Mother’s Baby (2025)

DA IST WAS FAUL IM WINDELSTAAT

7/10


© 2025 Freibeuter Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND 2025

REGIE: JOHANNA MODER

DREHBUCH: ARNE KOHLWEYER, JOHANNA MODER

KAMERA: ROBERT OBERRAINER

CAST: MARIE LEUENBERGER, HANS LÖW, CLAES BANG, JULIA FRANZ RICHTER, JUDITH ALTENBERGER, CAROLINE FRANK, NINA FOG, JULIA KOCH, MONA KOSPACH U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Es schreit nicht, es weint nicht, es schläft so still, dass Mutter meinen könnte, der Allmächtige hätte es zu sich genommen: Babys, zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Eltern, die, auf das Schlimmste in der frühen Kindschaft vorbereitet, plötzlich völlig entstresst gar eine Verschwörung vermuten. So könnte man Johanne Moders neuen Film synoptisch übers Knie brechen, der sich vom revolutionsmüden Hipster-Parship aus Waren einmal Revoluzzer verabschiedet hat, um mit dem Genrekino anzudocken. Ganz so wie Andreas Prochaska, der diesjährig mit Welcome Home Baby ganz ähnlich, und doch wieder ganz anders, die Themen der Mutterschaft in einen dörflichen Albtraum verpackt. Das österreichische Horrorkino pulsiert mit diesen beiden Filmen durch den Kino-Herbst, wobei Johanna Moder deutlich weniger ihr Heil im Nachinterpretieren bereits etablierter Versatzstücke sucht. Mother’s Baby will sich bewusst nicht zu blankem Horror bekennen – Verdacht, Paranoia und eine postnatal belastete Psyche sind die Hauptingredienzien für einen Suspense voller Indizien, in dem Marie Leuenberger (Verbrannte Erde, und eben auch mit Stiller im Kino) zwischen ratloser Jungmutter und mutiger Hobby-Detektivin in eigener Sache den gesamten Film auf ihren Blickwinkel reduziert. Das macht uns, ob wir wollen oder nicht, zu Verbündeten, und auch wenn wir uns wundern, was Jungmutter Julia alles vermutet – wir können diesem zusammenfabulierten Netz nur schwer entschlüpfen, schon gar nicht, wenn sich die ganze Welt gegen ein einziges Individuum stellt, dem, wie Kassandra aus der Antike, niemand Glauben schenkt. Auszuhalten ist das nicht – dieser Zustand, allein mit der möglichen Wahrheit.

Das Rundum-Sorglos-Baby

Leuenbergers Figur der misstrauischen Mutter ist jedoch keine gebrochene, kümmerliche, vulnerable Seele ohne Resilienz, sondern ihr eigener Fels in der Brandung, wenn schon Gatte Hans Löw nichts von Julias Verdächtigungen wissen will. Diese fußen aber alle auf klar erkennbaren, seltsamen Verhaltensmustern, die Gynäkologe Claes Bang (genial als Dracula in der zweiteiligen Bram Stoker-Interpretation auf Netflix) und Hebamme Gerlinde an den Tag legen. Als Gerlinde ist hier Julia Franz Richter zu sehen, die in Welcome Home Baby ihrerseits eine werdende Mutter verkörpert, die ähnlich wie Mia Farrow in Rosemary’s Baby wie die Jungfrau zum Kind kommt.

Denn zu Beginn, da ist alles noch froher Erwartung, als Dr. Vilfort seiner Patientin verspricht, das es mit dem Mutterglück diesmal auch wirklich klappen wird. Als es dann nach neun Monaten endlich soweit ist, und die Geburt schwieriger wird als gedacht, entschwindet das Baby ganz plötzlich in den Armen des Arztes dem Blickfeld seiner Mutter – bis auf weiteres. Frühgeburt, Atemnot, Sauerstoffgehalt, all das hört Julia sehr viel später als Begründung. Daheim dann sind die Auffälligkeiten, was das Kind selbst betrifft, unübersehbar. Es ist, als würde sich der Spross den Bedürfnissen der Erwachsenen anpassen, wie eingangs erwähnt tut er all das, um den Eltern eben nicht die schwierigste Zeit des Familienlebens zu bescheren – sondern verhält sich unerwartet geräusch- und bedürfnislos. In Julia keimt der Verdacht, dass hier irgendetwas nicht stimmt, dass das Baby vielleicht gar nicht das ihre ist? Die aufdringliche Hebamme und die Sache mit dem Axolotl als ideales Haustier bestärken nur den Horror im Kopf der Mutter, die dann, auf sich allein gestellt, Ermittlungen auf eigene Faust anstellt.

Verdacht alleine hält lange vor

Mother’s Baby ist wohldosierte Mystery, die lange in der Schwebe bleibt, dabei aber nicht schwurbelt oder ich in unheilvollem Indiziensalat verliert wie Andreas Prochaska in seinem Folk-Grusel. Das Unheimliche hier ist wohl eher schleichende Skepsis und Argwohn, Moder spielt mit der Sorge der Vernachlässigung, der Wucht der Verantwortung und der maternalen Identität. Übertragen wird das Ganze aber nicht, so wie in Die My Love probiert und gescheitert, auf die innere Psyche der Mutterfigur, sondern hinterfragt als bröckelnde Rundumwahrnehmung die Sicht auf die Welt und deren Werte nach einem Paradigmenwechsel, den jede werdende Familie erlebt. Moder hätte beim Psycho- und Gesellschaftsdrama bleiben können, doch die Lust am Kleinkind-Horror, den es nicht erst seit Das Omen gibt, ist einfach zu groß, um nicht darin wühlen zu wollen. So bleibt Mother’s Baby stets greifbar und bodenständig, bürdet sich auch nicht zu viel auf, sondern setzt seinen perfiden, leisen Albtraum als zielorientierte Kritik auf eine Optimierungsgesellschaft in Szene, die vor nichts mehr zurückschreckt.

