeln

Bring Me Home

IN DIE HÖHLE DES RATTENFÄNGERS

6,5/10


bring-me-home© 2021 Warner Bros. Entertainment Inc.


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2019

BUCH / REGIE: KIM SEUNG-WOO

CAST: LEE YEONG-AE, YOO JAE-MYUNG, KIM JONG-HO, LEE HANG-NA, PARK HAE-JOON U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Schon Oldboy-Regisseur Park Chan-Wook hat sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen lassen, und zwar in seinem virtuosen Rachedrama Lady Vengeance: die Rede ist von Lee Yeong-ae. Die koreanische Schauspielerin mit den zarten Gesichtszügen ist auch hier, in diesem sehr düsteren Kriminalfilm, dem Unvorstellbaren ausgesetzt. Als Mutter kann einem auch nichts Schlimmeres passieren, als sein Kind zu verlieren. Allerdings ist dieses Kind nicht verstorben, sondern ganz einfach verschwunden. Das war vor sechs Jahren. Yung-Yeon wirft sich vor, nicht gut auf ihren Sohn geachtet zu haben. Schuldgefühle plagen sie, das Leben wäre schon lange nicht mehr lebenswert, hätten die Eltern die Suche längst aufgegeben. Wie es das Schicksal aber will, passiert doch noch, worauf alle hoffen, und Yeong-Jeon und ihr Mann erhalten entsprechende Hinweise. Es wäre kein koreanischer Film, wären diese Widrigkeiten schon nervenzehrend genug – auf der Suche nach dem Jungen stirbt der Vater bei einem Autounfall. Die am Boden zerstörte Mutter (noch gebrochener kann man kaum sein) steht nun allein da. Allerdings nicht allzu lange – denn bald folgt wieder ein Anruf, der sie aus der Resignation und an die Küste Südkoreas lockt.

Bring Me Home von Regiedebütant Kim Seung-Woo hat von Meister Bong Joon-Ho, der lange vor Parasite so gehaltvolle Krimidramen wie Memories of Murder oder Mother schuf, so einiges gelernt. Sein Inszenierungsstil wirkt selbstsicher, vor allem die schwierig zu timenden, konfliktreichen Szenen gegen Ende des Dramas sind geschickt ausbalanciert. Seung-Woo, der seinen Film auch selbst verfasst hat, lässt sein anfangs in sich ruhendes Vermisstendrama immer mehr und mehr eskalieren, aus der verzweifelten Suche nach dem Kind wird bald ein handfester, durchaus blutiger und auch kompromissloser Thriller, dem aber immer noch die verpeilte Melancholie innewohnt, die koreanische Filme so auszeichnet. Das ist großes, packendes und nur scheinbar pessimistisches Asia-Kino in naturalistischer Bildsprache, und dieses Drama hätte seine Wirkung fast verspielt, wäre es nicht so professionell inszeniert worden. Schuld an diesem Fast-Debakel hat die deutsche Synchronisation. Dafür lässt sich Seung-Woo natürlich nicht zur Rechenschaft ziehen. Den scheinbar ungeschulten Sprechern aber sei so manches vorzuwerfen – allen voran eine unachtsame Dialogregie, die wohl geduldet hat, dass der Sprachcontent wie abgelesen klingt – ohne Intonation und ohne ein Gespür für die Szene. Synchronstudio ist nicht gleich Synchronstudio, das wird spätestens bei diesem Film klar. Und man weiß dann auch wieder, was für Könner hinter der Eindeutschung großer Produktionen stehen, die sich mit dem Thema des Films zu hundert Prozent auseinandersetzen.

In Bring Me Home wäre die schlechte Qualität der Synchro kaum durchzustehen gewesen, hätte der Film nicht so dermaßen an Fahrt aufgenommen. Letzten Endes aber war die hochdramatische Geschichte weitaus dominanter als die emotionslos heruntergeleierten Dialoge. Mein Tipp: Diesen Film unbedingt in OmU sehen. So wie eigentlich fast jeden koreanischen Film, denn dann hat man das lokale Sprachkolorit auch gleich mit am Schirm. Ein Kniff, der das Filmerlebnis vieleicht noch intensiver macht.

Bring Me Home

Ben is Back

MUTTER COURAGE, U.S.

7,5/10

 

_DSC9362.ARW© Tobis Film 2019

 

LAND: USA 2018

REGIE: PETER HEDGES

CAST: JULIA ROBERTS, LUCAS HEDGES, COURTNEY B. VANCE, KATHRYN NEWTON U. A.