Mother’s Baby (2025)

Das Mädchen mit der Nadel (2024)

DAS KINDLEIN WOHL IM ARM

7/10


© 2024 MUBI


LAND / JAHR: DÄNEMARK, POLEN, SCHWEDEN 2024

REGIE: MAGNUS VON HORN

DREHBUCH: LINE LANGEBEK KNUDSEN, MAGNUS VON HORN

CAST: VIC CARMEN SONNE, TRINE DYRHOLM, BESIR ZECIRI, TESSA HODER, AVA KNOX MARTIN, JOACHIM FJELSTRUP, ARI ALEXANDER U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Es ist die Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Europa liegt in einem schwer traumatisierten Dämmerzustand, Millionen junger Männer sind aus ihren Leben gerissen worden. Frauen und Kinder stehen vater- und partnerlos vor dem Nichts, unklar, ob mit einer Heimkehr vom Schlachtfeld noch gerechnet werden kann. In diesem existenzialistischen, kränkelnden Dunst des Notleidens quält sich Karoline, deren Mann wie Schrödingers Katze sowohl als tot wie auch als lebendig gilt, tagtäglich in die Kleidermanufaktur des reichen Unternehmers Jørgen, in dessen Gunst sie steht und der ihr eindeutige Avancen macht. Nicht nur das: Bald schon trägt Karoline sein Kind aus, doch Jørgens herzlose alte Mutter will von dieser Liaison nichts wissen. Die junge Frau wird entlassen, wohin nun mit dem Fötus, der in ihrem Körper heranwächst? Karoline will den quälenden Umstand selbst aus dem Weg räumen, im Zuge dessen kommt die im Titel erwähnte Nadel ins Spiel, doch eine mütterliche Trine Dyrholm als Dagmar, die personifizierte Lösung für alles, bewahrt das verzweifelte Mädchen vor Schlimmerem. Sie weiß, wohin mit dem Kind, wenn es denn einmal da ist, schließlich gäbe es genug wohlhabende Leute, die als Zieheltern ihr großes Los ziehen würden. Was Karoline nicht weiß: Dagmar ist ein Monster.

Diese Figur einer kindsmordenden Psychopathin hat keinen fiktiven Ursprung – eine wie Dagmar Overby gab es wirklich. Magnus van Horn bedient sich dabei einiger biografischer Elemente und erweckt einen nach außen hin sozial integren, dahinter aber erbärmlich kranken Geist zum Leben, der genug heile Welt verspricht, um Karoline an sich zu binden. Ähnlich wie in Patty Jenkins Kriminaldrama Monster, in welchem Christina Ricci nicht von der männermordenden Charlize Theron lassen kann und beide eine Einheit bilden, so sucht die von Vic Carmen Sonne (u. a. Azrael) mit der notwendigen Zerbrechlichkeit, mit Opportunismus und Wut verkörperte Karoline mütterlichen Halt bei einer wie Dagmar, die Böses im Schilde führt. Komplexer wird Magnus van Horns Film durch das Auftauchen des vom Krieg gezeichneten Ehemannes Peter (Besir Zeciri), der, mit entstelltem Gesicht und Maske eine von der Gesellschaft geächtete Rolle einnehmen muss, die maximal für Freakshows reicht. Womit der Film eine gewisse Brücke zu David Lynchs Elefantenmensch schlägt, um Würde, Humanismus und Hoffnung auf soziale Integrität zu erörtern. Dabei wählt Das Mädchen mit der Nadel eine fulminante expressionistische Bildsprache, die ebenfalls an Lynchs frühe Werke erinnert und auf albtraumhafte Kontraste setzt, in düstere Räume dringt und phantasmagorische Collagen aus bodenlosem Abgrund hervorholt. Mit solchen Bildern fängt von Horn seine Schauergeschichte auch an – bizarrer Symbolismus wechselt mit akkurater, klarer Ausstattung. Soziale Härte trifft auf Macht und Abhängigkeit – Michael Hanekes Klassiker Das weiße Band ist da nicht weit entfernt.

Heuer für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert, mag sich van Horns bildgewaltiges Psychodrama genretechnisch gar nicht so gerne festlegen. Es entzieht und windet sich aus der Gunst des Publikums heraus und will kein Mitleid. Auf den ersten Blick wirkt Das Mädchen mit der Nadel daher spröde und viel zu abgründig, um sich in diesem entbehrungsreichen Kosmos gescheiterter Existenzen vorallem emotional zurechtzufinden. Magnus van Horn gelingen aber zwischen diesen real gewordenen bizarren Wachträumen, die mit dem Suspense-Kino ebenso herumexperimentieren, Szenen von Wärme, Liebe und voll von Sehnsucht nach Geborgenheit, dabei strahlt die Figur des Kriegsheimkehrers Peter trotz all seiner ihm widerfahrenen Entmenschlichung das größte Potenzial zwischenmenschlicher Verbundenheit und Nähe aus, und zwar so sehr, dass es einem hierbei fast das Herz bricht.

Das Mädchen mit der Nadel (2024)

Never Let Go (2024)

WENN ALLE STRICKE REISSEN

7/10


NEVER LET GO - LASS NIEMALS LOS / Ab 26. September 2024© 2024 Lionsgate


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: ALEXANDRE AJA

DREHBUCH: KC COUGHLIN, RYAN GRASSBY

CAST: HALLE BERRY, PERCY DAGGS IV, ANTHONY B. JENKINS, WILL CATLETT, MATTHEW KEVIN ANDERSON, STEPHANIE LAVIGNE U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Hütten und Häuser im Wald gibt es viele. Dort auszuharren bedeutet oft nichts Gutes. Entweder ist die Welt bereits den Bach runter, die Menschheit ausgelöscht oder ein Fluch hindert die darin Lebenden, ihre Existenzblase zu verlassen. Ob Evil Dead, The Cabin in the Woods oder Knock at the Cabin – irgendwo ist dabei immer das Böse einen Steinwurf entfernt und nur das bedächtige Verhalten einer Handvoll Überlebender entscheidet über Leben und Tod. Horror-Spezialist Alexandre Aja (u. a. Crawl, Oxygen) will Raimi oder Shyamalan weder kopieren noch parodieren noch sich gar vor ihnen verbeugen. Er schafft es, dank einer literarischen Vorlage, die den bekannten Versatzstücken entgeht, eine völlig anders geartete Variation des Haunted Cabin-Genres vorzulegen. Wir befinden uns dabei inmitten eines Waldes irgendwo in den Vereinigten Staaten, dort steht eine relativ alte Immobilie, die noch den Großeltern von Halle Berry gehört hat, die in Never Let Go eine traumatisierte Mutter gibt, die nichts mehr anderes in ihrem entbehrlichen Überleben antreibt als auf ihre beiden Söhne aufzupassen. Denn eines weiß sie: Eine niederträchtige Entität lauert jenseits des Grundstücks. Sie kann jedwede Gestalt annehmen und ihre Opfer zum Wahnsinn treiben, sobald diese berührt werden. Allerdings gibt es da eine Methode, um der Belagerung zu entgehen: Alle drei, Mutter und Söhne, müssen mit einem Strick stets mit dem Haus verbunden bleiben. Solange keine Abnabelung stattfindet, kann das Böse den Überlebenden nichts anhaben. Die Kinder zeigen sich, je älter sie werden, zunehmend skeptisch: Wie kann es sein, dass nur Mama das Böse sieht? Warum wir nicht? Und was, wenn alles gar nicht wahr ist und Mama längst in die Geschlossene gehört, weil sie was auch immer aus ihrer Vergangenheit nicht verarbeiten kann? Ist das Ende der Welt wirklich passiert oder liegt eine gänzlich andere Wahrheit irgendwo da draußen?

Wenn sich der Nachwuchs aus der elterlichen Fürsorge entwindet, um auf eigene Faust die Welt, in der er lebt, zu erforschen, mag das sehr viel mit Trial und Error zu tun haben, aber auch mit dem Erlernen notwendiger Selbstständigkeit. Es gibt Mütter und Väter, die das nur schwer zulassen können. Die sich viel zu sehr mit ihren Kindern identifizieren, ohne diese als autarke Persönlichkeiten zu betrachten. Wie monströs können Eltern werden, wie fanatisch, wenn juveniles Reifen nichts ist, was sich entwickeln darf. So sitzt Halle Berrys Figur wie eine Glucke auf den Brüdern Nolan und Samuel, lehrt sie, ihr Zuhause zu lieben und lehrt sie, niemals loszulassen. Der Titel ist dabei maßgeblich Programm. Und sagt vielleicht schon viel zu viel darüber aus, ob der Schutz vor der Außenwelt wirklich berechtigt ist oder nicht.

Dennoch belässt Aja die meiste Zeit des Films sein Publikum im Dunkeln, um nicht zu sagen: Fast die gesamte Laufzeit. Dieses Spiel mit Vertrauen, Misstrauen, Glaube und Aberglaube gerät zum dichten Reigen eines familiären Albtraums zwischen Einbildung, Angst und der klaren Sicht auf die Dinge, wie sie vermutlich sind. Never Let Go entwickelt dort noch Suspense, wo andere Filme längst aufgegeben haben und zur Tagesordnung eines Showdowns übergegangen sind. Mit The Village gelang Shyamalan – um einen Vergleich mit dem Regiekollegen dennoch zu bemühen – ähnliches. Dort konzentrierte sich dieser auf das fatale Dilemma rund um Verschwörung und Aberglaube, womit der Film mit Never Let Go einiges gemeinsam hat. Letzterer nimmt sich aber auch noch der Problematik elterlicher Erziehung an. Mag sein, dass Never Let Go letzten Endes zu viel will. Und ja, Aja stopft hier einiges in seine hundert Minuten, vor allem allerlei Symbolträchtiges und Allegorisches und verliert dabei vollends eine gewisse inhärente Logik aus den Augen, die den Nebel aus Halluzinationen, Tatsachen und Phantastischem teilen könnte.

Festhalten kann sich das Publikum nirgendwo. Was Never Let Go dann auch so beklemmend macht. Wenn es keine Wahrheit mehr gibt, schwindet der Boden unter den Füßen. Immer wilder wird der Ritt, wer hätte gedacht, dass Berry und zwei Jungdarsteller so ein Inferno entfesseln? Den rettenden Strohhalm gewährt Aja dann doch, aber erst dann, wenn jedwede Zuversicht schon aufgegeben scheint.

Never Let Go (2024)

Nightbitch (2024)

EIN JAMMER MIT DER MAMA

4,5/10


nightbitch© 2024 Searchlight Pictures. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: MARIELLE HELLER

CAST: AMY ADAMS, SCOOT MCNAIRY, MARY HOLLAND, JESSICA HARPER, KERRY O’MALLEY, ZOE CHAO U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Das alles ist schneller vorbei als uns Eltern lieb ist: Kaum sind unsere Schützlinge auf der Welt, steuern sie der Abnabelung zu. Die Phase des Kleinkindalters fühlt sich zwar wie eine Ewigkeit an, doch rückblickend war es nur ein Moment voller Entbehrungen für einen guten Zweck, nämlich das, was man über alles liebt, für ein ungeschriebenes Leben vorzubereiten. Wenn es hochkommt, sind es nur ein paar Jahre, dann kann sich der kleine Knopf schon selbst orientieren. Es geht schließlich ums Gesamtpaket einer werdenden Persönlichkeit, da sind schlaflose Nächte und kaum eigene Freizeit nur etwas, das man fürs große Ganze opfert. In dieser Zeit – und gegen alle Bemühungen, die Rollen neu zu verteilen – ist nach wie vor das „Muttertier“ aus dem gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Leben vorübergehend ausgeschlossen, schließlich geht es rein biologisch betrachtet um die Arterhaltung der Spezies Mensch. Als solcher will man schließlich alles haben – Karriere, Freunde, Freizeit, und nebenbei ein Kind. Geht doch. Betreuungen sind ohnehin buchbar, wenn es das Budget erlaubt. Wozu hat man dann aber Kinder? Aus Prestigegründen? Um sich selbst zu beweisen, alles hinzubekommen? Oder, um sich dem natürlichen zweck des Daseins zu besinnen?