 

Er ist das Problemkind Hollywoods. Ob als Rabiatbruder in MID90s, als Vollwaise in Manchester by the Sea oder als gequälter Homosexueller in Der verlorene Sohn – Lucas Hedges hat, was seine Filme angeht, keine entspannten Jugendjahre. Und jetzt, jetzt ist er auch noch Ex-Junkie, schwarzes Schaf der Familie und unerwarteter Rückkehrer zur Weihnachtszeit, womit die holde Restfamilie wirklich nicht gerechnet hat. Nun, Mama Julia Roberts schon. oder sagen wir: sie hat es gehofft. Lucas Helges kann von Glück reden, so eine Filmmutter zu haben. Da gibt es ganz andere, zum Beispiel Carrie hat eine, die würde ich niemanden wünschen. Unsere Ex-Pretty Woman ist eine, die ihr Kind über alles liebt, egal was es anstellt. Solche Rollen kennen wir eigentlich von Meryl Streep, aber Julia Roberts kann das auch, und zwar fabelhaft gut. In Ben is Back ist sie die Fürsorge in Person, sich selbst zurücknehmend, aufopfernd, aber durchaus auch und nötigenfalls streng.

Tatsächlich aber steht das Kind der 90er unter der Regie seines alten Herren, nämlich Peter Hedges, seines Zeichens Autor so kultverdächtiger Stoffe wie Gilbert Grape. Seinen Sohn lässt er auf die schiefe Bahn kommen, sich mit Dealern anlegen und auf Entzug gehen, und dann, als alles danach aussieht, als hätte der Junge die Kurve gekriegt, kommt der Querschläger – und ruft Mama Roberts auf den Plan. Dieses Gespann, das spielt sich die Bälle zu, als hätte es weitaus mehr gemeinsam als den Arbeitsalltag am Set. Julia Roberts kann natürlich aus dem Vollen schöpfen, sie ist selbst Mutter, und wie schon einmal erwähnt werden ihre schauspielerischen Qualitäten im Laufe ihrer schillernden Karriere immer besser. Das Format einer Meryl Streep hat sie längst, sie zeigt sich genauso authentisch und scheint zu spüren, was sie vorgibt zu fühlen. Das macht Filmsohn Lucas Hedges auch, und deswegen ist Ben is Back längst kein Familienmelodram von der tränendrückenden Sorte, wie man sie bislang zur Genüge kennt. Das winterliche Krimidrama ist, relativ unüblich für so eine Art von Film, auf Zug inszeniert, sehr straff und eigentlich knochentrocken und auf klarsichtige Weise unprätentiös. Der Genremix tut dem Film erstaunlich gut, entlockt beiden Genres durchaus nicht oft gesehene Facetten und dröselt den gordischen Knoten eines unentkommbaren Dilemmas auf direkt künstlerische Art am Ende auf. Gewohnt bin ich so etwas eher von Einzelgängern wie Jacques Audiard oder Susanne Bier. Tatsächlich wirkt Ben is Back manchmal so, als wäre er ein Teamwork der beiden, vielleicht um eine Spur weniger erdiger und schmutziger, doch das muss Peter Hedges Film gar nicht sein, denn die soziale, krankhafte Finsternis einer labilen Existenz dringt in den abgesichert scheinenden, familiären Wohlstand und nicht umgekehrt. Das Eintauchen ins hoffnungslose Milieu der Drogen spart Ben is Back weitgehend aus, maximal streift der Film die Grenzen der Gefahr, die Julia Roberts fast schon versucht ist zu überschreiten. Das ist natürlich ein enormes Exempel an Selbstlosigkeit, ein Aufopfern für das eigene Fleisch und Blut. Dafür kann man gut und gerne eine Lanze brechen für so viel Familien-Impakt.

Ben is Back ist ein unerwartet intensiver Film aus blaugrauen, kalten Wintertagen. Und obwohl Weihnachten ist, zeigt sich das Fest der Liebe schaumgebremst wie selten. Stimmung kommt hier keine auf, maximal eine ungute, eine vorsichtige – und für manche auch ablehnende, denn der Stiefvater hält nichts von Bens Erscheinen. Herbergssuche sollte inklusive Lerneffekt mittlerweile ganz anders aussehen, vor allem zur stillen Nacht. Doch allein bleibt das Problemkind nicht, hat es doch Schutzengel Mutter an seiner Seite. Wird die Erzieherin aber zur Heldin? Das würde die Überzeichnung eines Ist-Zustandes implizieren, der das Brimborium eines gefeierten Kraftakts nötig hätte. Eine Mutter hat das nicht nötig, vor allem, weil Helden oft temporär solche sind. Und wir sehen: In Ben is Back geht es weniger um die schiefe Bahn junger Menschen. Dafür gibt es andere Filme. Wären es hier keine Drogen, wäre es etwas anderes. Das ist also austauschbar. Die Liebe zum Kind allerdings, die der packende Streifen thematisiert, die bleibt unverändert. Und lässt sich durchs nichts abhalten.

Ben is Back