In einer immer noch und leider Gottes patriarchalen Gesellschaft, die mit Trumps Wahlsieg wohl wieder mal erstarken wird, ist die Frau immer noch jene, die ungefragt zuhause bleibt. Schließlich ist sie Mutter, und daher wichtiger fürs Kind? Eine falsche Prämisse, die Amy Adams als wochentags alleinerziehendes Paradebeispiel einer Frau am Rande der Selbstaufgabe langsam erkennt. Der in sich zerrissenen, ehemaligen Künstlerin wird auch klar, dass Selbstverwirklichung kein Thema mehr sein darf, dass Ich-AG, Selbstfürsorge und Interessenspflege erst dann zum Zug kommen, wenn die Familie mal durch ist. Das jedoch findet nie statt. Unzufriedenheit macht sich breit, trotz Liebe zum Nachwuchs. Mama muss sich neu orientieren, neu justieren. Dem Ehemann in seinen veralteten Ansichten zur Ressourcenverteilung mal ordentlich die Leviten lesen. Und das innere, urtümliche Muttertier entdecken, die Wahrheit hinter dem ganzen Dilemma, ein Kind großzuziehen.

Dass die Amis auch Filme machen können, die der deutschen Wohlstandskomödien-Kinowelt entsprungen sein könnten, beweist Marielle Heller (Can You Ever Forgive Me?) mit dem Mutterschafts-Lamento Nightbitch – dem letzten Film aus meiner persönlichen Viennale-Auswahl. Amy Adams tut dabei alles, um an den Rand der Erschöpfung zu gelangen. Natürlich ist es anstrengend, entbehrungsreich, eine Grenzerfahrung – und obendrein nicht neu. Nightbitch liefert Erkenntnisse, die an einen Werbefilm für elterliche Gleichberechtigung erinnern. Es darf auch mal Papa zuhause bleiben, wie wäre es mit Väterkarenz? Und so weiter und so fort. Inspirierend ist das nicht, inspirierend ist vielleicht in Ansätzen jene fantastische Ebene, die womöglich nur in den Vorstellungen von Amy Adams Figur existiert. Der Werwolf-Mythos stellt sich ein, ein dick aufgetragener, eher plumper Symbolismus für ein animalisches Gefühl, das Schwangerschaft, Entbindung und die ersten Jahre eines neuen Lebens umspannen, und das Frau nicht verdrängen sollte. Ist es also mütterliche Pflicht, sich selbst aufzugeben, um zum Muttertier zu werden? Was genau will Heller mit ihrer satirischen Komödie uns normalsterblichen Eltern mit auf den Weg geben?

Dass die Gebärende lediglich gebärt, während der Rest des ganzen Projekts auch auf das Vatertier übertragen werden kann? Die Zugänge zu gleich mehreren Ansätzen sind schulmeisterlich bis banal. Binsenweisheiten und eine missglückte Metaebene, die gleichzeitig Freiheit vor den Konventionen und Rückbesinnung auf die Urtümlichkeit bedeuten. Nightbitch kann als archaisches, aber haareraufend unschlüssiges Familienabenteuer mit herkömmlicher Problemstereotypie betrachtet werden. Der radikale Rundumschlag, die mutige Avantgarde, sie bleiben verwehrt. Vielleicht auch, weil der Film unbedingt will, dass das Publikum sich wiederfindet. Mehr als Themenkabarett ist das manchmal aber nicht.

Nightbitch (2024)

Die geheime Tochter

DAS KIND MIT DEM BAD AUSSCHÜTTEN

7/10


diegeheimetochter© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: SPANIEN 2022

REGIE: MANUEL MARTÍN CUENCA

BUCH: MANUEL MARTÍN CUENCA, ALEJANDRO HERNÁNDEZ

CAST: IRENE VIRGÜEZ, JAVIER GUTIÉRREZ, PATRICIA LÓPEZ ARNAIZ, JUAN CARLOS VILLANUEVA, MARIA MORALES, SOFIAN EL BENAISSATI U. A. 

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Eltern haften für ihre Kinder. Und nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für Minderjährige, die diesen Erwachsenen ihr Vertrauen schenken. Das zumindest tut die 15jährige Irene (Irene Virgüez), eine jugendliche Straftäterin, die von ihrem Freund, ebenfalls straffällig, geschwängert wird. Irene hat niemanden, an den sie sich wenden kann. Und schon gar keine Lust, das Kind auch auszutragen. Womit denn? Und mit welchem Geld? Da hat Javier, einer der Jugendpsychologen aus der Anstalt, eine Idee: Was, wenn eine Hand die andere wäscht? Wenn Irene ihr Kind heimlich bei ihm daheim austrägt und dessen Frau dann so tut, als wäre es ihre eigene Geburt gewesen? Irene ist die Muttersorge los, und jene, die sowieso keinen Nachwuchs zeugen können, haben dann etwas, worauf sie sich freuen können. Das Mädel hat nichts zu verlieren, also willigt sie ein, nachdem sie Javier über alle Regeln, die während dieser Zeit der Schwangerschaft tunlichst befolgt werden müssen, aufklärt. Keine Besuche, keine Ausflüge ins Tal, keine Anrufe. Irene soll als flüchtig gelten und dann, nach neun Monaten, zufällig wieder gefunden werden.

Wir sehr kann man als psychologisch versierter Experte in Sachen Teenager auch nur annehmen, dass das, was eine Problemjugendliche wie Irene vertrauensvoll zusichert, auch neun Monate später noch Bestand hat? Natürlich gar nicht. Mädchen in diesem Alter können wankelmütig und launenhaft sein, lassen sich leicht beeinflussen oder ändern ihre Meinung so oft wie ihren Look. Wieso sollte das beim Kinderkriegen anders sein? Ist es schließlich nicht. Und das stößt Javiers Frau sauer auf, nachdem die Eltern nach mehreren Monaten Isolation einwilligen, dass Irene ihren Freund wiedersehen darf. Ein grundlegender, irreversibler Fehler, der das ganze freudig-hoffnungsvolle Konstrukt werdender Eltern und unbekümmerter Jugend in sich zusammenbrechen lässt.

Autorenfilmer Manuel Martín Cuenca spielt mit der Unreife junger Menschen und der Ratlosigkeit ob deren Zukunft. Volatile Entscheidungen kriechen wie Nebel auf eine spanischen Hochebene und errichten das Dilemma einer ausweglosen Lage, die nur unter Einsatz von Gewalt wieder hingebogen werden kann. Bis es soweit kommt, lässt sich Die geheime Tochter gerade so viel Zeit wie nötig, um die Charaktere in ihrer Risikofreude und Labilität ins Spiel zu bringen. Was eignet sich da besser als eine isolierte Ranch irgendwo in den Bergen – ein paar Meter weiter geht’s steil bergab ins Verderben. Ein Setting, geradezu perfekt für einen Thriller, der sich anfühlt wie aus der Feder Patricia Highsmiths. Die Zutaten: Psychologische Einengung, diktierte Isolation und der manipulative Sprech eigennütziger Erwachsener, die aus ihrer Arroganz weniger Erfahrenen gegenüber keine Kompromisse eingehen wollen. Doch die Rechnung, die sie Irene vorsetzen wollen, haben sie ohne den Instinkt einer Mutter gemacht. Cuenca setzt dabei auf volle Breitseite im Austragen eines Konfliktes, der clever konstruiert und grimmig genug erscheint, um ihn auf eine Länge von neun Monaten dehnen zu können. Vorglühen und Nachbrennen ist alles in diesem Hickhack rund um Selbstbestimmung, dem Missbrauch erzieherischer Verantwortung und jugendlichen Idealen.

Dabei geraten so manche Details zum Selbstläufer oder fast schon zur kleinen Nebenstory: Seit Stephen Kings Cujo oder dem Bluthund-Reißer Bullet Head gab es keine so furchteinflößenden Vierbeiner mehr. Wie sich Irene Virgüez als zäher Teenie mit diesen knurrenden Monstern auseinandersetzt, scheint fast schon ein Film für sich zu sein, ist aber das Sahnehäubchen auf einem europäischen Genrebeitrag, der die gefährliche Dynamik zwischen der Gönnerhaftigkeit des Wohlstands und der notgedrungenen Abhängigkeit sozial Benachteiligter bis in jede dunkle Ecke des abgesteckten Schauplatzes ausnutzt.

Die geheime Tochter

Parallele Mütter

DIE BUNTE WELT VERLORENER WAHRHEITEN

6/10


parallelemuetter© 2022 Studiocanal GmbH


LAND / JAHR: SPANIEN 2021

BUCH / REGIE: PEDRO ALMODÓVAR

CAST: PENÉLOPE CRUZ, MILENA SMIT, ISRAEL ELEJALDE, AITANA SÁNCHEZ-GIJÓN, JULIETA SERRANO, ROSSY DE PALMA U. A.

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Als ich zum ersten Mal den Trailer sah, war mir nach nur wenigen Szenen klar, wer hier wieder seinen neuen Film bewirbt: Niemand geringerer als Spaniens Kino-Aushängeschild Pedro Almodóvar – oder eben nur Almodóvar, wie sich in den Opening Credits lesen lässt, die von Alberto Iglesias‘ strengem, spanisch kolorierten Streicher-Score unterlegt sind. Interieur, Mode und Objekte, darunter Keramiken, mit Obst beladen: all die wohlkomponierten Innenraumtableaus teilen sich ein eng gefasstes Farbspektrum, bewusst komplementär. Eine neokubistische Verliebtheit, die der Spanier hier wählt, und vor all dem zweifelnd, leidend und in einer inszenatorischen Geborgenheit ruhend: Penélope Cruz, Haus- und Hofschauspielerin, wenn es gilt, wieder mal Almodóvars familiäre Geheimnisse zu lüften oder zu verarbeiten. In Parallele Mütter begnügt sich der Meister längt nicht nur damit, den geschlossenen Kreis geordneter familiärer Bahnen zu durchbrechen. Diesmal sind auch der Ort und die Zeit etwas, die in den Auseinandersetzungen mit der Wahrheit berücksichtigt werden müssen.

Die Wahrheit – worauf bezieht sie sich diesmal? Auf die dunkle und oft verdrängte Geschichte Spaniens, auf die Wirren unter Diktator Franco und dem Verschwinden unzähliger vermeintlich Oppositioneller, die dem Machtapparat – wie ich auch überall sonst (siehe Russland) – unangenehm aufgefallen waren. Der Großvater von Janis (eben Penélope Cruz) war jedenfalls einer, der das Unglück hatte, exekutiert und in einem Massengrab verscharrt worden zu sein. Dieses scheint im Spanien der Gegenwart endlich gefunden, und darum bittet Janis einen Anthropologen, die Sache ins Rollen zu bringen, damit die Familie ihre Toten ordentlich bestatten kann. Mit diesem Anthropologen landet Janis aber bald im Bett – und siehe da, neun Monate später kreischt das Neugeborene durch die Geburtenstation. Zu selben Zeit und am selben Ort liegt aber noch eine andere in den Wehen – ein Teenie namens Ana, der gar nicht weiß wer der Vater ist. Janis hingegen schon, doch der, den es angeht, bezweifelt das. Vielleicht, weil das Baby so gar nicht danach aussieht, als wäre es das eigene Fleisch und Blut.

Da sind sie wieder, die Geheimnisse und möglichen verborgenen Wahrheiten, welche Penélope Cruz und die einnehmende Newcomerin Milena Smit erst ergründen müssen – genauso wie die Geschichte des eigenen Landes, die laut Almodóvar gerne unter den Teppich gekehrt wird. In Parallele Mütter versucht dieser, mit einem eigentlich recht routinierten, für ihn absolut typischen Konzept so etwas wie ein Gleichnis zu erzeugen, das die nachhaltig historische Komponente des Filmes in seiner Grundkonstellation aufgreifen soll. Der Brückenschlag zu zwei sehr unterschiedlichen Filmteilen müsste so gesehen gelingen – tut es aber nur bedingt. Der Spagat ist recht bemüht, die „parallelen“ Emotionen, die sowohl das Kindesmysterium als auch das Graben in die Vergangenheit auslösen sollen, lassen sich zwar erkennen, versickern aber immer wieder in einem durchaus eloquenten Schauspielkino, kurz nachdem sie sich offenbart haben.

Das soll nicht heißen, der Filmemacher hätte sein Handwerk verlernt – das Drama ist auf Zug inszeniert und keinesfalls langatmig. Mitunter hat man gar das Gefühl, einer Dauerwerbesendung beizuwohnen, da Almodóvar durch das Einblenden von Baby-, Auto- und Kameramarken scheinbar sein ganzes Projekt finanziert hat. Zwischen all dem wenig dezenten Product Placement gibt Milena Smit, sofern man sich auf sie konzentrieren kann, einer solide aufspielenden Cruz nicht wirklich eine Chance, den darstellerischen Schwerpunkt zu verteidigen. Beide zusammen aber harmonisieren – was sich für den Film als Ganzes nur zögerlich unterschreiben lässt.

Parallele Mütter

Rot

EIN KNUDDEL IM ZWINGER

7,5/10


rot© 2021 Disney/Pixar. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: DOMEE SHI

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): ROSALIE CHIANG, SANDRA OH, AVA MORSE, HYEIN PARK, MAITREYI RAMAKRISHNAN, ORION LEE, WAI CHING HO U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Ein Kind soll Kind sein dürfen. In der elterlichen Obhut gibt’s anfangs sowieso wenig ernsthaften Spielraum, um aus der Rolle zu fallen. Der Anbruch des Teenageralters ändert dann aber so einiges. Die Obhut wird lästig, die Erziehungsnormen zum Gähnen – das Entdecken der eigenen Skills, der eigenen Gefühle und der eigenen Vorlieben lässt Erziehungsberechtigte lieber in der Ecke stehen – ein zugewiesenes Plätzchen, das selbige im Grunde wahrnehmen sollten, aus Liebe zum Nachwuchs. Rat und Beistand on demand gibt’s dafür rund um die Uhr. In so manchen Kinderstuben ist so ein Ansatz nicht mal Grund zur Diskussion, wenn Traditionen und Dogmen die Freiheit rauben, ob religiös motiviert oder einfach nur vererbtes Zeremoniell. Disney hat beim Thema Coming of Age – wie das Subgenre rund um heranreifende Teenies in Kultur und Medien genannt wird – momentan einen Narren gefressen. Erst zu Weihnachten sind der mit nonkonformistischen Verhaltensweisen gesegneten Mirabel aus Encanto die vererbten Wunderkräfte alles andere als in den Schoß gelegt worden. Ihre Rolle in der Welt hat sich die Gute erst erarbeiten müssen – singend und tanzend und die klappernde Villa Madrigal erforschend. Vor den Wurzeln aller Probleme – der Erziehung – macht Disney keinen großen Bogen mehr. Konflikte in der Familie gehören ausgetragen. Es ziemt sich nicht mehr, den Psychoschmarrn der Eltern mitzutragen. Neudefinition ist die Devise, ohne hilfesuchend zurückzublicken.

In einer ähnlichen Dysfunktionalität, die nach außen hin perfekten Frohsinn versprüht, bohrt auch der neue Pixar-Streifen Rot herum. Wie in Encanto fungiert auch hier, im Toronto des 21. Jahrhunderts, ein aus der Zeit gefallenes Matriarchat als Hemmschuh für einen befreiten, selbstbestimmten Lebensentwurf. Disney folgt dabei einem streng erdachten und trendeigenen Vokabular aus Minderheiten- und Frauen-Quote, das durch seine Dominanz alles Männliche zur kleinlauten Randfigur schrumpft. Mal sehen, wie lange noch diese Schräglage mit politischer Korrektheit begründet werden kann, doch momentan will der Mauskonzern mehr als nur alles richtig machen.

In diesem Fall ist Mei Lee ein Mädchen mit asiatischem Migrationshintergrund, gut in Mathe und offen für alles, was momentan im Trend liegt. Diese Leidenschaft für K-Pop (BTS lassen grüßen) und Social Media teilt die aufgeweckte Achtklässlerin mit ihren drei Freundinnen, die alles versuchen, um Karten für das anstehende Boyband-Konzert zu ergattern. Wenn der charakterlich liebevoll ausgearbeiteten Mädchenclique im Manga-Stil die kugelrunden Äugleins vor Begeisterung verschwimmen, wird bei Disney das Gefühl für Zeitgeist großgeschrieben. Währenddessen aber ist unser dreizehnjähriger Star des Films ein emotionales Hormonbündel schlechthin, reift langsam zur Frau und entfesselt ob ihres Gefühlschaos einen riesengroßen, knuddeligen roten Panda, der allerdings sie selbst ist. Ein Fluch? Ein Segen? Was soll dieses Wunder der Gestaltwandlung, für welches sich Mei Lee zunehmend schämt und wovon auch bald Helikoptermama Ming Lee Wind bekommt? Was gar nicht gut ist, denn dieser Bär, der überall für Aufsehen sorgt, ist ein jahrhundertealtes Geheimnis, das unterdrückt werden muss.

Das geht in aufgeklärten Zeiten wie diesen eigentlich überhaupt nicht. Für diese Freiheit, flügge zu werden, bricht Pixar gleich mehrere Lanzen und sucht den Konflikt der Generationen ohne Scheu davor, eingerostete Mutterrollen aus der Reserve zu locken. Das gelingt besser als in Encanto, ist dynamisch, launig und melodramatisch. Und überraschend kausal. Statt gemeinsam als Übermutter und Tochter bei der psychosozialen Familienberatung aufzuschlagen, tut’s die Sache mit dem Problembären, der als liebevoll ausgestaltete Symbolik (jeder mag Pandabären, die schwarzen so wie die roten) Dominanz und juvenile Auflehnung an einen Tisch bringt. Pixar gibt sich dabei trotz so einigem märchenhaften Disney-Zauber nicht mit plotbedingten Floskeln zufrieden, sondern führt den Konflikt recht spielerisch und unbelastend zu einem familiären Wendepunkt, der einen Neuanfang verspricht.

Rot

Mother/Android

BLINDE KUH MIT ROBOTERN

4/10


motherandroid© 2021 Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: MATTSON TOMLIN

CAST: CHLOË GRACE MORETZ, ALGEE SMITH, RAÚL CASTILLO, TAMARA HICKEY, OWEN BURKE U. A.

LÄNGE: 1 STD 51 MIN


Deswegen, genau deswegen, ist Kyle Reese in Terminator via Zeitreise in das Amerika der 80er Jahre zurückgekehrt: um zu verhindern, was später passieren wird. Aus Liebe zu Sarah Connor ging dann besagter John hervor, der dann die Menschheit gegen die Maschinen anführen wird. Zumindest in der Timeline, die sich gegen James Cameron stellt. Diese Rebellion spezieller Technik findet auch in dem auf Netflix erschienenen dystopischen Science-Fiction-Film Mother/Android seine Anhänger – und zwar sind das eins zu eins dem menschlichen Erscheinungsbild nachempfundene Androiden, die zur Dienerschaft konstruiert worden sind. Was muss so eine Einheit wert sein? Und in welcher Welt lebt Chloë Grace Moretz als schwangere Georgia, in der Reichtum anscheinend die Geißel des Planeten ist, weil es anscheinend keine ärmere Mittelschicht mehr gibt, die sich stromgetriebene Aushilfen wie diese gar nicht leisten kann?

Damit die Welt unter der Bedrohung einer wild gewordenen KI erst so richtig leidet, müssten ungemein viele dieser Roboter im Umlauf gewesen sein. Diese, so wird erwähnt, sind alles andere als wohlfeil, also man muss schon einiges springen lassen, um sich sowas leisten zu können. In dieser Zukunft dürfte ein jeder immens viel Mammon besitzen. Was aber wiederum dazu führt, dass diese Welt, in der Georgia lebt, unter einer gewaltigen Inflation hätte leiden müssen. Irgendwas stimmt hier nicht. Irgendwie passt die Ausgangssituation dieses Films hinten und vorne nicht zusammen. Anders bei Terminator: hier ist ein gewaltiges Computersystem am Werk, das die globale Elektromechanik als Skynet unter seiner Fuchtel hat. In Mother/Android sind es im Grunde wildgewordene Einheiten, die durch den Wald pirschen wie Zombies mit Augen, die in bestimmten Winkeln des einstrahlenden Lichts blau erstrahlen. Das tun sie aber nicht immer. Selbst in der Animationskomödie Die Mitchells gegen die Maschinen, wo es natürlich komödiantischer und familientauglicher einhergeht, ist die narrative Basis der folgenden Abenteuer um einiges plausibler.

Über den Inhalt zu Mother/Android muss man gar nicht viel schreiben – es ist ein „Rennet, rettet, flüchtet“. Mittendrin Moretz im neunten Monat, und man glaub ihr auch gerne, dass sie so ihre physischen Handicaps hat. Als Georgia ist sie gemeinsam mit ihrem Freund und Vater des Kindes Richtung Boston unterwegs, wo es ein Refugium für Familien geben soll, gut geschützt vor der wütenden Techno-Meute. Der Weg dorthin ist mit gängigen Endzeit-Takes gepflastert, und im letzten Drittel schlägt der Krieg zwischen Mensch und Maschine so gewaltige Logiklöcher in die Landschaft, dass das anfängliche Problem, eine nachvollziehbare Grunddystopie zu setzen, geradezu marginal erscheint. Regisseur Mattson Tomlin (Project Power) dürfte um jeden Preis dorthin gelangen wollen, wo er am Ende sein will – bei einem an Children of Men erinnernden, pathetischen Finale, das von Moretz aber dank ihres emotionalen Spiels als der beste Moment des ganzen Films gerettet werden kann.

Mother/Android

Frau im Dunkeln

BEKENNTNISSE EINER RABENMUTTER

8/10


frauimdunkeln© 2021 Netflix


LAND / JAHR: GRIECHENLAND, USA, GROSSBRITANNIEN, ISRAEL 2020

BUCH / REGIE: MAGGIE GYLLENHAAL, NACH EINEM ROMAN VON ELENA FERRANTE

CAST: OLIVIA COLMAN, JESSIE BUCKLEY, DAKOTA JOHNSON, ED HARRIS, PETER SARSGAARD, PAUL MESCAL, ALBA ROHRWACHER, DAGMARA DOMIŃCZYK U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Am letzten Tag des alten Jahres hat Netflix für sein interessiertes Filmpublikum noch einen besonderen Leckerbissen aus dem Ärmel geschüttelt – das Spielfilmdebüt von Maggie Gyllenhaal, von welcher man ohnehin schon längere Zeit nichts mehr gehört hat, die sich aber mit der Verfilmung von Elena Ferrantes Roman The Lost Daughter umso wirkungsvoller zurückmeldet. Und beileibe ist der Stoff der italienischen Romanautorin keine gemähte Wiese. Nichts, was man so mir nichts dir nichts in Bilder packen und dazu noch ein ausgewogenes Skript verfassen kann. Frau im Dunkeln – so der deutsche Titel – lässt Oscarpreisträgerin Olivia Colman als Professorin während des Sommers Urlaub machen. Wie denn, das ist alles? Fast. Zumindest handlungstechnisch. Das meiste ist Selbstreflexion und Erinnerung, dazwischen die Konfrontation mit Menschen, die auf gewisse Weise begangene Fehler von Colmans Filmfigur aus der Verdrängung zurückführen. Das ist Urlaub, der nicht spur- und ereignislos vorübergeht. Das sind Ferien mit der längst überfälligen seelischen Reinigung.

Und so bezieht Leda Caruso ein großräumiges Appartement auf der griechischen Insel Spetses, und zwar ganz allein. Hausdiener Lyle (Ed Harris) sorgt manchmal für Abwechslung, auch dem Ferialjobber Will gefällt Ledas Gesellschaft. Weniger offenherzig ist allerdings die New Yorker Großfamilie rund um Jungmutter Nina (Dakota Johnson), die sich mit ihrer kleinen Tochter herumschlagen muss und die bereits unter Depressionen leidet, weil sie es dem Mädel einfach nicht recht machen kann. Da passiert es und das Kind verschwindet – Leda beteiligt sich an der Suche und findet sie. Doch damit nicht genug: dessen Lieblingspuppe verschwindet ebenfalls. Die hat sich Leda absichtlich unter den Nagel gerissen. Doch warum nur?

Warum nur? Das ist die große Frage in diesem Film. Und vor allem eine, die Leda selbst nicht beantworten kann. So sind nun mal Gefühlswelten, sie ordnen sich keinem rationalen Muster unter, sie generieren sich aus triggernden Momenten und Assoziationen, aus seltsamen Déjà-vus, die wie gerufen kommen und die Sache mit dem Zufall bemühen. In so einem Nebel aus Vergangenem und Gegenwärtigen lässt Colman als einsame Egoistin ihre Existenz als Mutter zweier Kinder Revue passieren – die Zeitebene wechselt, wir befinden uns rund zwei Jahrzehnte in der Vergangenheit, und Jessie Buckleys junge Leda könnte aufgrund ihres sprachlichen Talents und ihrer literarischen Abhandlungen alles erreichen. Einzig die Kinder nerven, später auch der eigene Ehemann, und so kehrt sie ihrer Familie den Rücken. Eine Rabenmutter, sagt sie selber von sich. Doch die Erkenntnis lässt auf sich warten, im Urlaub ist schließlich genug Zeit dafür, auch wenn sonst nichts zu tun ist.

Wer hätte gedacht, dass es Maggie Gyllenhaal dermaßen gelingt, so einem durchaus abstrakten und auch verschachtelten Stoff das richtige Tempo aufzuerlegen und ein ebensolches Team zusammenzustellen. Dazu gehört auch Kamerafrau Hélène Louvart, die aus dem dichten Stück Schauspielkino ein visuelles Erlebnis kreiert. Extreme Nahaufnahmen wechseln mit in sich ruhenden Arrangements aus Personen – diese Virtuosität erinnert nicht zufällig an den Film Glücklich wie Lazzarro. Dort bewies sich Louvart als Kreatorin einer mediterranen, impressionistischen Stimmung. Coleman und auch Dakota Johnson spiegeln diese mit Bravour. Nicht zu vergessen Jessie Buckley, die als junge Leda Caruso die Last des Mutterseins nicht mit ihrem Drang zur Selbstverwirklichung vereinbaren kann.

Frau im Dunkeln ist ein starker und hypnotisierender Film ohne Leerlauf und mit Bedacht gewählten Worten, die den Brocken an Drama nicht schwerer machen als er ist. Gyllenhaal schafft das Zusammenspiel gewissenhaft agierender Schauspielerinnen, die niemals, wie es scheint, unter den Druck einer egozentrischen Regie geraten, sondern den jeweils eigenen Subtext wirken lassen können. Was dabei rauskommt, ist packend – und auf unerwartete Weise schwerelos.

Frau im Dunkeln

Die Königin des Nordens

GAME OF THRONES IN ECHT

8,5/10

 

koenigindesnordens© 2021 Zuzana Panská / SF Studios

 

LAND / JAHR: NORWEGEN, SCHWEDEN, DÄNEMARK, ISLAND, TSCHECHIEN 2021

REGIE: CHARLOTTE SIELING

CAST: TRINE DYRHOLM, MORTEN HEE ANDERSEN, SØREN MALLING, JAKOB OFTEBRO, BJORN FLOBERG, THOMAS W. GABRIELSSON, AGNES WESTERLUND RASE U. A. 

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Nein, bei dieser Königin des Nordens handelt es sich nicht um Sansa Stark – Kenner und Freunde der High-Fantasy-Reihe von George R. R. Martin wissen, wen ich damit meine. Doch man braucht längst keine entrückten Welten mehr, will man ähnliche Charaktere in der europäischen Geschichte finden. Natürlich sind historische Persönlichkeiten, noch dazu aus dem dunklen Mittelalters, nur fragmentarisch umschrieben. Also werden die Lücken gefüllt – wie bei der Restauration eines altertümlichen Artefakts, mit der Billigung künstlerischer Freiheit.

Statt Sansa Stark behauptet sich also Margarethe I. über große Teile Skandinaviens – es ist dies die Kalmarer Union, bestehend aus Dänemark, Schweden und Norwegen. Jemals was von Margarethe I. gehört? Ich jedenfalls nicht, und umso dringender schien es mir, mein Allgemeinwissen in Sachen europäischer und dezentraler Geschichte aufzufüllen. Es ist zwar ungefähr klar, was zu dieser Zeit rund um Deutschland und Österreich alles passiert ist – der Norden hingegen stand zumindest bei vielen Gelegenheiten nicht am Programm. Die charismatische Erscheinung der Königin – einnehmend, differenziert und in ihrem Verhalten vollkommen nachvollziehbar dargestellt von Trine Dyrholm – hinterlässt also beim nordischen Adel einen gehörigen Eindruck. Und selbst die Briten denken darüber nach, einer Heirat mit Thronfolgerin Philippa und Margarethes Adoptivsohn Erik zuzustimmen. Als das Bündnis zwischen Briten und der Kalmarer Union kurz davor steht, besiegelt zu werden, taucht plötzlich ein Mann auf, der steif und fest behauptet, Margarethes tatsächlicher Sohn Olav zu sein. Dieses scheinbar inszenierte Schicksal wird die gesamte nordische Politik durcheinanderbringen, während der deutsche Orden bereits die Zähne fletscht.

Ridley Scott hat mit seinem ungewöhnlichen Mittelalterdrama The Last Duel schon alles richtig gemacht. Die Dänin Charlotte Sieling kann das sogar noch besser: Ihr historischer Politthriller könnte bereits jetzt schon eines der filmischen Highlights dieses Jahres sein und sich einen Platz in meinen Bestenlisten gesichert haben. In seiner Düsternis, seiner Intensität und in der Entwicklung der Charaktere, für die es normalerweise ganze Serienstaffeln braucht, Sieling dies aber innerhalb von zwei Stunden lückenlos hinbekommt, ist Die Königin des Nordens eines der besten historischen Dramen der letzten Jahre. Warum? Es gibt zuerst mal einen dicken, roten Faden – das ist die Charakterstudie der Margarethe, die zwischen Familiensinn und dem Wohl der Union so sehr zerrissen scheint, dass sie gar im stürmischen Regen gegen die tosenden Wellen anbrüllen muss. Es ist der etwas dünnere, aber sich ebenfalls durchziehende zweite rote Faden über König Erik – auch er kein Böser und kein Guter, eine gekränkte, aber ehrliche Persönlichkeit. Morten Hee Anderson bietet ganze Breitseiten an inneren und äußeren Konflikten. Um die beiden herum das Geflecht aus Intrigen und Feindseligkeiten, das Zerreißen politischer Lager und unvorstellbarste Konsequenzen, die eine Mutter nur ziehen kann. Unterlegt mit einem wohldosierten dramatischen Score gerät der Norden Europas zu einem unwirtlichen zweiten Westeros, zu einer shakespear’schen Bühne, auf deren Boden Opfer gebracht werden müssen, ohne die Politik anscheinend niemals funktionieren kann.

Die Königin des Nordens